Der globale wirtschaftliche Zusammenbruch – eine marxistische Analyse

Der folgende Vortrag wurde am 14. September 2010 von Nick Beams, dem nationalen Sekretär der Socialist Equality Party (Australien) und Mitglied der internationalen Redaktion der World Socialist Web Site, an der University of Western Sydney gehalten. Er sprach auf Einladung der School of Law und der School of Economics and Finance.

 

Etwa einhundert Studenten und Fakultätsmitglieder nahmen an der Veranstaltung teil. Dem Vortrag folgte eine lebendige Diskussion, bei der Beams eine Reihe von Fragen zu verschiedenen Themen beantwortete, von der Natur des Finanzkapitals bis hin zum Charakter der Arbeiterklasse und der Realisierbarkeit des Sozialismus.

1. Am 15. September jährt sich zum zweiten Mal der Zusammenbruch der Wall-Street-Investmentbank Lehmann Brothers. Ihr Untergang setzte eine Kette von Ereignissen in Gang, die in den folgenden drei Wochen zu einer Kernschmelze an der Wall Street führten und das globale Finanzsystem an den Rand des Zusammenbruchs brachten. Der US-Präsident wandte sich im Fernsehen an das amerikanische Volk und erklärte, dass „größere Teile des amerikanischen Finanzsystems nicht mehr funktionieren“ und „eine Finanzpanik in den USA ausbrechen könnte, wenn nicht sofortige Notmaßnahmen ergriffen werden.“ Seit den 1930er Jahren hatte es solche Aussagen nicht gegeben.

Wie sieht es zwei Jahre später aus? Die von Regierungen und Zentralbanken organisierten Rettungsmaßnahmen, mit denen den führenden globalen Finanzinstitutionen Billionen von Dollar zur Verfügung gestellt wurden, haben dafür gesorgt, dass das globale Finanzsystem weiter funktioniert. Aber trotz dieser massiven finanziellen Stützungsaktionen – den größten in der Geschichte des Kapitalismus mit einem Gesamtvolumen, das sich nach einigen Schätzungen auf vierzehn Billionen US-Dollar beläuft und einem Viertel des weltweiten Bruttoinlandsproduktes entspricht, sind die Probleme der darunterliegenden systemischen Krise, die zur Kernschmelze geführt haben, nicht gelöst worden. Die Bereitstellung nie da gewesener Summen an Finanzkapital hat stattdessen neue Widersprüche in der globalen kapitalistischen Wirtschaft geschaffen, wie die europäische Staatsschuldenkrise vom letzten Mai deutlich gezeigt hat.

2. Zwei Jahre nach dem Finanzkollaps ist nicht zu übersehen, dass sich die globale kapitalistische Wirtschaft in ihrer tiefsten Krise seit der Großen Depression der 1930er Jahre befindet. In den Vereinigten Staaten sind fast dreißig Millionen Menschen entweder arbeitslos, unterbeschäftigt oder haben die Suche nach einem Arbeitsplatz aufgegeben. Die Hälfte der Arbeitslosen ist seit mehr als einem halben Jahr ohne Beschäftigung. Das ist die höchste Langzeitarbeitslosenquote seit den 1930er Jahren. In den Medien wird von einer „zweiten Rezessionswelle“ gesprochen. Was die USA angeht, so hat es nicht einmal eine sogenannte „Erholung“ gegeben.

3. Wenn wir uns Europa zuwenden, so ist die Situation dort nicht besser. Den Briten steht eine Welle von Streichungen bei Regierungsausgaben und Jobs bevor, wie es sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht gegeben hat, schlimmer als unter der berüchtigten Thatcher-Regierung in den Achtziger Jahren. In Kontinentaleuropa haben sich dicke Wolken über dem Projekt einer gemeinsamen Währung, dem Euro, zusammengebraut - trotz eines Rettungspaketes von 750 Milliarden Euro, das im Mai organisiert wurde. Niemand glaubt, dass die Krise überstanden ist. Ein Analyst von Morgan Stanley warnte kürzlich, dass Regierungsinsolvenzen infolge der Schulden unausweichlich seien. „Die einzige Frage“, schrieb er in einem Kommentar, „ist nicht, ob sie ihre Versprechen brechen werden, sondern welches Versprechen sie brechen werden und wie das aussehen wird.“ Die Staatsschuldenkrise sei nicht vorüber und sie sei weltumspannend. Grundlage dieser Analyse war, dass der entscheidende Faktor bei der Zahlungsfähigkeit nicht das Verhältnis von Schulden zum Bruttoinlandsprodukt ist, sondern das Verhältnis der Schulden zu den Staatseinnahmen, aus denen die Schulden bedient werden müssen. Die Staatseinnahmen sind stärker zurückgegangen als das Bruttoinlandsprodukt. Gestern schrieb der Europakolumnist der „Financial Times“, Wolfgang Münchau: „Zwei Jahre nach dem Zusammenbruch von Lehmann Brothers ist die Zerbrechlichkeit des europäischen Bankensektors noch immer ein Problem. Ich wette, dass wir in fünf Jahren noch darüber sprechen werden. Das wiederum bedeutet, dass die Finanzkrise immer weitergehen wird, zumindest in der Eurozone.“

4. Wenn wir uns dem Osten zuwenden, dann finden wir in Japan andauernde wirtschaftliche Stagnation, die dazu geführt hat, dass das Land seinen Platz als zweitgrößte Wirtschaft der Welt an China verloren hat. Widerspricht Chinas Aufstieg dem Gesamtbild? Kann sein Wirtschaftswachstum der Weltwirtschaft eine neue Stabilitätsgrundlage verleihen? Absolut nicht, denn schlussendlich hängt die Expansion der chinesischen Wirtschaft vom Wachstum der Weltwirtschaft ab. Wir sollten uns daran erinnern, dass die USA nach dem ersten großen Zusammenbruch der weltweiten kapitalistischen Wirtschaft 1914 in den 1920er Jahren einen massiven Aufschwung erlebten, anschließend aber zusammenbrachen, als sie an die Grenzen der eigenen Expansion stießen, die von der Krise der Weltwirtschaft als Ganzer diktiert wurden. Ende 2008 kam es in China zu einer größeren Krise, die die Regierung durch ein Rettungspaket in Höhe von 500 Milliarden Dollar und eine massiven Ausweitung der Kredite zu überwinden versuchte. Man schätzt, dass die chinesischen Banken allein 2009 Kredite in Höhe der Rekordsumme von 1,4 Billionen Dollar vergaben. Statt zu einer neuen Grundlage für die globale Ökonomie zu werden, dient die chinesische Expansion eher als Fieberthermometer, das die andauernde Krise des globalen kapitalistischen Systems anzeigt.

5. Wie müssen wir diese Prozesse verstehen? Es ist natürlich notwendig, von der Unzahl einzelner wirtschaftlicher Vorkommnisse zu abstrahieren, um die grundlegenden Entwicklungstrends zu begreifen. Aber eine solche Abstraktion darf die objektive Wirklichkeit und die Prozesse, die wir verstehen wollen, nicht vergewaltigen. Aus diesem Grunde sind alle nationalistischen Konzeptionen – so wie jene, die Australien oder irgendein anderes Land wie einen Dampfer darstellen, der das Meer der globalen Wirtschaft durchkreuzt und dabei globale Schocks abzuwettern versucht, als seien sie externe Faktoren – zutiefst unwissenschaftlich. Vor achtzig Jahren erklärte Leo Trotzki die Grundlagen für eine wissenschaftliche Analyse. „Der Marxismus“, so schrieb er, „geht von der Weltwirtschaft nicht als Summe nationaler Teile, sondern als einer mächtigen und unabhängigen Realität aus, die durch die internationale Teilung der Arbeit und den Weltmarkt geschaffen wurde und die in unserer Epoche gebieterisch über die nationalen Märkte herrscht.“ Jede nationale Situation, so erklärte er, könne nur als eine originäre Kombination der grundlegenden Charakterzüge des Weltprozesses verstanden werden. Dies ist die Methode, um deren Anwendung ich mich bemühen werde.

6. Zu Beginn sollte vermerkt werden, dass es nicht nur eine Krise der globalen kapitalistischen Wirtschaft gibt, sondern eine Krise des gesamten ideologischen Rahmens, innerhalb dessen die Bourgeoisie und ihre Vertreter, in diesem Fall die Ökonomen, sie zu erklären versuchen. Der globale wirtschaftliche Zusammenbruch ist die gewaltigste Widerlegung der Ideologien des „freien Marktes“, die in den letzten dreißig Jahren heruntergebetet wurden. Diesen Doktrinen zufolge ist die kapitalistische Form wirtschaftlicher Organisation nicht nur die höchste Errungenschaft der Menschheit, sondern in der Tat die einzig mögliche Form wirtschaftlicher Organisation in Übereinstimmung mit den Gesetzen der Vernunft, oder - für die religiös Orientierten - mit den Ansichten des Allmächtigen selbst.

7. Kurz nach dem Beginn der Krise fragte Königin Elisabeth von England eine Gruppe britischer Ökonomen an der London School of Economics, warum keiner von ihnen die Krise vorausgesehen hätte. Im Sommer 2009 trafen sich die führenden Ökonomen Großbritanniens, um eine Antwort zu formulieren. Nachdem sie sich den Kopf zerbrochen hatten, schloss ihr an de Buckingham Palace übermittelter Brief mit den Worten: „Zusammenfassend, Euer Majestät, resultierte das Versagen, die Krise zeitlich, ihrem Ausmaß und ihrer Schwere nach vorauszusehen und sie dadurch zu verhindern, trotz der Mannigfaltigkeit ihrer Ursachen, hauptsächlich aus der kollektiven Unfähigkeit der Vorstellungskraft vieler kluger Leute, sowohl in diesem Land als auch international, die Risiken des Systems als Ganzes zu durchschauen.“

Dies war ein Offenbarungseid, was den Zustand der bürgerlichen Wirtschaftslehre und ihrer Grundlagen angeht. Systemische Risiken wurden nicht beachtet, weil die bürgerliche Ökonomie grundsätzlich davon ausgeht, dass es innerhalb der kapitalistischen Wirtschaft keine Widersprüche oder Prozesse gibt, die das System selbst in Frage stellen können. Lange bevor Francis Fukuyama nach der Auflösung der Sowjetunion das Ende der Geschichte ausrief, waren bürgerliche Ökonomen zu dem Ergebnis gelangt, dass die kapitalistische Marktwirtschaft auf der Grundlage des Privatbesitzes an Produktionsmitteln und privatem Profit das einzig rationale Wirtschaftssystem sei, da es sich auf die menschliche Natur selbst gründe.

8. Abseits dieser seit langem bestehenden Ideologien gab es einen sehr viel unmittelbareren materiellen Grund. Die jüngsten Innovationen in dem Bereich, der sich als bürgerliche ökonomische Theorie versteht, wie die Hypothese effizienter Märkte, waren direkter Ausdruck der Bedürfnisse des Finanzkapitals, das in den vergangenen drei Jahrzehnten in der kapitalistischen Weltwirtschaft eine so wichtige Rolle angenommen hat. Die These von den effizienten Märkten behauptet, der Markt habe immer Recht, da sich zu jedem Zeitpunkt alle verfügbaren Informationen im Preis niederschlagen. Dementsprechend kann niemand mehr wissen als der Markt und jeder Versuch einer Regulierung, der sich notwendigerweise auf Teilinformationen oder beschränkte Informationen stützt, sei ineffizient.

Warum ist solcher Müll so lange als „Wissenschaft“ verkauft worden? Weil er bestimmten finanziellen Interessen dient. Wie ein Bericht es vor kurzem formulierte: „Ohne die These effizienter Märkte müssten die meisten Handels- und Risikomodelle, die von den großen Finanzinstitutionen benutzt werden, weggeworfen werden. Und, wie wir wissen, machten Banken, Investmentfirmen und Hedge Fonds mit dem Gebrauch dieser Modelle des Finanzhandels hunderte Milliarden von Dollar an Profit und belohnten ihre Angestellten und sogenannten Investmentstrategen reichhaltig. Warnungen vor der wirklichen Situation der globalen Finanzmärkte wurden ganz einfach beiseite geschoben. Der frühere IWF-Chefökonom Raghuran Rajan erinnert in der Einführung seines kürzlich veröffentlichten Buches daran, dass er 2005 bei der jährlichen Zusammenkunft der Zentralbanken Ende August in Jackson Hole heftig kritisiert wurde. Rajan hatte die Sünde begangen, auf wachsende Probleme an den Finanzmärkten hinzuweisen, während das Thema der Veranstaltung sich um die Frage drehte, ob der scheidende Vorsitzende des Federal Reserve Boards „der beste Bankier in der Geschichte oder nur einer der besten war“.

9. Wenden wir uns jetzt der Analyse dieser Krise auf der Grundlage des Marxismus zu. Eine solche Analyse muss sich auf die Gesetze der kapitalistischen Wirtschaft stützen und auf ein Verständnis der Interaktion zwischen diesen Gesetzen und der historischen Entwicklung des Kapitalismus, die sie beide bestimmen und innerhalb derer sie arbeiten. Der bürgerliche Ökonom Christoph Schumpeter, zur Zeit in Mode wegen seines Begriffes von der “kreativen Zerstörungskraft” des Kapitalismus, war ein Gegner des Marxismus. Aber er schätzte Marx’ Methode der Analyse und seine Errungenschaften. “Es gibt... eine Sache von fundamentaler Bedeutung für die Methodologie der Wirtschaftswissenschaft, die er (Marx) tatsächlich erreichte”, schrieb er. “Ökonomen haben immer entweder selber auf dem Feld der Wirtschaftsgeschichte gearbeitet oder die historischen Arbeiten anderer benutzt. Aber die Tatsachen der Wirtschaftsgeschichte wurden einer besonderen Abteilung zugeordnet. Sie spielten in der Theorie, wenn überhaupt, nur eine Rolle als Illustrationen, oder als Verifikationen von Forschungsergebnissen. Sie mischten sich nur mechanisch mit ihnen. Marx’ Mischung dagegen ist eine chemische: Das heißt, er flocht sie in das Argument ein, das die Resultate produzierte. Er war der erste Ökonom von überrragender Bedeutung, der sah und systematisch lehrte, wie Wirtschaftstheorie in historische Analyse umgewandelt und wie die historische Geschichtsschreibung in eine histoire raisonnée verwandelt werden kann.“

10. Marx sah nur die Anfänge der historischen Entwicklung des Kapitalismus. Seine Methode der historischen Analyse wurde in einer sehr wichtigen Hinsicht vertieft, als Leo Trotzki 1921 ein Konzept einführte, das sich für die Analyse der historischen Entwicklung des Kapitalismus als entscheidend erwiesen hat, vor allem in der Einschätzung des gegenwärtigen Zusammenbruches.

Bei der Analyse ist es notwendig, so erklärte Trotzki, zwischen den kurzfristigen Fluktuationen der kapitalistischen Ökonomie – Boom, Krise, Abwärtsbewegung, Rezession, Erholung – und den langfristigen Phasen der Entwicklung, innerhalb derer sie sich ereignen, zu unterscheiden. 1921 war klar, dass die schwere Rezession, in die alle großen kapitalistischen Wirtschaften nach dem Ende des Ersten Weltkrieges gerutscht waren, vorbei war und dass eine wirtschaftliche Erholung unterwegs war. Hieß dies, wie die bürgerlichen Ökonomen jener Zeit so nachdrücklich behaupteten, dass der von den Marxisten behauptete Zusammenbruch des Kapitalismus nur ein Hirngespinst linker Einbildung war? Seht, so erklärten sie, der Kapitalismus hat überlebt, er hat seine Lebensfähigkeit bewiesen und es gibt keine historische Rechtfertigung für den Sozialismus und schon gar keine für die Russische Revolution von 1917.

11. Trotzkis Analyse wurde sowohl gegen diese Konzeption als auch gegen eine “linke” Interpretation entwickelt, die behauptete, dass der Kapitalismus seit dem Zusammenbruch von 1914 dazu bestimmt war, sich in einer stetigen Abwärtsspirale zu bewegen. Im Gegensatz zu den Annahmen der „Linken“ erklärte Trotzki, dass es klare Signale einer Aufwärtsbewegung gebe und dass diese sich verstärken würden. Aber sie sagten nichts über die historische Lebensfähigkeit des kapitalistischen Systems aus. Sie zeigten nur, dass der Kapitalismus lebendig war und weiterhin „atmete“, so wie ein Sterbender bis zum Augenblick seines Todes atmet. Der Kapitalismus war am Leben, aber es würde kein Zurück zu der Phase kapitalistischer Expansion geben, die dem Ersten Weltkrieg vorangegangen war, und jeder Boom würde schon bald Bedingungen für eine neue und tiefere ökonomische Krise schaffen.

Diese Analyse wurde in der nächsten geschichtlichen Phase bestätigt. Weit davon entfernt, eine stürmische Wachstumsphase zu erleben, kehrten die europäischen Wirtschaften erst 1925 – 26 auf das Produktionsniveau zurück, das in der Vorkriegsperiode erreicht worden war. Ganze drei Jahre später signalisierte der Zusammenbruch an der Wallstreet von 1929 den Auftakt der Großen Depression.

12. War ein neuer Aufschwung in dem, was Trotzki die Kurve der kapitalistischen Entwicklung nannte, möglich? Trotzki schloss das nicht aus, aber er betonte, dass er nur unter sehr spezifischen Bedingungen stattfinden könnte.

Wenn wir davon ausgehen – und tun wir das einfach einmal – dass die Arbeiterklasse es nicht schafft, sich in einen revolutionären Kampf zu begeben, sondern der Bourgeoisie erlaubt, das Schicksal der Welt für eine lange Zeit weiter zu bestimmen – zwei oder drei Jahrzehnte zum Beispiel, dann wird ganz sicher irgendein neues Gleichgewicht etabliert werden. Europa wird mit Gewalt den Rückwärtsgang einlegen. Millionen europäischer Arbeiter werden an Arbeitslosigkeit und Unterernährung sterben. Die Vereinigten Staaten werden gezwungen sein, sich wieder am Weltmarkt zu orientieren, ihre Wirtschaft zurückzuverwandeln und für einen beträchtlichen Zeitraum erhebliche Beeinträchtigungen zu erleiden. Danach, nachdem eine neue weltweite Arbeitsteilung in einem 15, 20 oder 25 Jahre dauernden Kampf unter Schmerzen etabliert ist, könnte es vielleicht zu einer neuen Epoche kapitalistischen Aufschwungs kommen.“

Diese bemerkenswerte Analyse, die den Kurs der folgenden 25 Jahre so klar voraussah, wurde 1921 gemacht. Auf dem Blut und den Knochen von Millionen wurde ein neuer kapitalistischer Aufschwung möglich gemacht. Worauf ich eure Aufmerksamkeit richten möchte, ist jedoch nicht der weitsichtige Charakter von Trotzkis Analyse, sondern die Methode, auf die sie sich gründete.

Trotzki war nicht der einzige, der die verschiedenen Phasen der kapitalistischen Entwicklung erkannte. Sie waren für jeden wirtschaftskundigen Beobachter offensichtlich. Der große Boom in der Mitte der viktorianischen Ära von 1851 bis 1873 unterschied sich erheblich von der Großen Depression von 1873 bis 1896, die darauf folgte. Diese wiederum war anders als die kapitalistische Expansion, die im ersten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts stattfand.

Diese Phasen haben sich in der Zeit nach Trotzkis Analyse fortgesetzt. Der Zeitraum zwischen den Kriegen unterscheidet sich erheblich von dem Nachkriegsboom, der wiederum anders als die 1970er und 1980er Jahre ist, und auch der Zeitraum von 1990 bis 2008 war klar eine neue Phase der kapitalistischen Entwicklung.

Die zu beantwortende Frage ist nicht, ob es diese Phasen gibt, sondern, was zu ihnen führt.

Trotzki entwickelte seine Analyse in Opposition zu den Theorien des russischen Ökonomen Kondratjew, der behauptete, dass die langfristigen Phasen der Entwicklung durch die ökonomischen Prozesse des Kapitalismus selbst bedingt waren, in der gleichen Wiese wie die kurzfristigen Phasen des Geschäftszyklus. Trotzki betonte jedoch, dass es keine Automatismen bei der Entwicklung eines kapitalistischen Aufschwungs gibt, dass er durch die „externen Bedingungen bestimmt werde, durch deren Kanäle die kapitalistische Entwicklung fließt“. Diese Analyse ist durch die historische Entwicklung des Kapitalismus in den siebzig Jahren seit Trotzkis Tod bestätigt worden.

13. Der Nachkriegsboom, der in den späten 1940er Jahren einsetzte, entwickelte sich nicht automatisch aus den ökonomischen Prozessen heraus. Er wurde vor allem ermöglicht durch den Verrat am Aufstand der Arbeiterklasse durch die sozialdemokratische und stalinistische Führung in den letzten Jahren des Zweiten Weltkrieges und in den ersten Jahren nach dem Krieg. Dieser Verrat machte die erneute Stabilisierung der kapitalistischen Ordnung möglich – die zumindest auf dem europäischen Kontinent wegen der Zusammenarbeit mit den Nazis gründlich diskreditiert worden war. Diese Stabilisierung war die Voraussetzung für die wirtschaftliche Restrukturierung der Weltwirtschaft unter der Führung der wirtschaftlich dominanten Vereinigten Staaten. Diese Restrukturierung erleichterte die Ausbreitung produktiverer und technologisch fortgeschrittener Methoden amerikanischer Produktion in andere größere fortgeschrittene kapitalistische Länder und führte so zu einer Erhöhung der Profitrate. Dies war die wirtschaftliche Grundlage des Nachkriegsaufschwungs.

14. Nach Kriegsende erfreute sich die kapitalistische Weltwirtschaft 25 Jahre lang ungekannten Wachstums und wirtschaftlicher Stabilität. Aber die Widersprüche, die in der ersten Hälfte des Jahrhunderts explodiert waren, waren nicht überwunden. Der tendenzielle Fall der Profitrate, der überwunden schien, meldete sich ab der Mitte der Sechziger Jahre wieder zurück.

Es gab zunehmende Spannungen im Zentrum der internationalen monetären Nachkriegs-Abkommen. Unter der Bretton-Woods-Vereinbarung wurden wichtige Währungen im Verhältnis zueinander und zum Dollar fixiert. Der US-Dollar wiederum wurde mit 35 US-Dollar pro Unze an das Gold gebunden. US-Dollar konnten auf Verlangen zu diesem Satz gegen Gold eingetauscht werden. Mit Vereinbarung funktionierte der US-Dollar effektiv als Weltwährung und ermöglichte so das Wiederaufleben des globalen Handels und weltweiter Investitionen, die allesamt in den 1930er Jahren zusammengebrochen waren und die für die Ausweitung der Weltwirtschaft als Ganzes von entscheidender Bedeutung waren.

Während er als Weltwährung diente, blieb der US-Dollar aber auch die Währung eines Nationalstaates. Dieser Widerspruch zwischen seinen beiden Funktionen begann sich ab den späten 1950er Jahren zu zeigen. Das Anwachsen des internationalen Handels und weltweiter Investitionen erforderte einen Abfluss von Dollars aus den USA, um notwendige internationale Liquidität zu schaffen. Gleichzeitig ließ sich bei der immer größeren Menge an im Umlauf befindlichen US-Dollars die Verpflichtung, jene Dollar in Gold umzutauschen, nicht aufrecht erhalten. Am 15. August 1971 durchschnitt US-Präsident Nixon angesichts dieses Widerspruchs den Gordischen Knoten und kappte die Beziehung zwischen Dollar und Gold.

15. Der Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems von 1971 bis 1973 und das Einsetzen einer globalen Rezession 1974 – 1975 ließen das Ende des Nachkriegsbooms erkennen. Die Rezession, die den größten Abschwung seit den 1930er Jahren bedeutete, ging vorüber. Aber die Bedingungen des Nachkriegsbooms kehrten nicht zurück. Stattdessen machten sie den Weg frei für eine Stagflation – das heißt, hohe Arbeitslosigkeit kombiniert mit rekordverdächtiger Inflationsrate.

So wie die gegenwärtige Krise die Doktrinen des “freien Marktes” auf vernichtende Wiese widerlegt, die in den vergangenen drei Jahrzehnten vorgeherrscht haben, so war der Zusammenbruch des Nachkriegsbooms eine gleichermaßen vernichtende Widerlegung des Keynesianertums, das in den 25 Jahren seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges Lehrmeinung war.

Dieser Lehre zufolge konnte das Eingreifen des Staates das Entstehen von Bedingungen verhindern, die in den 1930er Jahren geherrscht hatten. Wir sind jetzt alle Keynesianer, hatte US-Präsident Nixon 1969 verkündet. Aber angesichts der Krise Mitte der 1970er Jahre verschlimmerte die Anwendung keyensianischer Methoden die Situation nur. Die Doktrin, dass Staatseingriffe das kapitalistische System im Zaum halten könnten, lag in Scherben. In den vergangenen dreißig Jahren haben die Keynesianer die Befürworter des „freien Marktes“ angeprangert und darauf bestanden, dass durch die Rückkehr zu ihren Methoden zumindest die schlimmsten Auswüchse des kapitalistischen Systems verhindert werden könnten. Aber sie konnten eine einfache Frage nie beantworten: Wenn keynesianische Maßnahmen für die größte Expansion des Kapitalismus in seiner Geschichte verantwortlich waren – eine Periode, die allen zugute kam – warum waren sie dann nicht in der Lage, ihren Zusammenbruch zu verhindern?

16. Der Kapitalismus antwortete auf die Krise der 1970er Jahre so, wie er immer auf Krisen geantwortet hatte: Er unternahm eine massive Restrukturierung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Beziehungen, die darauf abzielten, die erweiterte Akkumulation wiederherzustellen und den Fall der Profitrate zu überwinden. Aber an dieser Entwicklung war nichts Automatisches oder Vorherbestimmtes. Die Bourgeoisie konnte im Sattel bleiben und diesen Prozess von 1979 – 1980 vorantreiben, da sie durch den Verrat am Aufstand der Arbeiterklasse in der Periode von 1968 – 1975 an der Macht hatte bleiben können.

17. Die ökonomische Restrukturierung, die grob gesagt in die Zeit der Machtübernahme Reagans und Thatchers fällt, involvierte die Zerschlagung der Industrien, die im Zentrum des Nachkriegsbooms gestanden hatten. Eine Schlüsselrolle in diesem Prozess spielte das Finanzkapital. Trotzdem wäre es falsch, den Aufstieg des Finanzkapitals, der in dieser Periode begann, einfach als das Ergebnis des Mangels an profitablen Gelegenheiten für Investitionen zu sehen. Es gab, wie Marx bereits bemerkt hatte, keinen Mangel an Betrügereien und der Förderung von Betrügereien, aber dahinter lag der Drang des Kapitals, neue Produktionsmethoden und neue Technologien zu entwickeln, um die Profitrate individueller Firmen und Konzerne über den abnehmenden Durchschnitt anzuheben.

Das Finanzkapital als Repräsentant des Kapitals im Allgemeinen spielte die aktivste Rolle in der Reorganisation der kapitalistischen Industrie. Durch Fusionen und Übernahmen beschleunigte es die Entwicklung neuer Technologien im Produktionsprozess, setzte Kostendrückung durch und erzwang auf diese Weise die Trennung von Produktion und Outsourcing und setzte damit die Prozesse in Gang, die als Globalisierung der Produktion bekannt wurden.

Diese Maßnahmen begannen in den 1980er Jahren, aber sie waren an sich nicht in der Lage, zu einer neuen Periode kapitalistischen Aufschwungs zu führen. Damit das stattfinden konnte, musste es eine gewaltige Veränderung in den externen Bedingungen geben, innerhalb derer sich die kapitalistische Produktionsweise entwickelt – eine Veränderung in der wirtschaftlichen Topographie.

18. Diese kam mit der Auflösung der Sowjetunion und der Integration Chinas in den globalen kapitalistischen Markt und die daraus folgende Aufgabe nationaler Wirtschaftsplanung in den zurückgebliebenen kapitalistischen Ländern – allen voran Indien – und der Einführung eines „Markt“-Systems.

Diese Veränderungen führten zu einer gewaltigen Verschiebung innerhalb der kapitalistischen Weltwirtschaft. Zwei Milliarden Arbeiter wurden dem globalen Arbeitsmarkt zugeführt, die dem Kapital zu Löhnen zur Verfügung standen, die weit unter denen in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern lagen. Die Arterien der kapitalistischen Wirtschaft wurden mit frischem Blut versorgt und dies schuf die Bedingungen für eine neue Periode kapitalistischen Aufschwungs, die zu Anfang der Neunziger Jahre begann.

(In den späten 1920er Jahren hatte Trotzki eine solche Möglichkeit erwähnt, falls die Sowjetunion aufgelöst und China versklavt werden sollte. Die Re-Integration dieser Regionen in die kapitalistische Weltwirtschaft fand nicht in der Weise statt, wie Trotzki sie vorausgesehen hatte, aber seine Argumentation hält heute noch stand.)

19. Der kapitalistische Aufschwung, der in den 1990er Jahren begann, war anderes als alles vorher Dagewesene. Der Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg gründete sich auf die Verbreitung produktiverer amerikanischer Industriemethoden in die übrige Welt, vor allem in die anderen fortgeschrittenen Länder. Das Ansteigen der Profitrate, das dem Aufschwung zugrunde lag, resultierte aus der Zunahme der Arbeitsproduktivität in den herstellenden Industrien der großen kapitalistischen Wirtschaften.

In den 1990er Jahren entwickelte sich eine neue Akkumulationsmethode, in der die Großkonzerne der fortgeschrittenen kapitalistischen Länder eine ganz andere Rolle in der Mehrwertkette spielten. Sie entwarfen neue Produkte und führten technologische Neuerungen am Beginn des Herstellungsprozesses ein und organisierten die Vermarktung der entstehenden Produkte am Ende. Aber die Herstellungsprozesse wurden von verschiedenen Firmen in Regionen mit billiger Arbeitskraft durchgeführt. Einige dieser Firmen sind mittlerweile sehr groß geworden. Die chinesische Firma Foxconn, die kürzlich wegen des Selbstmordes von wenigstens elf Beschäftigten in den Nachrichten war, beschäftigt mehr als 920.000 Arbeiter. Sie produzieren am Fließband iPhones, PlayStations und Dell-Computer. Führende Angestellte erzählen sich den Witz, dass es in zwanzig Jahren nur noch zwei Firmen auf der Welt geben wird: Alles wird von Foxconn hergestellt und anschließend von Wal-Mart verkauft.

In dem Witz liegt ein Körnchen Wahrheit. Er deutet auf eine völlig neue Methode der Profitakkumulation, die aus der globalen Restrukturierung der vergangenen zwanzig Jahre resultiert. Die zu beantwortende Frage lautet: Wie hat dies zum gegenwärtigen Zusammenbruch geführt?

20. Die Triebkraft der kapitalistischen Produktionsweise ist die Extraktion von Mehrwert aus der Arbeiterklasse. Die Großkonzerne sind jedoch zunehmend damit beschäftigt, nicht selber Mehrwert aus den Arbeitern herauszupressen, sondern anderweitig herausgepressten Mehrwert zu akkumulieren. Betrachten wir einen 64-Gb iPod Touch, der sich im Einzelhandel für etwa 400 US-Dollar verkauft. Hiervon gehen nur 13 Dollar auf das Konto der Arbeit der Beschäftigten von Foxconn. Es gibt einen großen Aufwand für die Entwicklung von Softwareprogrammen und neuen Technologien. Aber diese Kosten werden auf eine große Zahl von Einheiten verteilt und machen nur einen Bruchteil des Endpreises aus. Bei Löhnen, die in China etwa ein Dreizehntel oder ein Zwanzigstel dessen ausmachen, was in den USA gezahlt wird, kommt es im Produktionsprozess zu einem massiven Mehrwertertrag. Aber der Löwenanteil dieses Mehrwertes geht nicht an den Hersteller. Er wird verteilt an die Muttergesellschaft Apple, die Anwaltskanzleien, die ihre Marke schützen, die Einkaufszentren und Einzelhändler, die ihre Produkte verbreiten, die Werbeagenten, die sie promoten usw. Es ist eine Art der Profitakkumulation, die sich gewaltig von der von Henry Ford entwickelten unterscheidet.

21. Diese Verlagerung in der Akkumulationsweise drückt sich in der ständigen Zunahme der Finanzialisierung aus – das heißt, der Akkumulation von Profit nicht durch die Extraktion von Mehrwert, sondern durch Finanzaktivitäten. General Motors, einst der weltgrößte Industriekonzern, ist dafür ein Beispiel. Vor seinem Bankrott und seiner Restrukturierung, war sein finanzieller Arm, GMAC eine größere Quelle des Profits als der produzierende Bereich. Auf dieser Grundlage könnte man sagen, dass GM von einem Industriekonzern mit einer Finanzabteilung zu einem Finanzkonzern mit einer Industrieabteilung geworden war.

22. Das Ausmaß der Finanzialisierung lässt sich aus einer Reihe von Statistiken ersehen. Vor dreißig Jahren machten die Profite der Finanzkonzerne in den USA weniger als zehn Prozent aller Konzerngewinne aus. 2007 beliefen sie sich auf etwa vierzig Prozent.

1980 stand das weltweite Bruttoinlandsprodukt bei zehn Billionen US-Dollar, während sich globale Finanzvermögen auf zwölf Billionen US-Dollar beliefen. 2007, auf dem Höhepunkt des Finanzbooms, betrug die Summe globaler Finanzvermögen 196 Billionen US-Dollar, verglichen mit einem weltweiten Bruttoinlandsprodukt von 55 Billionen US-Dollar. Das heißt, im Verlauf eines Vierteljahrhunderts, waren globale Finanzvermögen von knapp über 100 Prozent des globalen Bruttoinlandsproduktes auf mehr als 350 Prozent angewachsen. Oder, anders ausgedrückt, die Finanzvermögen waren im Zeitraum von 1980 bis 2007 vier Mal schneller gewachsen als das globale Bruttoinlandsprodukt.

23. Die Bedeutung dieses enormen Missverhältnisses wird klar, wenn wir uns ins Gedächtnis rufen, was Finanzvermögen repräsentieren. Sie sind an sich kein wirkliches Vermögen, sondern nur der Anspruch auf ein Vermögen. Die Aktie einer Firma ist an sich kein Vermögen, sondern nur ein Besitzanspruch – eine Forderung an den Profit, der von der Firma erzielt wird. Dasselbe gilt für Anleihen, ob von einem Konzern oder einer Regierung ausgegeben. Mit diesen Besitzansprüchen selber kann wiederum gehandelt werden und ein solcher Handel kann zu einer Quelle neuen Profits werden. Dies nährt die Illusion, dass Geld selber Geld gebären kann, ohne dass irgendein Produktionsprozess eingeschaltet sein muss – eine Art kapitalistisches Paradies. Aber schlussendlich können sich Finanzwerte nicht von ihren irdischen Wurzeln lösen. Sie repräsentieren Forderungen an wahrhaftiges Vermögen.

Diese Zahlen belegen, dass die Forderungen ihre realen Grundlagen bei weitem übertreffen. Wie ist es dazu gekommen? Es schien, dass das Finanzkapital eine Zeitlang in der Lage war, sich den Gesetzen der politischen Ökonomie zu entziehen. Aber nur eine Zeitlang. Schlussendlich setzten sich diese Gesetze in der gleichen Weise durch, in der die Gesetze der Schwerkraft sich durchsetzen, wenn uns ein Haus um die Ohren fällt, und zwar in Form einer Krise.

24. Das Finanzkapital wuchs weiter und während Geld durch die Zentralbanken in das Finanzsystem gepumpt wurde, wurde immer höherer Profit erzielt. Aber die Große Mäßigung, wie der Chef der Federal Reserve, Bernanke, eine Periode niedriger Zinsen und niedriger Inflation nannte, hieß, dass die Ertragsrate, der Gewinn durch risikoreiche Anlagen, sank. Neue, noch riskantere Anlageformen mussten geschaffen werden, um eine gegebene Profitrate zu halten. Dieser ganze Prozess endete im Subprime-Debakel. Subprime-Darlehen wurden ohne Rücksicht auf das Risiko ausgegeben, weil angenommen wurde, dass die Immobilienpreise mit der ständigen Injektion von Liquidität in das Finanzsystem weiter steigen würden. Als der US-Immobilienmarkt zusammenzubrechen begann und die Subprime-Blase platzte, setzte das eine Kettenreaktion in den USA und dann im globalen Finanzsystem in Gang. Die Subprime-Krise war nur der Katalysator für eine Krise, die sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten zusammengebraut hatte.

25. Als die Krise vor zwei Jahren ausbrach, pumpten Regierungen und Zentralbanken in aller Welt Billionen von Dollar in die Banken und die Finanzinstitute. Das Wesen dieser Maßnahmen war klar: Wertlose oder „toxische Anlagen“ wurden aus den Büchern der Banken herausgenommen und in die Verantwortlichkeit des Staates übernommen. Nach Jahren, in denen verkündet worden war, es gebe kein Geld für soziale Programme, gab es plötzlich Geld in Hülle und Fülle. Aber diese Maßnahmen – das Ersetzen privater Schulden durch sogenannte Staatsschulden – hat das Problem nicht gelöst. Es hat es nur verlagert. Jetzt hat der kapitalistische Staat die Aufgabe übernommen, dem Finanzsystem wieder Wert zurückzugeben. Das erfordert eine massive Restrukturierung der gesellschaftlichen und Klassenbeziehungen und einen Frontalangriff auf die Arbeiterklasse.

Die sogenannte Staatsschuldenkrise im April und im Mai war das Mittel, mit dem die Finanzmärkte ihre Befehle an die Regierungen durchgaben, dass dieser Angriff mit der Einführung brutaler Sparprogramme zu beginnen hatte.

26. Das Thema dieses Vortrages spricht vom Zusammenbruch des Kapitalismus. Ich hoffe, dass meine Ausführungen klar gemacht haben, was darunter zu verstehen ist. Ein Zusammenbruch heißt nicht, dass die kapitalistische Wirtschaft einfach anhält. Ganz und gar nicht. Er bedeutet die Eröffnung einer neuen geschichtlichen Epoche, in der das Schicksal der Gesellschaft auf Jahrzehnte hinaus entschieden wird. Wie findet so etwas statt? Nicht durch Gesetzgebung oder Regulierung, sondern durch den Ausbruch enormer gesellschaftlicher und Klassenkämpfe. Diese Kämpfe werden ein revolutionäres Ausmaß annehmen: Die herrschende Klasse kann nicht länger in der gewohnten Weise regieren und die Arbeiterklasse kann nicht unter den neuen Bedingungen leben, die ihnen die Krise auferlegt.

27. Was wird sich aus dieser Krise ergeben? Nach einem kürzlich veröffentlichten Buch des Wirtschaftsexperten Anatole Kaletsky wird es zu einer neuen Form von Kapitalismus kommen. Marx, so erklärt er, hatte nicht Unrecht, als er auf die Widersprüche innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise hinwies. Aber er hatte insofern Unrecht, als dass er darauf bestand, diese Widersprüche würden zu seinem Sturz führen. Der Kapitalismus, so behauptet er, werde nicht zerbrechen, sondern sich als biegsam erweisen und sich anpassen. Der Kapitalismus hat in der Vergangenheit Krisen durchgemacht, sich aber durch ständige Anpassung weiterentwickelt. Einige dieser Krisen haben das System bis in die Grundfesten erschüttert, aber zu einer neuen Form des Kapitalismus geführt. Und so wird es auch diesmal sein.

28. Es ist wahr, dass es dem Kapitalismus gelang, nach dem Zusammenbruch von 1914 wieder aufzuerstehen. Ein neues Gleichgewicht wurde schließlich geschaffen, aber nur, wie Trotzki es formulierte, auf der Grundlage des Blutes und der Knochen von Millionen. Jetzt hat es einen weiteren Zusammenbruch gegeben. Der Kapitalismus wird versuchen, sich der neuen Situation, vor der er steht, anzupassen. Welche Form wird diese Anpassung annehmen? Zwei Prozesse sind hierbei involviert.

Zuerst einmal muss das Kapital sich anpassen, indem es die Extraktion von Mehrwert aus der Arbeiterklasse intensiviert, um die Akkumulation von Kapital zu ermöglichen. Mit welchen Mitteln? In den USA sehen wir die Einführung von Löhnen unter der Armutsgrenze bei General Motors – der Anfangslohn für einen Arbeiter beträgt 14 Dollar die Stunde. Die Obama-Administration erklärt, dass Amerikas Zukunft in der Zunahme seiner Exporte liegt. Aber wie soll dies erreicht werden? Die Löhne in den USA müssen gesenkt werden, um mit denen der Mitbewerber konkurrieren zu können. Soziale Dienste, das Gesundheitssystem und andere Versorgungsbereiche müssen zerstört werden, um dem Finanzsystem neue Ressourcen zu verschaffen. Diese Prozesse sind mit all ihren nationalen Varianten in aller Welt in Gang. In diesem Land (Australien) deuten die enorme Instabilität des politischen Systems und die hochgradig instabile „zweigleisige“ Wirtschaft an, was uns erwartet.

Nicht nur die Klassenbeziehungen müssen in globalem Maßstab “restrukturiert” werden, sondern auch die Beziehungen zwischen den kapitalistischen Großmächten. Nach der Katastrophe der ersten vier Jahrzehnte des Zwanzigsten Jahrhunderts wurde der Weltkapitalismus auf der Grundlage der Stärke des amerikanischen Kapitalismus wieder stabilisiert. Nun steht der Niedergang des amerikanischen Kapitalismus selbst im Zentrum der Krise. Wie wird der amerikanische Imperialismus sich zu retten versuchen? Mit militärischen Mitteln. Enorme geopolitische Spannungen entwickeln sich, was man gerade in dieser Region klar erkennen kann, wo die Antagonismen zwischen Amerika und China zunehmen. Diese Konflikte erinnern erschreckend an die Antagonismen der 1930er Jahre. Sie werden zum gleichen Ergebnis führen, zum Krieg. Nur dass er diesmal nicht mit dem Einsatz von Atomwaffen enden, sondern mit ihrem Einsatz beginnen wird.

Der Kapitalismus wird sich “anpassen”, sagen uns seine Befürworter. Ja, das wird er. Aber die Formen der „Anpassung“ bedrohen die Grundlagen der Existenz der menschlichen Zivilisation. Das ist der Grund, warum er gestürzt und durch eine vernünftig geplante weltweite sozialistische Wirtschaft ersetzt werden muss, damit die Menschheit zu ihrem historischen Fortschritt zurückfinden kann.

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