Fotoband des Monats

Roter Stern über Russland

Mit freundlicher Genehmigung Adelbert Reifs veröffentlichen wir hier eine Besprechung des Fotobands des Monats „Roter Stern über Russland“, die zuerst in der August-Ausgabe der Zeitschrift „Universitas“ erschienen ist.

Eine visuelle Geschichte der Sowjetunion von 1917 bis zum Tode Stalins

Von David King

Mehring Verlag 2010, 352 Seiten, über 550 Farb- und s/w-Abbildungen, 39,90 Euro

So reißerisch es auch klingen mag: „Roter Stern über Russland“ von David King ist wahrhaft ein Bildband der Superlative! Nirgendwo sonst hat die dreieinhalb Jahrzehnte währende Geschichte der Sowjetunion von ihren Anfängen bis zum Tode Stalins einen auch nur annähernd so dramatischen visuellen Niederschlag gefunden wie in diesem Buch. Zwar erschienen seit dem Ende der Sowjetunion vor zwanzig Jahren und der wenn auch beschränkten Öffnung einer Reihe früherer sowjetischer Archive für westliche Forscher bereits mehrere Bildbände über die Entwicklung der Sowjetunion – erinnert sei hier nur an den von Peter Radetsky herausgegebenen Band „Russland und die Sowjetunion“ (2007). der ein Jahrhundert russisch-sowjetische Geschichte vornehmlich anhand von Fotografien der Nachrichtenagentur TASS darstellt –, doch reicht keine dieser oft sehr aufwändig gestalteten Publikationen an die thematische Breite und die außergewöhnliche Vielfalt des von David King gebotenen historischen Materials heran. Der Grund liegt in der Persönlichkeit des Autors. King, Verfasser von „The Commissar Vanishes. The Falsification of Photographs and Art in Stalins Russia“ (deutsch 1997: „Stalins Retuschen“), „The Victims of Stalin“ (2003) sowie zahlreicher weiterer Bücher über die Sowjetunion, war von 1965 bis 1975 Leiter des Kunstressorts der Londoner „Sunday Times“. Seine private Sammlung russischer revolutionärer Kunst gilt mit 250.000 Objekten – hauptsächlich Plakate, Zeitungen, Flugschriften und Fotografien – als eine der umfangreichsten und bedeutendsten der Welt. Weit über 500 Bilder werden in dem vorliegenden Band in höchster Qualität wiedergegeben, begleitet von knappen, jedoch in ihrer Aussagekraft ungemein einprägsamen historisch-politischen Kommentaren Kings. Viele von ihnen sind hier zum ersten Mal zu sehen und kein herkömmliches Geschichtsbuch wäre in der Lage, die erschütternden Begebenheiten der Jahre 1917 bis 1953 so unmittelbar und unverstellt in den Blick zu rücken, wie dies King dank seiner chronologischen Bildsprache gelingt. Und noch ein weiterer positiver Aspekt kommt hinzu: Mit der Präsentation ihrer Arbeiten entreißt King zahlreiche sowjetische Designer, Künstler und Fotografen des 20. Jahrhunderts, die unter der Herrschaft Stalins ermordet wurden oder im Gulag umkamen, der Vergessenheit.

Natürlich ist er sich durchaus bewusst, dass die Beschäftigung mit seinem aufwühlenden Buch kein „Bildungsvergnügen“ im herkömmlichen Sinne des Wortes verheißt. „Der Leser sei gewarnt“, schreibt er in seiner Einführung: „Es wird ihm keine leichte Kost serviert. Während der vier hier behandelten Jahrzehnte litten Dutzende Millionen Russen unter den Folgen von drei Kriegen, zwei Hungersnöten und unter einem totalitären Diktator. Nach Lenins Tod gelangte Stalin zu solcher Machtfülle, dass er das Leben eines gewöhnlichen Bürgers, und besonders das eines hochrangigen Kommunisten, nach Belieben in einen Albtraum von Verhaftung, Verhör und Folter verwandeln konnte – mit anschließenden harten Jahren im Gulag oder dem Gang vors Hinrichtungskommando.“ Exakt das ist die Situation, die King den Lesern vergegenwärtigen möchte.

Wenn man so will, wird der Band fotografisch konventionell eröffnet: Auf einem um 1900 entstandenen Bild ziehen die sogenannten „Lastschiffer“, auch „Wolgaschlepper“ genannt, zerlumpte Gestalten, am Ufer der Wolga entlang schreitend, an langen, dicken Stricken die Schiffe auf dem Fluss, während das unmittelbar darauf folgende zweite Foto Zar Nikolaus II. und die Zarin Alexandra Feodorowna mit ihren ältesten Töchtern Olga und Tatjana 1909 bei einer vergnüglichen Bootsfahrt zeigt. Der soziale Kontrast, hart ins Auge springend, weist bereits auf das hin, was in Russland, dem damals autoritär erstarrtesten Land in Europa, kommen musste: die Revolution, ein Umsturz ungeheuren Ausmaßes, der die Welt erschüttern sollte. Hier, mit den beiden Revolutionen vom Februar und Oktober 1917, nimmt King den Faden seiner „visuellen“ Darstellung der nun folgenden Jahrzehnte der sowjetischen Geschichte in vollem Umfang auf.

Es sind nicht allein die fotografischen Dokumente aus den Tagen der Revolution, die durch ihre Unmittelbarkeit ungemein stark beeindrucken, sondern auch die künstlerischen Zeugnisse in Form von Titelblättern verschiedener Zeitschriften, Buchumschlägen wie etwa zu John Reeds Weltbestseller „10 Tage, die die Welt erschütterten“, von Zeichnungen und Plakaten, auf denen die revolutionären Umbrüche ihren Niederschlag fanden und deren künstlerische Gestaltung selbst revolutionären, avantgardistischen Charakter trug. Darüber hinaus spielte die Anfertigung fotografischer Porträts ihrer Führer für die siegreichen Bolschewiki eine wichtige Rolle. So schuf der namhafte Porträtfotograf Mosei Nappelbaum in ihrem Auftrag 1918 unter anderem eines der berühmtesten Lenin-Porträts an, das eine Millionenauflage erlebte. (Ein anderes, im März 1919 im Kreml angefertigtes suggestives Fotoporträt Lenins stammt von Viktor Bullas.) Über seine Lenin-Porträts hinaus erarbeitete Nappelbaum im November 1918 eine Fotomontage „Führer der proletarischen Revolution“: Sie zeigt Lenin, Sinowjew, Lunatscharski, Trotzki, Kamenew und Swerdlow, 1919 dann ein besonders eindrucksvolles Fotoporträt von Trotzki, dem Gründer und Führer der Roten Armee im Bürgerkrieg, als er sich auf dem Höhepunkt seiner Macht befand. Überhaupt stellt King eine Anzahl historisch überaus interessanter Trotzki-Aufnahmen aus verschiedenen Phasen seines politischen Wirkens vor sowie ein ungefähr Ende 1920 entstandenes seltenes kubo-futuristisches Trotzki-Porträt eines unbekannten Künstlers. Ab den späten 1920er-Jahren – Lenin war 1924 gestorben und Trotzki von der Kamarilla um Stalin Schritt für Schritt entmachtet worden – war der Besitz von allem, was mit Trotzki oder den sogenannten „Volksfeinden“ zu tun hatte, gleichbedeutend mit Inhaftierung, Gulag und Tod.

Breiten Raum widmet David King in seinem Werk den kulturellen und pädagogischen Bestrebungen der Sowjetmacht. Dabei spielte die Persönlichkeit von Anatoli Lunatscharski – King zeigt eine Fotografie des imposanten Intellektuellen zusammen mit seiner Frau, dem Stummfilmstar Natalia Rosenel, Mitte der 1920er-Jahre – eine führende Rolle. „Lunatscharski kam aus einem gebildeten, radikal gesinnten Umfeld, und seine großen rhetorischen Fähigkeiten rückten ihn ins Zentrum der Revolution“, erläutert King. Lenin ernannte ihn im November 1917 zum ersten Kommissar für Bildung und Aufklärung. In dieser Position führte Lunatscharski eine rigorose Kampagne gegen das weit verbreitete Analphabetentum. Er reformierte das Bildungswesen, brachte Unterrichtsmethoden auf den neuesten Stand und ermutigte die Massen, an Musik, Schauspiel, Literatur und den visuellen Künsten teilzunehmen. Als er 1929 aus dem Amt schied, konnte jeder im entsprechenden Alter lesen, schreiben und rechnen.

Von Lunatscharski ging auch die Anregung aus, Kunst und Gestaltung auf einer Vielzahl von Gebieten zu kombinieren. Zu den führenden Künstlern, Designern, Architekten und Filmschaffenden der Avantgarde, die an den speziell zu diesem Zweck gegründeten Kunst- und Technik-Werkstätten in Moskau, Wchutemas genannt, in den 1920er-Jahren unterrichteten, gehörten El Lissitzky, Ljubow Popowa, Alexander Rodschenko, Warwara Stepanowa, Wladimir Tatlin und Alexander Wesnin. Doch schon bald wurde die Arbeit dieser bedeutenden experimentellen Künstler und Designer von den Vertretern des sogenannten „Sozialistischen Realismus“ mit zunehmender Feindseligkeit betrachtet und 1930 erfolgte die Schließung Wchutemas. Wie zahlreiche sowjetische Künstler und Schriftsteller der Avantgarde, so musste sich Lunatscharski in Fragen der Kultur oft gegen engstirnige Bolschewiki verteidigen. Er starb 1933 an einem schweren Herzfehler, ein Schicksal, das ihn zweifellos davor bewahrte, in die Maschinerie des kurz danach einsetzenden stalinistischen Terrors zu geraten. Der Dokumentation dieses Terrors widmet David King die emotional ergreifendsten Seiten seines Buches. An ihrem Anfang steht ein unretuschiertes Foto Stalins, betitelt „Der Schlächter“, gefolgt von Aufnahmen Zwangsarbeit leistender Usbeken (1930) und einem Foto, das den Einsatz von Arbeitssklaven bei Temperaturen weit unter null beim Bau des Stalin-Belomor-Kanals zeigt, der eine Verbindung zwischen Ostsee und Weißem Meer schaffen sollte (Anfang der 1930er-Jahre). Zehntausende Arbeiter starben beim Bau dieses von Stalin persönlich in Auftrag gegebenen Kanals, der nach seiner Fertigstellung kaum genutzt wurde. Eine Seite mit Kennziffern versehener Polizeifotos der Kinder von „Verrätern am sozialistischen Mutterland“ aus einem Kinderheim der Geheimpolizei in den 1930er-Jahren dokumentiert ein besonders tragisches Geschehen: Von ihren Lehrern wurden diese Kinder aufgefordert, ihre Eltern zu denunzieren, selbst wenn diese nicht mehr am Leben waren. Um die extreme Widersprüchlichkeit dieser Phase früher sowjetischer Geschichte zu exemplifizieren, hat King immer wieder künstlerisch gestaltete, farbenprächtige Propagandaplakate eingerückt mit Losungen wie „Die UdSSR ist das Zentrum des internationalen Sozialismus“. „Kommunismus heißt Sowjetmacht plus Elektrifizierung“ oder „Lang lebe unser glückliches sozialistisches Land! Lang lebe unser geliebter Führer, der große Stalin!“, die häufig eine Parallelwelt des sowjetischen sozialistischen Surrealismus symbolisieren. Neben den Fotografien vom Elend der Hungerkatastrophe in den 1920er-Jahren und der Verfolgung der Kulaken gehören jene Aufnahmen zu den erschütterndsten Zeugnissen stalinistischer Gewalt, die die Geheimpolizei von den Angeklagten der berüchtigten Moskauer Schauprozesse 1936, 1937 und 1938 machte. Ein Großteil dieser Porträts ist hier erstmals zu sehen. Deutlich zeigen die Gesichter der zu völlig absurden, irrationalen Geständnissen gezwungenen Angeklagten die Spuren erlittener Folterungen, wie etwa das von Gregori Sinowjew, dem Hauptangeklagten im ersten Schauprozess (bekannt als Prozess gegen das trotzkistisch-sinowjewsche terroristische Zentrum“) im August 1936. Aus ihnen sprechen teils Entsetzen, teils Ungläubigkeit, teils aber auch schon Gleichgültigkeit angesichts dieser auf Befehl Stalins inszenierten, für die Betroffenen unverständlich bleibenden Geschehnisse. Stalin erwog noch einen vierten Schauprozess gegen sowjetische Schriftsteller und Künstler. So wurde am 20. Juni 1936 der weltberühmte Theaterregisseur Wsewolod Meyerhold verhaftet, nachdem er sich standhaft geweigert hatte, sich zum „Sozialistischen Realismus“ zu bekennen. Auch das von King präsentierte Polizeifoto Meyerholds weist Spuren schwerer Folter auf, die der Regisseur in einem ebenfalls hier abgedruckten Brief an Molotow sehr genau schildert. Eine Woche nach Meyerholds Verhaftung wurde seine Frau, die Schauspielerin Sinaida Reich, ermordet. Meyerhold selbst wurde erst am 2. Februar 1940 erschossen. Jahrzehntelang lagerten die Fotografien in einem Archiv in Sibirien, das jetzt dem Inlandsgeheimdienst der Russischen Föderation untersteht. „Die gewaltige Bedeutung, die ihnen beigemessen wird, ersieht man daran, dass sie für den Zweck dieses Bildbandes in einem eigens dafür bereitgestellten Zug nach Moskau und zurück gebracht wurden“, schreibt David King. Mit dem Überfall Hitlers auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 begann für das riesige Land eine weitere blutige Etappe in seiner Geschichte. Die von King ausgewählten Fotografien aus dem „Großen Vaterländischen Krieg“ nebst einer Reihe zeitgenössischer Plakate kämpferischen Inhalts dokumentieren ein Schreckensszenario, an dessen Ende der Tod von 18 Millionen Russen – manche Schätzungen gehen sogar von 24 Millionen Toten aus – zu beklagen war. King: „Der Wiederaufbau von Industrie und Landwirtschaft stellte immense Anforderungen. Die sowjetische Infrastruktur lag in Trümmern. Die Nazis hatten über 1700 Städte und 70.000 Dörfer vollständig zerstört sowie 65.000 Kilometer Schienennetz, Krankenhäuser, Schulen, Bibliotheken und Museen, alles musste neu aufgebaut werden.“ Auch nach dem Tod Stalins 1953 sollte es noch mehr als drei Jahrzehnte dauern, bis Russland begann, sich langsam aus seiner ihm aufgezwungenen Unfreiheit zu befreien.

Sicher werden manche Leser das eine oder andere durchaus wichtige Detail in Kings „visueller“ Geschichte der Sowjetunion vermissen: So spart der Autor merkwürdigerweise die kinematografische Seite der sowjetischen Kunst fast vollständig aus. Aber ungeachtet dessen liegt mit dem Band „Roter Stern über Russland“ sowohl von seinem Bild- wie von seinem Textgehalt ein kaum mehr zu überbietendes Panorama eines wesentlichen Abschnitts der russisch-sowjetischen Geschichte im 20. Jahrhundert vor – des „Jahrhunderts der Wölfe' und des „Jahrhunderts der Tränen“, wie es Nadeschda Mandelstam nannte.

Alle Rechte bei Adelbert Reif und der Zeitschrift „Universitas“ aus dem S. Hirzel Verlag, Stuttgart (http://www.hirzel.de/universitas/).

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