Dramatischer Anstieg der HIV-Infektionen in Osteuropa

Die rapide Ausbreitung des HI-Virus in Osteuropa führt das Ausmaß der sozialen Zerstörung vor Augen, das mit der Wiedereinführung kapitalistischer Verhältnisse in der ehemaligen Sowjetunion und Osteuropa durchgeführt wurde.

In den Ländern Osteuropas und Zentralasiens breitet sich mit rasantem Tempo eine HIV-Epidemie vor allem unter Kindern und Jugendlichen aus. Davor warnte das Kinderhilfswerk Unicef in einem Bericht, der Mitte Juli bei der Welt-AIDS-Konferenz in der österreichischen Hauptstadt Wien vorgelegt wurde. Nirgendwo auf der Welt steige die Rate der HIV-Infektionen derart rasch wie in dieser Region.

Die UN schätzt die Zahl der HIV-Infizierten dort auf insgesamt 1,5 Millionen. 2001 waren es noch 900 000. Alleine in Russland stieg die Anzahl der Infektionen von 2006 bis heute in einigen Gebieten um 700 Prozent. Zusammen mit der Ukraine leben in Russland über 90 Prozent aller infizierten Menschen in dieser Region.

Besonders betroffen sind Kinder und Jugendliche. Hier besonders jener stetig wachsende Teil, der in bitterer Armut lebt: Heimkinder, Drogenabhängige, Straßenkinder oder minderjährige Prostituierte. Insgesamt ein Drittel der Neuinfektionen entfallen inzwischen in der gesamten Region auf Jugendliche und junge Erwachsene. 80 Prozent der Infizierten sind jünger als 30 Jahre.

Rund 1,3 Millionen Kinder in der Region wachsen in Heimen auf, in denen katastrophale Verhältnisse herrschen. Meist landen diese Kinder nach kurzer Zeit auf der Straße.

Eine aktuelle Untersuchung im russischen St. Petersburg unter 300 Straßenkindern ergab, dass 40 Prozent HIV-positiv waren. Ähnlich hohe Raten fand man in Odessa und Donetsk in der Ukraine. Eine von Unicef durchgeführte Befragung in der Ukraine unter 800 Kindern und Jugendlichen, die die Hälfte des Tages auf der Straße verbrachten, zeigte, dass 57 Prozent der Mädchen sich zumindest gelegentlich prostituierten.

Ein weiteres Anzeichen des gesellschaftlichen Verfalls ist der steigende Drogenkonsum. Der häufigste HIV-Übertragungsweg sind kontaminierte Spritzbestecke. Viele Straßenkinder nehmen bereits im Alter von zwölf bis 16 Jahren harte Drogen.

In Wien wurde das Hauptaugenmerk auf die Tabuisierung von HIV und AIDS gelegt und kritisiert. Dies trifft natürlich zu. So meldete beispielsweise Turkmenistan 2008 offiziell nur zwei Fälle von HIV-Infektionen – obwohl die Epidemie das Land längst erfasst hat.

Aber die wahre Ursache für die ungeheure Verbreitung liegt in den veränderten sozialen und politischen Bedingungen dieser Länder. Die Ausbreitung des Virus hängt direkt mit der Vernichtung der Gesundheitssysteme und der sozialen Infrastruktur zusammen, die im Namen des freien Marktes Anfang der Neunziger Jahre Einzug hielt.

„Die Ausbreitung von HIV hat Mitte der 1990er Jahre in der Ukraine und Weißrussland begonnen“, berichtete der Virologe, Aids-Forscher und Leiter des Berliner Robert-Koch-Instituts, Reinhard Kurth, über die Situation in Osteuropa. Sie dehnte sich dann rasch weiter nach Norden und Osten aus. Mittlerweile sind gerade auch die zentralasiatischen und Kaukasusrepubliken von der Epidemie betroffen.

Ein Mitarbeiter im Auswärtigen Amt, der als Regionalarzt in Moskau fungiert, stellt einen direkten Zusammenhang zwischen der Ausbreitung des Virus und der sozialen Krise im Osten her. In einer Stellungnahme schreibt Dr. Wolfgang Luster: „Bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion galten die Staaten in Osteuropa und die Sowjetunion bezüglich HIV als Niedrigendemiegebiet. Es schien, als würde die weltweite HIV/AIDS-Epidemie diese geographische Region verschonen.“

Seitdem habe sich die Situation grundlegend verändert. Luster schreibt: „Mit dem Zerfall der Sowjetunion fand eine tiefgreifende Umwälzung der Strukturen in den Staaten Osteuropas und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion statt. Bei aller Heterogenität der Regionen sind viele Gemeinsamkeiten in allen betroffenen Ländern zu beobachten.

In vielen Ländern ist es zu dramatischen Umwälzungen im öffentlichen Gesundheitssystem gekommen. Häufig werden die Mitarbeiter unzureichend oder gar nicht bezahlt. Investitionen und Erhaltungsmaßnahmen sind häufig unzureichend oder finden gar nicht statt. Privatisierungsmaßnahmen im Gesundheitswesen haben häufig zu einer Zwei-Klassen-Medizin geführt, bei der Teile der Bevölkerung nicht mehr ausreichend versorgt werden.“

Hunderte von Kliniken und anderen Gesundheitseinrichtungen wurden seit der politischen Wende 1989/90 geschlossen oder verfielen mangels staatlicher Förderung. Dieser Prozess setzt sich nun, angesichts der weltweiten Wirtschaftskrise, in hohem Tempo fort. In Lettland beispielsweise wird es Ende dieses Jahres im Vergleich zu 2009 nur mehr ein Drittel an Kliniken geben.

Dieser soziale Niedergang hat in allen Staaten Osteuropas mittlerweile zu einer im Durchschnitt über sieben Jahren kürzeren Lebenserwartung geführt als vor 1989.

Gesundheitsprogramme und dringend benötigte Aufklärungskampagnen existieren nicht oder fallen dem Rotstift zum Opfer. So kommt der Bericht auch zu dem Schluss, dass "die Gesundheitssysteme in den 27 Ländern der Region im Kampf gegen HIV weitgehend versagt" haben und fordert einen Wechsel in der Gesundheits- und Sozialpolitik im Kampf gegen Aids in der Region.

Doch Appelle an die Regierungen, wie sie schon von verschiedenen Organisationen vorgetragen wurden, werden nicht gehört. Die Regierungen der Region, die nicht selten ein vollkommen undemokratisches und autoritäres Regime führen, setzen in Absprache und Zusammenarbeit mit dem IWF und den EU-Behörden einen gezielten Abbau der Sozialstandards durch, um Investoren anzuziehen.

Wohl wissend, dass die Pandemie nur durch globalen Zugang zu Medikamenten, verbesserte Gesundheitsversorgung und Aufklärungskampagnen gestoppt werden kann, senken auch westliche Regierungen die Ausgaben für den Kampf gegen HIV/AIDS.

Während die Kosten für die Behandlung steigen, sinken die Gelder, die zur Verfügung gestellt werden. Nach Angaben der UN betrugen die Fördergelder der G-8-Staaten zur Erforschung von HIV 2009 mit 7,6 Milliarden Dollar, weniger als 2008 (7,7 Milliarden Dollar). Das Gastgeberland der Konferenz, Österreich, beispielsweise hat seine Beiträge zu Hilfsprogrammen im Bereich HIV/AIDS mit der Begründung zu hoher Staatsausgaben eingestellt.

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