Die Sowjetmacht - das erste Jahr

Der Historiker Alexander Rabinowitch spricht in Berlin

Mitte Oktober wird der bekannte amerikanische Historiker Professor Alexander Rabinowitch eine öffentliche Vorlesung an der Humboldt-Universität in Berlin halten. Bei dieser Gelegenheit wird er die deutsche Ausgabe seines jüngsten Buchs „Die Sowjetmacht – Das erste Jahr“ vorstellen und über die neuesten Ergebnisse seiner Forschungsarbeit in den Petrograder Archiven berichten.

Rabinowitch gehört zu den weltweit führenden Experten der Geschichte der Russischen Revolution, darüber hinaus ist er einer der letzten Granden der sogenannten narrativen Geschichtsschreibung. Wie die Lektüre seiner Bücher versprechen seine Vorlesung und die anschließende Diskussion mit ihm wichtige historische Einblicke und eine anregende wissenschaftliche Diskussion.

Unter den Historikern, die sich mit der Geschichte Russlands und speziell mit den beiden Revolutionen des Jahre 1917 befassen, nimmt Rabinowitch eine herausragende Stellung ein. Aufgewachsen in einer russischen Emigrantenfamilie, lernte er in seinem Elternhaus historische Figuren wie Alexander Kerenski und Irakli Tsereteli kennen, die der Bolschewistischen Partei abweisend gegenüberstanden. Wie kaum ein anderer Historiker ging er seitdem der Frage nach: Was war die russische Revolution wirklich – Militärputsch einer kleinen, verschworenen Bande revolutionärer Fanatiker, oder war die bolschewistische Partei in Petrograd 1917 zu einer Massenpartei herangewachsen? Drei umfangreiche wissenschaftliche Werke widmete er dieser Frage. Sein Klassiker „The Bolsheviks Come to Power“ (1976) gilt in der Fachwelt als Standardwerk.

Rabinowitch ist ein beharrlicher Anhänger der dokumentengestützten Geschichtsschreibung. Seit Jahrzehnten arbeitet er systematisch und unermüdlich in Archiven. Jedes Detail seiner Darstellung stützt sich auf überprüfbare Dokumente, Sitzungsprotokolle und Tatsachenberichte. Seine Leidenschaft als Historiker besteht darin, die dramatischen Ereignisse im revolutionären Petrograd der Jahre 1917/18 so detailgenau und wirklichkeitsnah wie möglich darzustellen. Sein Credo lautet: „Herausfinden, wie es wirklich war.“

Gerade das macht die Veröffentlichung seines jüngsten Buchs „Die Sowjetmacht – Das erste Jahr“ zu einem solch wichtigen Ereignis. Rabinowitch war mit der Arbeit an diesem Buch schon weit fortgeschritten, als ihm plötzlich und unerwartet Zugang zu bisher verschlossenen Partei-, Staats- und Geheimdienstarchiven der ehemaligen Sowjetunion ermöglicht wurde. Mehrere Jahre intensiver Forschung dort halfen ihm dann seine bisherigen Erkenntnisse und Einschätzungen zu präzisieren.

Das neue zugängliche Dokumentenmaterial liefert dem Leser ein sehr detailliertes Bild der damaligen Ereignisse. Der Leser selbst erhält damit die Möglichkeit, die russische Revolution und die dramatische Entwicklung in den Folgejahren zu bewerten und historisch einzuordnen.

Gerade in Deutschland ist das wichtig und begrüßenswert. In kaum einem anderen Land war die Russlandforschung während der Jahrzehnte des Kalten Krieg derart ideologiebelastet wie hier. Während DDR-Historiker die revolutionären Ereignisse von 1917 verfälschten, um die stalinistische Herrschaft in Moskau und Ost-Berlin zu rechtfertigen, weigerten sich einige BRD-Historiker aus antikommunistischen Motiven, zwischen Bolschewismus und Stalinismus zu unterscheiden. Diese Auffassungen und Schlussfolgerungen klingen bis heute nach. Einige Historiker reagieren darauf, indem sie eine objektive und wahrheitsgetreue Aufarbeitung der russischen Geschichte gänzlich in Abrede stellen.

Durch die Öffnung der sowjetischen Archive und die damit verbundene Flut von neuen Dokumenten ist ein frischer Wind in die Russlandforschung eingezogen, der viele Historiker beflügelt. Während einer Feierstunde, die die 40. National Convention der AAASS (American Association for the Advancement of Slavic Studies) vor zwei Jahren in Philadelphia zu Ehren von Prof. Rabinowitch organisierte, würdigte Prof. Stephen F. Cohen Rabinowichs herausragenden Leistungen und bezeichnete sein neues Buch als Durchbruch in der Russlandforschung.

„Rabinowitch hat einen überraschenden Schatz an neuen Informationen aus bisher unzugänglichen Archiven gehoben und in eine überzeugende und anschauliche Darstellung verarbeitet, für Spezialisten und Laien gleichermaßen zugänglich“, sagte Cohen, der als Russlandexperte und Autor einer viel beachteten Bucharin-Biographie selbst einen hervorragenden Ruf genießt.

Vier Themenbereiche stehen im Zentrum von Rabinowitchs jüngstem Buch:

- die Auseinandersetzung um die Bildung einer revolutionären Regierung auf dem Gesamtrussischen Sowjetkongress,

- die Konflikte um die Auflösung der Konstituierenden Versammlung,

- die diplomatischen Verhandlungen zum Frieden von Brest-Litowsk und die leidenschaftlichen politischen Debatten zwischen den Anhängern und Gegnern dieses bedrückenden Vertrages mit dem deutschen Kriegsgegner, und schließlich

- die Anfänge des Weißen Terrors, der von außen und innen gesteuerten Mordanschläge und Verschwörungen gegen die neue Regierung, welche als Verteidigungsreflex den Roten Terror auslösten.

Sein reichhaltiges dokumentarisches Belegmaterial und seine daraus abgeleiteten Thesen untergraben die weit verbreiteten Interpretationskonzepte, wonach die Oktoberrevolution nichts weiter war als der Putsch einer kleinen revolutionären Verschwörerbande unter der Führung von Lenin und Trotzki. Im Vorwort seines Buches heißt es:

„Ich kam zu dem Ergebnis, dass die Oktoberrevolution in Petrograd weniger eine militärische Operation war, sondern eher ein allmählicher Prozess auf dem Boden einer in der Bevölkerung tief verwurzelten politischen Kultur sowie einer weit verbreiteten Unzufriedenheit mit den Ergebnissen der Februarrevolution, kombiniert mit der unwiderstehlichen Anziehungskraft der Versprechen der Bolschewik – sofortiger Friede, Brot, Land für die Bauern und Basisdemokratie durch Mehrparteiensowjets.

Diese Interpretation warf allerdings ebenso viele Fragen auf, wie sie beantwortete. Wenn der Erfolg der bolschewistischen Partei 1917, soviel schien klar, wenigstens zum Teil ihrem offenen, relativ demokratischen und dezentralisierten Charakter und Handeln zu verdanken war, wie war dann zu erklären, dass sich diese Partei so schnell in eine der am stärksten zentralisierten und autoritärsten politischen Organisationen der Neuzeit verwandelte?“

Diese Thesen und Fragestellungen waren wohl ein Grund dafür, dass es interessierten Lesern in Deutschland bisher sehr schwer gemacht wurde, sich mit den Arbeiten von Prof. Rabinowitch vertraut zu machen. Keines seiner Bücher ist von einem deutschen Großverlag übersetzt und veröffentlicht worden, selbst Rezensionen in der Fachwelt finden sich kaum.

Der Mehring Verlag freut sich, dieses Tabu brechen und dem deutschen Publikum die Gelegenheit bieten zu können, Prof. Alexander Rabinowitch persönlich zu hören und mit ihm zu diskutieren. Er spricht auf mehreren Veranstaltungen in Berlin, präsentiert die Ergebnisse seiner jüngsten Forschung, beantwortet Fragen und stellt sich den Argumenten seiner Kritiker.

Veranstaltungen mit Professor Alexander Rabinowitch

Zu den drei Veranstaltungen von und mit Professor Rabinowitch ist jeder eingeladen, der wissen will, „wie es eigentlich war“; jeder, der interessiert ist an den großen sozialen Umwälzungen und politischen Debatten der Oktoberrevolution, aber auch an ihrer anschließenden Isolation, an dem damit verbundenen tragischen politischen Niedergang und dem Aufstieg des stalinistischen Terrors, der 70 Jahre später zur vollständigen kapitalistischen Restauration führen sollte.

14. Oktober 2010 Vorlesung in der Humboldt-Universität zu Berlin
Hörsaal 7 Invalidenstraße 42 (neben Naturkundemuseum)
Beginn: 19:00 Uhr

15. Oktober 2010 Buchpräsentation
Unibuch Mitte, Spandauer Straße 2
Beginn: 20:00 Uhr

16. Oktober 2010 Seminar in der Technischen Universität Berlin
(Anmeldung erforderlich)
Straße des 17. Juni 135

Beginn: 14:00 Uhr 

 

 

siehe auch:

Neu im Mehring Verlag: „Die Sowjetmacht. Das erste Jahr“

Die Website zum Besuch von Rabinowitch

Loading