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Historische Grundlagen der Partei für Soziale Gleichheit

Die „Historischen Grundlagen der Partei für Soziale Gleichheit“ sind nun auch in Buchform erhältlich. Das umfangreiche Dokument, das im Mai vom Parteitag der PSG verabschiedet wurde, war bisher nur in digitaler Form auf der WSWS erschienen. Wir veröffentlichen hier das Vorwort der Buchausgabe.

 

Historische Grundlagen der Partei für Soziale Gleichheit

Vorwort

Die „Historischen Grundlagen der Partei für Soziale Gleichheit“ wurden am 23. Mai 2010 nach mehrmonatiger Diskussion auf einem Parteitag in Berlin verabschiedet. Im Gegensatz zu allen anderen Parteien legt die PSG großen Wert auf ein durchdachtes Verständnis der Geschichte. Dies gilt insbesondere für die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts.

Die Welt hat sich in den letzten hundert Jahren zwar stark verändert. Die Weltbevölkerung hat sich vervierfacht, Wissenschaft und Technik haben große Fortschritte erzielt und dank Flugzeug und Internet ist die Welt kleiner geworden. Doch die gesellschaftlichen Widersprüche sind dieselben geblieben, sie haben sich sogar vertieft. Die moderne Produktion, die Menschen auf der ganzen Welt zu einem gesellschaftlichen Ganzen verbindet, lässt sich nicht mit dem archaischen kapitalistischen Gesellschaftssystem versöhnen, das auf privatem Eigentum an den Produktionsmitteln und konkurrierenden Nationalstaaten beruht.

Spätestens seit der Zusammenbruch der US-Bank Lehman Brothers am 15. September 2008 die größte Finanz- und Wirtschaftskrise seit den 1930er Jahren auslöste, gibt es keinen Zweifel mehr, dass das kapitalistische System auch im 21. Jahrhundert nicht vor jenen Krisen gefeit ist, die es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in zwei Weltkriege, nicht endende wirtschaftliche Katastrophen und revolutionäre Klassenkämpfe stürzten. Alle historischen Gebrechen des Kapitalismus kehren zurück – Massenarbeitslosigkeit, Ausbeutung zu Hungerlöhnen, schreiende soziale Ungleichheit, Krieg, Chauvinismus und Rassismus. Dazu kommt die drohende Vernichtung der natürlichen Lebensgrundlagen durch die Zerstörung der Umwelt.

Milliarden Menschen stehen vor der Notwendigkeit, das bestehende Gesellschaftssystem durch ein vernünftigeres zu ersetzen, das die Ressourcen der Weltwirtschaft der Kontrolle privater Profiteure und irrwitziger Spekulanten entreißt und in geplanter, demokratischer Weise zum Wohle der gesamten Menschheit einsetzt. Diese Aufgabe kann nicht gelöst werden, ohne die Lehren aus den historischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts zu ziehen.

Dessen bedeutendstes Ereignis war die Oktoberrevolution von 1917. In Russland übernahm erstmals in einem Land die Arbeiterklasse die Macht und stellte alle verfügbaren Mittel in den Dienst des sozialistischen Aufbaus. Die Sowjetunion scheiterte, weil sie international isoliert blieb, unter der Herrschaft der stalinistischen Bürokratie entartete und schließlich von dieser liquidiert wurde. Doch das mindert nicht die Bedeutung der Oktoberrevolution. Ihr Scheitern war nicht unvermeidlich. Es erfolgte im Kampf lebendiger gesellschaftlicher und politischer Kräfte. Ohne diesen Kampf zu verstehen – die Ursachen und Folgen des Stalinismus, die Richtungskämpfe in der internationalen Arbeiterbewegung und vor allem die Bedeutung der trotzkistischen Linken Opposition, die in allen entscheidenden Frage eine Alternative zum Stalinismus aufzeigte – ist es nicht möglich, das Scheitern der Sowjetunion zu begreifen, geschweige denn eine Perspektive für die Zukunft zu entwickeln.

Eben das leistet das vorliegende Dokument. Es fasst in konzentrierter Form die historischen Erfahrungen der Arbeiterbewegung im 20. Jahrhundert zusammen. Es legt den Schwerpunkt auf Deutschland und ergänzt damit die „Historischen und internationalen Grundlagen der Socialist Equality Party (USA)“, die sich ausführlicher mit internationalen und amerikanischen Fragen befassen.

Beginnend mit den Ursprüngen der SPD, die sich unter dem Einfluss des Marxismus zur weltweit ersten Massenpartei der Arbeiterklasse entwickelte, untersuchen die „Historischen Grundlagen der PSG“ das Anwachsen des Opportunismus in den Reihen der Sozialdemokratie und dessen katastrophale Folgen: Am 4. August 1914 stimmte die Reichstagsfraktion der SPD den Kriegskrediten für den Ersten Weltkrieg zu und unterstützte damit das imperialistische Gemetzel, das rund 17 Millionen Menschenleben fordern sollte. Dieser historische Verrat an den eigenen Grundsätzen besiegelte das Ende der Zweiten Internationale und spaltete die Arbeiterbewegung in einen bürgerlich-reformistischen und einen revolutionären Flügel.

Die folgenden Kapitel befassen sich mit den Herausforderungen und Schwierigkeiten, die mit der Herausbildung einer revolutionären marxistischen Strömung in der deutschen Arbeiterbewegung verbunden waren – mit Rosa Luxemburgs Kampf gegen den Opportunismus innerhalb der SPD, mit den Ursprungsjahren der KPD, mit deren Degeneration unter dem Einfluss des Stalinismus, mit dem Aufbau der trotzkistischen Linken Opposition und der Gründung der Vierten Internationale. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf die Rolle zentristischer Parteien gelegt, die auf halbem Wege zwischen Reformismus und revolutionärem Marxismus stehen blieben. Auch wenn die Lebensdauer solcher Parteien (wie der USPD und der SAP) meist kurz war, trugen sie doch maßgeblich dazu bei, die Arbeiterklasse an entscheidenden historischen Wendepunkten zu lähmen. Die Entwicklung einer revolutionären marxistischen Strömung erfolgte in der Auseinandersetzung mit dem Zentrismus und auf dessen Kosten.

Zwei Kapitel beschäftigen sich mit dem Nationalsozialismus und den Ursachen für Hitlers Machtübernahme. Der Nationalsozialismus brachte „die reaktionärsten und brutalsten Tendenzen des deutschen Kapitalismus“ zum Ausdruck. Er unterschied sich von anderen rechten Parteien durch seine Fähigkeit, „die Verzweiflung des ruinierten Kleinbürgertums und die Wut des Lumpenproletariats zum Rammbock gegen die organisierte Arbeiterbewegung zu machen“. Während Hitler in bürgerlichen und kleinbürgerlichen Kreisen Unterstützung fand und kaum auf Widerstand stieß, waren Millionen von Arbeitern entschlossen, seine Machtübernahme zu verhindern. Sie scheiterten, weil ihre Führer versagten. Sowohl SPD wie KPD lehnten einen gemeinsamen Kampf gegen Hitler ab und schwächten so die Arbeiterklasse. Nur die trotzkistische Linke Opposition befürwortete damals eine Einheitsfront, die die Arbeiter hätte vereinen und den Boykott ihrer Führer durchbrechen können.

Die Kommunistische Internationale weigerte sich, aus der deutschen Katastrophe und den Fehlern der KPD irgendwelche Lehren zu ziehen. Trotzki zog daraus den Schluss, dass sie als revolutionäre Organisation tot und nicht wiederzubeleben sei. Er setzte sich für die Gründung einer neuen Internationale ein, um die Krise der proletarischen Führung zu lösen. „Ohne eine sozialistische Revolution, und zwar in der nächsten geschichtlichen Periode, droht der gesamten menschlichen Kultur eine Katastrophe. Alles hängt nunmehr vom Proletariat ab, das heißt vor allem von seiner revolutionären Vorhut. Die geschichtliche Krise der Menschheit läuft auf die Krise der revolutionären Führung hinaus“, schrieb er 1938 im Gründungsprogramm der Vierten Internationale.

In der zweiten Hälfte befassen sich die „Historischen Grundlagen“ mit den komplexen Aufgaben, denen die Vierte Internationale nach dem Zweiten Weltkrieg gegenüberstand.

Auf den Trümmern des Weltkriegs gelang es dem Weltkapitalismus ein neues Gleichgewicht zu finden. Er verdankte dies dem Stalinismus, der sich weltweit jeder revolutionären Regung entgegenstellte, und der wirtschaftlichen Macht der USA. Die Stabilisierung des Kapitalismus ging mit einer Stärkung der politischen Organisationen einher, die eine Lösung der sozialen Probleme im Rahmen der bestehenden Verhältnisse versprachen. In Osteuropa erweiterte die stalinistische Bürokratie ihren Herrschaftsbereich, in den führenden Industrieländern gewannen reformistische Parteien und Gewerkschaften wieder an Boden, und in den Kolonien dominierten bürgerlich-nationalistische Bewegungen den antiimperialistischen Befreiungskampf.

Die Vierte Internationale geriet unter starken Druck. In ihren Reihen mehrten sich Stimmen, die die vorübergehende Stabilisierung des Kapitalismus für dauerhaft hielten, das Programm der sozialistischen Weltrevolution infrage stellten und für eine Anpassung an die stalinistischen, reformistischen und nationalistischen Bürokratien eintraten. 1953 schlossen sich die revolutionären Marxisten im Internationalen Komitee zusammen, um das Programm der Vierten Internationale gegen diese revisionistischen Strömungen zu verteidigen, an deren Spitze anfangs Michel Pablo und später Ernest Mandel stand.

Der Kampf gegen den pablistischen Revisionismus zog sich über mehrere Jahrzehnte hin. Das vorliegende Buch fasst die wichtigsten Etappen dieser Auseinandersetzung zusammen und erläutert die politischen und theoretischen Fragen, die dabei im Mittelpunkt standen. Es geht auch ausführlich auf die Geschichte des Bunds Sozialistischer Arbeiter ein, der 1971 als deutsche Sektion des Internationalen Komitees gegründet wurde, nachdem die Anhänger Pablos die ursprüngliche deutsche Sektion Anfang der 1950er Jahre aufgelöst hatten. 1997 ging aus dem BSA dann die Partei für Soziale Gleichheit hervor.

Als der BSA 1971 entstand, befand sich der Klassenkampf weltweit im Aufschwung, doch die Marxisten waren selbst innerhalb des Internationalen Komitees in der Defensive. Das gestaltete die Wiederaufnahme der historischen Kontinuität des Marxismus in Deutschland äußerst schwierig. Der entscheidende Wendepunkt erfolgte 1985, als das Internationale Komitee mit der britischen Workers Revolutionary Party brach, die in den vorangegangenen Jahren eine ähnliche opportunistische Degeneration durchgemacht hatte, wie zuvor die Pablisten. In der Auseinandersetzung mit der WRP erneuerte das Internationale Komitee das gesamte historische und theoretische Erbe der Vierten Internationale. Das bereitete es auf die politischen Veränderungen vor, die wenige Jahre später mit dem Zusammenbruch der DDR und der Sowjetunion eintraten.

Während die Pablisten ihre Anpassung an die bürokratischen Apparate zur letzten Konsequenz trieben, indem sie Gorbatschow unterstützten, in die poststalinistischen Parteien eintraten, mit den gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Apparate verschmolzen und in Brasilien und Italien sogar bürgerlichen Regierungen beitraten, ging das Internationale Komitee den umgekehrten Weg. Es sah voraus, dass die Restauration des Kapitalismus in Osteuropa, der Sowjetunion und China, so verheerend ihre unmittelbaren Auswirkungen für die Arbeiterklasse waren, keine neue, triumphale Periode kapitalistischen Aufstiegs, sondern eine neue blutige Epoche von Kriegen und Revolutionen einleiten werde. Die alten reformistischen Parteien und Gewerkschaften sowie ihre kleinbürgerlichen Unterstützer würden sich dabei unweigerlich gegen die Arbeiterklasse stellen, die Frage einer neuen Führung würde umso dringender im Raum stehen.

Der Zusammenbruch der Sowjetunion betätigte die Perspektive Trotzkis, der bereits in den 1930er Jahren gewarnt hatte, dass die Bürokratie die neuen Eigentumsformen zerschlagen und das Land in den Kapitalismus zurückführen werde, wenn sie nicht von der Arbeiterklasse gestürzt wird. Das Ende der Sowjetunion hatte aber nicht nur den Bankrott des nationalen Programms der Sowjetbürokratie unterstrichen, sondern das Scheitern sämtlicher nationaler Programme, einschließlich jener der reformistischen Parteien und Gewerkschaften. Unter den Bedingungen der Globalisierung war es nicht mehr möglich, die Klassengegensätze im Rahmen des Nationalstaats zu versöhnen.

Das Internationale Komitee zog daraus weitgehende Schlussfolgerungen. Es verwandelte seine Sektionen aus Bünden in Parteien und baute mit der World Socialist Web Site ein internationales Sprachrohr auf, das heute als authentische Stimme des Marxismus anerkannt ist und täglich Zehntausenden von Lesern auf der ganzen Welt eine politische Orientierung gibt.

Das vorliegende Dokument dient dazu, die historischen Erfahrungen der Arbeiterbewegung einer neuen Generation nahezubringen. Es richtet sich an Menschen, die nach einer tragfähigen Perspektive suchen und sich nicht mit einfachen Antworten und oberflächlichen Parolen zufriedengeben. Es ist kein Geschichtsbuch. Eine gründliche Darstellung der darin angesprochenen Fragen würde mehrere umfangreiche Bände füllen. Aber es liefert einen roten Faden. Es erklärt die historischen Zusammenhänge und regt zu weiterer Lektüre an.

Berlin, den 19. September 2010

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