Perspektive

Gorleben und die Grünen

Die Proteste gegen die Atompolitik der Bundesregierung und den Neubau des Stuttgarter Hauptbahnhofs werden systematisch genutzt, um die Wahlchancen der Grünen zu erhöhen.

Die Grünen selbst geben sich als Führung dieser Bewegungen aus. So behaupteten die Bundestagsfraktion und der Bundesvorstand in einer gemeinsamen Erklärung zu den Anti-Atomprotesten in Gorleben: „Wir vertreten diese Mehrheit gegen die Politik der Bundesregierung.“ Claudia Roth, Cem Özdemir, Jürgen Trittin und andere Führungsmitglieder der Grünen fuhren ins Wendland und ließen sich im Kreise der Demonstranten fotografieren.

Auch große Teile der Medien berichten äußerst wohlwollend über die Proteste und heben dabei die Rolle der Grünen hervor. Selbst die Gewerkschaft der Polizei macht die Bundesregierung für die tagelangen Blockaden und Auseinandersetzungen im Wendland verantwortlich, und nicht wie sonst üblich die Demonstranten selbst und die Grünen.

Die Proteste und die entgegenkommende Berichterstattung darüber haben die Umfragewerte der Grünen in die Höhe schnellen lassen. Bundesweit erreichen sie den Rekordwert von zwanzig Prozent. In zwei der sechs Bundesländer, in denen nächstes Jahr Landtagswahlen anstehen – in Berlin und Baden-Württemberg –, wird ihnen sogar eine reale Chance eingeräumt, den Ministerpräsidenten zu stellen.

Fünf Jahre nach dem Scheitern der rot-grünen Bundesregierung werden die Grünen wieder gebraucht. Der Grund dafür ist nicht schwer zu verstehen. Die herrschende Elite benötigt sie, um die wachsende gesellschaftliche Opposition unter Kontrolle zu halten.

Schon vor zehn Jahren hatten die Grünen dafür gesorgt, dass die jährlich wiederkehrenden Proteste und Blockaden der Atommülltransporte nach Gorleben aufhörten. Der grüne Umweltminister Jürgen Trittin vereinbarte damals mit den Energiekonzernen einen so genannten Atomkonsens, der zwar langfristig den Ausstieg aus der Atomenergie vorsah, kurzfristig aber den bestehenden Atomkraftwerken eine durchschnittliche Regellaufzeit von 32 Jahren garantierte. Die Atommeiler konnten so ungestört weiter laufen – wobei beide Seiten schon damals wussten, dass der Atomkonsens beim nächsten Regierungswechsel wieder aufgehoben wird, wie es nun auch geschehen ist.

Bestandteil des Atomkonsens’ war damals die Wiederaufnahme der umstrittenen Atommülltransporte nach Gorleben. Angela Merkel, Trittins Vorgängerin im Umweltministerium, hatte diese Transporte 1998 wegen erhöhter Strahlenwerte an den Castor-Behältern gestoppt. Als sich Widerstand gegen die Wiederaufnahme der Transporte erhob und die niedersächsischen Grünen sich daran beteiligten, erhielten sie einen geharnischten Brief von Trittin. „Wollen wir glaubhaft bleiben, müssen wir zu den Konsequenzen unserer Politik stehen“, mahnte Trittin. „Die Voraussetzungen für die Durchführung der Transporte sind gegeben. Und deshalb gibt es für Grüne keinen Grund, gegen diese Transporte zu demonstrieren.“

Die Aufgabe der Grünen in der Bundesregierung beschränkte sich nicht darauf, die Anti-Atom-Proteste zum Erliegen zu bringen. Gegen erheblichen Widerstand in den eigenen Reihen ebneten sie auch den Weg für Auslandseinsätze der Bundeswehr und beschlossen gemeinsam mit der SPD die Agenda 2010, den umfassendsten Sozialabbau seit Bestehen der Bundesrepublik.

Die jüngsten Bilder aus Gorleben erinnern stark an die Bilder der 1990er Jahre, vor dem Regierungseintritt der Grünen. Doch die politischen und sozialen Umstände haben sich seither stark verändert. Europa steckt in der schwersten Wirtschaftskrise seit den 1930er Jahren. Überall werden die Kosten der Krise auf die Masse der Bevölkerung abgewälzt.

In Griechenland, Spanien und Frankreich haben sich dagegen mächtige Streiks und Proteste entwickelt. In Deutschland ist es der Regierung dagegen bisher gelungen, eine vergleichbare soziale Bewegung zu unterdrücken. Sie verdankt das in erster Linie der Unterstützung der Gewerkschaften, die jahrelang Lohnzurückhaltung geübt, den Aufbau eines Niedriglohnsektors mitgetragen und die Spardiktate der Bundesregierung in der Europäischen Union unterstützt haben.

Trotzdem befindet sich die Regierung Merkel in der Krise. Grund ist das Auseinanderdriften der Mittelschichten, auf die sich Union und FDP traditionell stützen. Die Proteste in Stuttgart und Gorleben sind selbst Ausdruck dieses Aufbrechens der Mittelschichten. Sozial heterogen und politisch konfus, bringen sie deren Unbehagen gegenüber den großen Konzernen und Banken und ihren politischen Handlangern zum Ausdruck.

Hier setzt die Aufgabe der Grünen ein. Sie sollen verhindern, dass die Proteste in Stuttgart und Gorleben zum Auslöser einer breiteren sozialen Bewegung werden. Ihr Hauptvorwurf gegen Merkel und Westerwelle lautet, sie hätten „einen befriedeten Konflikt der bundesdeutschen Gesellschaft mutwillig wiederbelebt“. Während sie die unmittelbaren Anliegen der Protestierenden aufgreifen, lehnen sie es kategorisch ab, diese mit weiter reichenden sozialen Fragen zu verbinden. Obwohl hinter der Arroganz der Bahn- und der Atomlobby und hinter dem Sparprogramm der Bundesregierung dieselben Kapitalinteressen stehen, weigern sich die Grünen strikt, der Bewegung eine antikapitalistische Stoßrichtung zu geben.

Seit ihrem Ausscheiden aus der Bundesregierung sind sie sogar noch näher an die Wirtschaft heran gerückt. In einer Umfrage des Handelsblatts unter 800 wirtschaftlichen Führungskräften schnitten die Grünen von allen Parteien am besten ab. Vor allem Manager von Großunternehmen mit mehr als 5.000 Beschäftigten erteilten ihnen gute Noten.

Auch ihre Opposition gegen die Atompolitik der Regierung begründen die Grünen mit den Bedürfnissen der Wirtschaft. Die Verlängerung der Laufzeiten mache „das Geschäft mit den erneuerbaren Energien in Deutschland kaputt“, heißt es in der gemeinsamen Erklärung von Bundestagsfraktion und Bundesvorstand.

Während die Sorge um Gesundheit und Umwelt sowie die Wut über die Nachgiebigkeit der Bundesregierung gegenüber der Atomlobby Tausende auf die Straße treibt, nutzen die Grünen und ihre Förderer in Wirtschaft und Medien die Proteste zynisch, um eine alternative Regierung vorzubereiten, die sich von der zerstrittenen schwarz-gelben Koalition nur in einem unterscheidet: Dass sie die Interessen der Wirtschaft geradliniger und reibungsloser durchsetzt.

Unter den Bedingungen der weltweiten kapitalistischen Krise kann der Schutz der Umwelt ebenso wie die Verteidigung demokratischer Rechte, sozialer Errungenschaften und anderer gesellschaftlicher Anliegen nur noch im Rahmen eines sozialistischen Programms gewährleistet werden, das das Übel an der Wurzel angreift: der Unterordnung des gesamten Wirtschaftslebens unter die Profitinteressen der Banken und Konzerne.

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