Eine Einschätzung Leo Trotzkis siebzig Jahre nach seiner Ermordung

Bericht vor der jährlichen Versammlung der Vereinigung für slawische, osteuropäische und eurasische Studien

Gegenstand dieses Forums ist ein Mann, dessen Persönlichkeit sogar siebzig Jahre nach seiner Ermordung durch einen stalinistischen Agenten noch höchste Aktualität genießt. Trotzki war einer der Titanen des politischen und intellektuellen Lebens des zwanzigsten Jahrhunderts. Trotzdem wird nach wie vor versucht, ihn in den Schmutz zu ziehen, seine theoretischen Arbeiten zu verdrehen und sein Leben falsch darzustellen. Der Trotzkismus bleibt im einundzwanzigsten Jahrhundert so ketzerisch wie Spinozas Denken im achtzehnten Jahrhundert. In der Tat hat sich die Feindseligkeit gegenüber Trotzki in den vergangenen Jahren verschärft und besonders bösartige Züge angenommen. Wir sind, das muss festgestellt werden, weit von den Zeiten entfernt, in denen prinzipientreue liberale Gegner Trotzkis sein Werk mit großem Interesse und sogar mit Bewunderung lasen. In den Dreißiger Jahren, als der Liberalismus sich noch ein gewisses Maß intellektueller Integrität erhalten hatte und ehrlich an seine demokratischen Ideale glaubte, war es für einen Mann wie John Dewey (natürlich nicht für die liberalen Trittbrettfahrer des Sowjetregimes wie die Verleger der „Nation“) möglich, anderer Meinung als Trotzki zu sein und dennoch sein Genie, seinen Mut und seine Aufrichtigkeit anzuerkennen. Nicht nur das. Dewey fühlte sich – auf Grund seiner Prinzipen – verpflichtet, Trotzki in die Lage zu versetzen, sich gegen die Vorwürfe der Stalinisten zu verteidigen.

Später, in den 1950er, 1960er und 1970er Jahren versuchte eine neue Generation von Historikern, objektiv und ehrlich mit der Oktoberrevolution und ihren größten Figuren, einschließlich Leo Trotzki, umzugehen. Alexander Rabinowitch stellte aufgrund seiner akribischen Archiv-Studien die entscheidende Rolle klar, die Trotzki in der Ausarbeitung der Strategie der Oktobererhebung und ihrer taktischen Ausführung gespielt hatte. Richard B. Day untersuchte das wirtschaftliche Gedankengut der Linken Opposition. Baruch Knei-Paz brachte eine ins Detail gehende Untersuchung von Trotzkis politischem und gesellschaftlichem Denken heraus. Wie sich herausstellte, markierte die Veröffentlichung von Knei-Paz‘ Studien 1978 den Höhepunkt wissenschaftlicher akademischer Werke über Leo Trotzki – mit Ausnahme der Bemühungen von Pierre Broué, der nicht nur ein herausragender Historiker, sondern auch Trotzkist war.

In den vergangenen zwanzig Jahren sind wir Zeugen einer anti-intellektuellen Konterrevolution auf dem Feld sowjetischer Studien im Allgemeinen und von Trotzki-Studien im Besonderen geworden. Der ursprüngliche Auslöser dieser Reaktion ist nicht schwer auszumachen. Der Zerfall der Sowjetunion demoralisierte breite Schichten der liberalen Intelligenz in den Vereinigten Staaten und in Westeuropa. Ungeachtet ihrer persönlichen politischen Überzeugungen, waren alle Historiker, die sich ernsthaft mit der Russischen Revolution befassten, von dem Glauben beseelt, dass der Oktober 1917 einen gewaltigen Wendepunkt in der Weltgeschichte markierte. Die Ursachen, das Ereignis selbst, seine Folgen und diejenigen, die in diesem historischen Drama eine entscheidende Rolle spielten, mussten gewissenhaft studiert werden. Der Zusammenbruch von 1991 schien diese grundsätzliche Überzeugung außer Kraft zu setzen. Die Ära bürgerlicher Triumphgesänge und ihres Barden Francis Fukuyama war eingeläutet, mit freundlicher Genehmigung der RAND Corporation. Die Oktoberrevolution, so hieß es jetzt, war nicht nur ein politisches Verbrechen. Sie war ein Fehler, und ein sinnloser dazu!

Die bloße Vorstellung, dass die Oktoberrevolution auch nur die Möglichkeit einer historischen Alternative zum Kapitalismus dargestellt hätte, wurde vehement zurückgewiesen.

Diese Argumentation hatte einen erheblichen Einfluss auf die Intellektuellen, deren Vertrauen in den menschlichen Fortschritt bereits vor der Auflösung der Sowjetunion untergraben war, nicht nur durch das Geschwafel der Reagan-Jahre, sondern auch durch den Subjektivismus und den Irrationalismus der Frankfurter Schule und des Postmodernismus. Doch alle Anstrengungen, die wahre Bedeutung und die historische Berechtigung des Oktobers 1917 zu bestreiten, stützten sich von Anbeginn an auf sehr wacklige historische und intellektuelle Grundlagen. Schließlich hatte der sowjetische Staat, der aus der Revolution hervorgegangen war, nicht nur – wie die Pariser Kommune - 71 Tage lang überlebt, sondern 73 Jahre. Im Verlauf ihres Bestehens hatte die Sowjetunion eine außerordentliche industrielle Wandlung durchgemacht, Nazideutschland im Krieg besiegt, den Lebensstandard und das kulturelle Niveau des eigenen Volkes drastisch angehoben, bemerkenswerte Fortschritte auf dem Gebiet der Kultur erzielt und weltweit immensen Einfluss gewonnen. Mehr noch – die Behauptung, dass das Endergebnis des Dezembers 1991 das unvermeidliche Produkt des Oktobers 1917 war, verlangte von den Historikern, die Alternativen zum Kurs der Entwicklung der Sowjetunion unter Stalin und seinen Nachfolgern entweder kleinzureden oder zu ignorieren. Diese Alternativen hatten nicht nur in der Vorstellung einiger Weniger existiert, sondern sie waren tatsächlich programmatisch formuliert und es war für sie gekämpft worden. Ein besonders zynisches Beispiel dieser Haltung findet sich in den Schriften des britischen Historikers Eric Hobsbawm, einem langjährigen Mitglied der stalinistischen Kommunistischen Partei Großbritanniens, der Stalins Herrschaft als „einzig mögliche Spielart“ rechtfertigte.

Ironischerweise spiegelt die Behauptung von Anti-Marxisten, dass sich das Endergebnis der sowjetischen Geschichte unweigerlich aus der Revolution von 1917 ergeben habe – dass die politische und wirtschaftliche Strategie, die von den frühen Tagen des Kriegskommunismus und der NEP über die Kollektivierung, die Liberman-Reformen und Gorbatschows Perestroika den einzig vorstellbaren Pfad der Entwicklung darstellten - die Argumente des stalinistischen Regimes wider, das seine Irrtümer zu kaschieren versuchte, indem es bürokratische Willkür zu einem Ausdruck „historischer Notwendigkeit“ erklärte. Diese Pervertierung einer echten materialistischen und dialektischen Konzeption des marxistischen Determinismus durch Stalin wurde 1990 auf kompetente Weise von Professor Day in seiner scharfsinnigen Zurückweisung der „Erpressung mittels der einzigen Alternative“ entlarvt.[1] Days Aufsatz wurde am Vorabend des endgültigen Bankrotts von Gorbatschows Perestroika, der Auflösung der UdSSR durch die stalinistische Bürokratie und der Wiedererrichtung des Kapitalismus geschrieben.

Day bemerkt richtig: “Als Stalin den ‘Leninismus’ Mitte der zwanziger Jahre heiligsprach, klammerte er aus Lenins Gedankengebäude jegliche Differenziertheit aus und brachte darin jede denkbare Rechtfertigung für die autoritäre Organisation des politischen und wirtschaftlichen Lebens unter.“[2] Bedeutsamerweise verknüpfte Day seinen Widerspruch gegen die „Erpressung mittels der einzigen Alternative“ mit einer Untersuchung der von Trotzki gebotenen Alternative. Dabei betonte Day die Verbindung zwischen Trotzkis philosophischen Vorstellungen und seinem programmatischen Widerstand gegen die nationalistische Linie des Sozialismus in einem Lande und erklärte:

Trotzki sah historische Widersprüche als den Grundstoff gesellschaftlicher Politik. Der hegelschen und marxistischen Verpflichtung zur Universalität folgend, glaubte er auch, dass die Widersprüche innerhalb der Gesamtheit der Weltwirtschaft verstanden werden mussten, von der der Kapitalismus und der Sozialismus nun „Teile“ waren. Mit der Entstehung des Weltmarktes konnte der Nationalstaat – ob kapitalistisch oder sozialistisch – nicht länger als „unabhängiger wirtschaftlicher Schauplatz“ existieren. Die weltweite Arbeitsteilung wurde „nicht durch die Tatsache aufgehoben, dass ein sozialistisches System in einem und ein kapitalistisches System in einem anderen Land gesiegt hatte.“ [3]

In einem Umfeld, das durch die post-sowjetischen kapitalistischen Triumphgesänge geprägt war, waren wenige Historiker darauf vorbereitet, in der von Day vorgeschlagenen Richtung zu arbeiten und die Alternativen zum Stalinismus systematisch zu untersuchen. Die eine große Ausnahme von dem vorherrschenden Muster intellektueller Kniefälle vor der Wucht der politischen und ideologischen Reaktion waren die Arbeiten des Historikers und Soziologen Wadim Rogowin in Russland, der dem ersten Band seiner siebenbändigen Geschichte der trotzkistischen Opposition gegen den Stalinismus zwischen 1923 und 1940 den Titel „Gab es eine Alternative?“ gab.

Der erneute Angriff auf Trotzkis historischen Ruf in den 1990ern erwuchs aus dem Bedürfnis bürgerlicher Ideologen zu behaupten, der Pfad stalinistischer Diktatur sei der einzige gewesen, der in der UdSSR hätte eingeschlagen werden können. Trotzkis bloße Existenz als revolutionärer Gegner des Regimes – und darüber hinaus eines Gegners, der eine gewaltige Bedrohung der stalinistischen Bürokratie darstellte – musste abgestritten werden. So verlangten diese Angriffe aufgrund ihres Charakters und ihrer Absicht das Wiederaufleben der Fälschungsmethoden und sogar derselben Lügen, die das stalinistische Regime in seinem unbarmherzigen Kreuzzug gegen Trotzki benutzt hatte. Alle Fakten, die von den Historikern in den vergangenen vierzig Jahren über das Leben und Wirken Leo Trotzkis zusammengetragen worden waren (seit der Veröffentlichung des ersten Bandes von Deutschers Biografie in den 1950ern) mussten – um den Lieblingsbegriff der Verfälscher zu verwenden – „in Frage gestellt werden“.

Dies war die erklärte Absicht des sogenannten Journals für Trotzki-Studien, das in den frühen 1990er Jahren an der Universität von Glasgow ins Leben gerufen wurde. Professor Ian Thatcher gehörte zu seinen Mitbegründern. Dem Journal war keine lange Lebensdauer vergönnt. Nur vier Ausgaben wurden veröffentlicht. Aber das Journal entwickelte die Fälschungsmethode, die allen Anti-Trotzki-Werken, die in den nächsten eineinhalb Jahrzehnten geschrieben werden sollten, als Leitschnur diente. Die wichtigsten Bestandteile des modus operandi waren: 1. Die Behauptung, dass es sich bei längst anerkannten Tatsachen über Trotzkis Leben – seine führende Rolle bei der Oktobererhebung 1917, seine entscheidende Rolle als Begründer und Befehlshaber der Roten Armee, sein Internationalismus, seine kompromisslose Gegnerschaft zum Stalinismus – „Mythen“ waren und dass die Zeit reif war, sie zu enthüllen; 2. Behauptungen, dass Trotzkis Schriften, einschließlich solcher literarischer Meisterwerke wie seine Autobiografie und seine monumentale „Geschichte der Russischen Revolution“ unzuverlässig seien; und 3. Verunglimpfungen von Trotzkis intellektueller, politischer und moralischer Integrität.

Die wirtschaftlichen Krisen und das wachsende geopolitische Ungleichgewicht im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts lieferten weitere Impulse für die Angriffe auf Trotzki. Während die Triumphgesänge der 1990er Jahre der Angst um die Zukunft des Kapitalismus wichen, erinnerten sich reaktionäre Akademiker voller Angst an den Einfluss, den Isaac Deutschers biografische Trilogie – Der Bewaffnete Prophet, Der Unbewaffnete Prophet, der Verstoßene Prophet – in den Sechzigern auf eine Generation politisch radikalisierter Jugendlicher gehabt hatte. Deutschers Biografie führte die Studenten auf die Spur noch gefährlicheren Materials – zu Trotzkis eigenen Schriften!

In ganz Europa, wie in Nord- und Südamerika gerieten zehntausende junger Menschen unter den gewaltigen Einfluss der Schriften dieses politischen und literarischen Genies. Bestand in einer Periode neuer und möglicherweise noch größerer Krise nicht die Gefahr, dieser Prozess könne sich wiederholen? Wie konnte das verhindert werden? Auf diese Weise erschienen in einem Zeitraum von sechs Jahren die Biografien der Professoren Swain, Thatcher und Service. Jede dieser Biografien begann mit einer expliziten Zurückweisung von Deutschers Werk. „Deutscher half in der Tat mit, den Trotzki-Mythos zu fördern“, erklärt Swain.[4] Thatcher schreibt über Deutschers Biografie hämisch, sie „lese sich wie eine Abenteuergeschichte für Jungen“ und beschwert sich, der Autor verlasse sich zu sehr auf Trotzkis eigene Schriften.[5] Service tut Deutscher als jemanden ab, der „an Trotzkis Altar betete“.[6] Diese Bücher wurden in der offensichtlichen Absicht geschrieben, die Leser gegen Trotzkis Einfluss zu impfen. Wie Swain ganz offen im zweiten Satz seines Buches schreibt: „Leser dieser Biografie werden nicht den Weg zum Trotzkismus finden“. [7]

Keiner dieser Autoren überstand diese Anti-Trotzki-Projekte mit unbeschadeter Integrität oder intaktem Ruf. Ich habe einen bedeutenden Teil der vergangenen drei Jahre damit zugebracht, die zahllosen Fälschungen und Unwahrheiten in diesen Büchern offenzulegen. Zeitweilig fühlte ich mich wie ein Anwalt, der nur einen Mandanten vertritt. Aber jegliche Hoffnung, dass mir bei der Aufgabe, Anti-Trotzki-Verleumdungen und Fälschungen zu widerlegen, eine Atempause gegönnt werde, scheint verfrüht. Im Oktober fuhr ich nach Deutschland, um in Berlin auf einer Versammlung zu sprechen, die aus Anlass des siebzigsten Jahrestages von Trotzkis Ermordung abgehalten wurde. Ich war gezwungen, einen beträchtlichen Teil meiner Bemerkungen auf eine Schmähschrift gegen Trotzki zu verwenden, die kürzlich von einem Mitglied der historischen Fakultät an der Humboldt-Universität verfasst worden war. Die Kampagne gegen Trotzki ist ganz offensichtlich keine rein anglo-amerikanische Angelegenheit.

Tatsächlich hat der russische Historiker Roy Medwedjew kürzlich einen weiteren Beitrag zur anti-trotzkistischen Literatur geliefert. Sein Name ist Studenten der sowjetischen Geschichte geläufig. Er begründete seinen internationalen Ruf mit der Veröffentlichung von „Lasst die Geschichte urteilen“. Die erste englischsprachige Ausgabe dieses Werkes wurde 1972 veröffentlicht. Die zweite überarbeitete Fassung erschien 1989. „Lasst die Geschichte urteilen“ wurde weithin als erster Versuch eines sowjetischen Historikers gesehen, die Verbrechen Stalins und des Stalinismus zu enthüllen. Medwedjews politische Einstellung war die eines gemäßigten Reformers. Seine Schriften waren an den Chruschtschow- und später den Gorbatschow-Flügel der Bürokratie gerichtet und spiegelten deren Ansichten wieder. Er war Trotzki gegenüber nie besonders wohlwollend. Trotzdem schrieb er in „Lasst die Geschichte urteilen“: „Insbesondere Leo Trotzkis Aktivitäten und sein tragisches Schicksal erfordern eine genaue und vorsichtig abgewogene politische und rechtliche Analyse.“[8]

Das wurde vor 21 Jahren geschrieben. In einem Aufsatz, der kürzlich als Einleitung zu einer neuen Trotzki-Biografie des ukrainisch-amerikanischen Gelehrten Georgiy Cherniavskii erschien, greift Medwedjew auf dieselben Fälschungen zurück, die er in „Lasst die Geschichte urteilen“ verurteilte. Es scheint, als hätten die Verleger sich verpflichtet gefühlt, Cherniavskiis positive Präsentation durch Medwedjews barsch negative und unaufrichtige Aussagen zu konterkarieren.

Es besteht ein erstaunlicher Gegensatz zwischen dem, was Medwedjew 1989 schrieb, und dem, was er 2010 schreibt. In „Lasst die Geschichte urteilen“ stellt Medwedjew fest:

Es ist allgemein bekannt, dass der Petrograder Sowjet bei der Organisation und Vorbereitung des Aufstandes eine Schlüsselrolle spielte und dass Trotzki ihn führte… Das Ergebnis des bewaffneten Aufstandes in Petrograd war der Übergang der Macht an die Sowjets. Die Provisorische Regierung wurde gestürzt. [9]

… Trotzkis Rolle in der praktischen Vorbereitung und Durchführung der Oktoberrevolution war außerordentlich wichtig, wie viele Berichte von direkten Beteiligten und Augenzeugen der Oktoberrevolution bestätigen. [10]

Aber was sagt Medwedjew heute?

Ja, Trotzki stand an der Spitze sowohl des Petrograder Sowjets, wie auch des militärischen Revolutionskomitees dieses Sowjets. Ein bewaffneter Aufstand wurde vorbereitet, aber er war überflüssig. Die Macht ging schnell und friedlich von der Provisorischen Regierung in die Hände des Sowjets über: die Roten Garden mussten nur den Moskauer Kreml mit Gewalt einnehmen. [11]

Um Trotzkis Bedeutung für die Oktoberrevolution zu schmälern, schafft Medwedjew auf diese Weise den Aufstand in Petrograd einfach ab. Wie man sieht, gab es für Trotzki am Vorabend des 24. und 25. Oktober nichts zu tun. Diese Version ist eine Variante der Haltung, die Ian Thatchers ehemaliger Kollege an der Glasgower Universität, Professor James White, einnimmt, der im Journal für Trotzki-Studien schrieb, der unbeholfene und glücklose Trotzki sei von seinen fähigeren Genossen wie Stalin im Smolny-Institut zurückgelassen worden, um dort Telefondienst zu machen.

Medwedjew schrieb 1989:

Es steht außer Frage, dass Trotzki eine entscheidende Rolle bei der Umwandlung der Roten Armee aus einem zusammengewürfelten Haufen von Guerilla- und Halbguerilla-Horden in eine weitgehend disziplinierte militärische Maschinerie spielte. Trotzki schaffte es, zehntausende ehemaliger zaristischer Offiziere zur Arbeit in der Armee zu organisieren, vom Unteroffizier bis hinauf zum General. Wenn es wahr ist, dass die Rote Armee den Bürgerkrieg nicht ohne Militärkommissare hätte gewinnen können, dann ist es auch wahr, dass sie das nicht ohne militärische Spezialisten geschafft hätte. [12]

Aber jetzt behauptet Medwedjew: “Trotzkis Namen als ‘Oberkommandierenden’ der Roten Armee überzubewerten, geschah in erster Linie zum Vorteil der Generäle der Weißen Garden.“[13]

In „Lasst die Geschichten urteilen“ erkannte Medwedjew an, dass Trotzkis Rolle in der Führung der bolschewistischen Partei gleich hinter der Lenins stand. Er schrieb:

1921 – 1922 wurde Trotzki als die zweitwichtigste Persönlichkeit in der bolschewistischen Führung angesehen. Bei vielen Demonstration und Treffen wurden Grüße zu Ehren der Genossen Lenin und Trotzki verkündet und Porträts der beiden hingen an den Wänden vieler Sowjet- und Parteieinrichtungen. Trotzkis Name erklang in Liedern und Militärmärschen. Diese Zeit war zweifellos der Höhepunkt von Trotzkis Karriere als revolutionärer und politischer Führer des sowjetischen Staates. Lenins Haltung gegenüber Trotzkis war zu dieser Zeit von nachdrücklichem Respekt geprägt, so wie die Trotzkis gegenüber Lenin. [14]

Aber Medwedjews Aufsatz von 2010 bietet eine vollkommen andere Einschätzung:

Tatsächlich hatte die bolschewistische Partei von 1917 keine „zweiten Führer“… Trotzki nannte sich selbst oft den zweiten (hinter Lenin) und war selber davon überzeugt. Dieser Glaube bildete die Grundlage für seinen Machtanspruch und seinen Anspruch auf Lenins Erbe, nachdem der Führer gestorben war.

Wie der große Paganini jedoch einmal bemerkte, gibt es viele “zweite”. Es ist deshalb angebrachter, nicht über einen „zweiten Führer“, sondern eine „zweite Garnitur“ von Führern zu sprechen, zu denen wir 1917 – 1920 nicht nur Leo Trotzki zählen, sondern auch Jakob Swerdlow, Josef Stalin, Lew Kamenjew, Grigorij Sinowjew, Felix Dserschinsky, wie auch Nikolai Bucharin und Nikolaj Krestinsky. [15]

Medwedjews Versuch, Trotzki zu demontieren ist, wie er nur allzu gut weiß, eine eklatante Verfälschung des historischen Sachverhalts. Jakob Swerdlow spielte in der organisatorischen Struktur der bolschewistischen Partei eine bedeutsame Rolle. Er war aber kein unabhängiger politischer Führer und schon gar kein Theoretiker. Was Stalin, Kamenjew und Sinowjew angeht, so sind ihre wechselhaften politischen Rollen im Jahre 1917 wohlbekannt. Alle drei widersetzten sich zu verschiedenen Zeitpunkten dem unabhängigen Kampf um die Macht der Arbeiterklasse. Im März 1917 nahmen sowohl Stalin und Kamenjew (wie auch Swerdlow) eine versöhnlerische Position gegenüber der bürgerlichen Provisorischen Regierung ein.

Im Oktober 1917 widersetzten sich Kamenjew und Sinowjew dem Aufstand. Dserschinski spielte in den frühen Jahren der Revolution eine wichtige Rolle als Führer der Tscheka, der Staatspolizei, die vom sowjetischen Regime zur Bekämpfung konterrevolutionärer Kräfte eingesetzt worden war. Bucharin war zweifellos ein bedeutender, wenn auch sprunghafter Führer. Aber weder Dserschinski noch Bucharin hatten als revolutionäre Führer auch nur annähernd Trotzkis Format. Was Krestinski angeht, eine zukünftiges Mitglied der Linken Opposition (und ein Opfer von Stalins Säuberungen), so wäre er der letzte gewesen, der Trotzkis Rolle als Mitführer der Oktoberrevolution verunglimpft hätte.

Bei seinen gegenwärtigen Bemühungen, Trotzkis Rolle im Jahr 1917 herunterzuspielen, schmälert Medwedjew die Bedeutung eines wohlbekannten Kommentars von Lenin:

Auf einer Sitzung des Petrograder Parteikomitees am 1. November 1917 nannte Lenin Trotzki “den besten Bolschewisten”. Aber dies war eine beabsichtigte Übertreibung, da Trotzki den Bolschewisten erst im Sommer 1917 beigetreten und auf dem sechsten Kongress der RSDLP (b) zum Mitglied gewählt worden war. [16]

In der Tat war diese Einschätzung nicht einfach aus dem Ärmel geschüttelt. Sie wurde von Lenin in einem bitteren auf Leben und Tod geführten Kampf gegen seine Widersacher innerhalb der Führung der bolschewistischen Partei gemacht, die von ihm verlangten, die Bildung einer Koalitionsregierung mit den Menschewisten zu akzeptieren. Das Schicksal der bolschewistischen Partei und der Revolution standen auf dem Spiel. Wie Alex Rabinowitch in seinem Buch „Die Bolschewisten an der Macht“ erzählt:

Auf dem Treffen des Petersburger Komitees warf Lenin, der offensichtlich mit mäßigem Erfolg versuchte, seine Haltung zu bewahren, den Vertretern des Zentralkomitees vor, dass ihr Verhalten bei den Wikschel-Treffen verräterisch gewesen sei. Der einzige Bolschewist, den er ausnahm und dem er Lob zollte, war Trotzki. „Trotzki hat vor langer Zeit erkannt, dass eine Vereinigung unmöglich ist, und seitdem hat es keinen besseren Bolschewiken gegeben.“[17]

In seinem Aufsatz über Trotzki in “Profile der Revolution” beschrieb der bolschewistische Kulturkommissar Anatol Lunatscharski Trotzki als den „zweiten großen Führer der Revolution“. In einem Versuch, Lenin und Trotzki miteinander zu vergleichen, würdigt Lunatscharski Lenin als einen revolutionären Politiker von „unfehlbarem Instinkt“, weniger anfällig dafür, von seinen Gefühlen davongetragen zu werden, nicht einmal für kurze Zeit. Lunatscharskis 1919 geschriebene Einschätzung enthielt die folgenden bedeutenden Einschränkungen:

Es wäre jedoch falsch zu behaupten, dass der zweite große Führer der Russischen Revolution seinem Kollegen in allem unterlegen war. Es gibt zum Beispiel Aspekte, in denen Trotzki ihn unanfechtbar übertrifft – er ist brillanter, klarer, aktiver. Lenin ist wie kein zweiter dazu geeignet, den Vorsitz im Rat der Volkskommissare einzunehmen und die Weltrevolution mit einem Hauch von Genie anzuführen, aber er hätte nie die Titanenmission gemeistert, die Trotzki auf seine Schultern nahm, mit seinen blitzartigen Bewegungen von Ort zu Ort, seinen erstaunlichen Reden, jenen Fanfaren von Ad-hoc-Befehlen, seiner Rolle als unablässiger Anheizer einer schwächelnden Armee, der sich heute hier und morgen da aufhält. Es gibt niemanden auf der Welt, der Trotzki in dieser Hinsicht hätte ersetzen können. [18]

Medwedjews Aufsatz, der sich verächtlich über historische Sachverhalte hinwegsetzt, strotzt nur so vor abfälligen Bemerkungen: „Trotzki tat sich als Volkskommissar für Außenpolitik wenig hervor“[19], „In den Dreißiger Jahren wurde Trotzkis Rolle von europäischen Regierungen aufgeblasen und übertrieben…“[20] „Niemand, weder früher noch heute, könnte auch nur in einem kleinen Pamphlet die „Grundlagen des Trotzkismus“ umreißen.“[21]

Solche Behauptungen belegen nur das Ausmaß von Medwedjews intellektuellem Verfall. Schlimmer aber noch ist – im Lichte seiner früheren Arbeiten – Medwedjews neue Einschätzung Stalins. Die größte Stärke in „Lasst die Geschichte urteilen!“ war die Verurteilung von Stalins Rolle in der sowjetischen Geschichte. Medwedjew erklärte, „Lasst die Geschichte urteilen“ sei teilweise deshalb geschrieben worden, „um sture Versuche, Stalin zu rehabilitieren, die seit 1969 anhielten“[22] zu beantworten. Er argumentierte gegen diejenigen in der sowjetischen Bürokratie, die auf die eine oder andere Weise versuchten, Stalins verbrecherische Taten herunterzuspielen. Medwedjew widersetzte sich der weit verbreiteten Behauptung, Stalins Handeln in den zwanziger Jahren sei korrekt gewesen und nur seine späteren Aktionen seien zu verurteilen. Stalin habe der Sache des Sozialismus in der Sowjetunion und international verheerenden Schaden zugefügt. Medwedjew erklärte, dass Stalin zwar marxistische Phrasen benutzt hätte, um sein Handeln zu rechtfertigen, er aber nie ein Marxist gewesen sei.

Aber heute bietet Medwedjew eine völlig andere Einschätzung Stalins, der, wie er schreibt…

Lenins Gesamtwerk viel besser als Trotzkis studierte, von dem Trotzki vieles nie las. Es war Stalin, der deshalb in der Lage war, Lenins theoretisches Erbe schnell und erfolgreich zum Konzept der „Grundlagen des Leninismus“ zusammenzufassen… Weder Trotzki, noch Bucharin, Kamenjew oder Sinowjew waren in der Lage, das zu tun, obwohl sie es versuchten. Sämtliche Versuche Trotzkis, sich auf Lenins theoretisches und politisches Erbe zu berufen, scheiterten und wurden ohne Probleme von Stalin zurückgewiesen. Aber ohne die Berufung auf Lenins Erbe hatte Trotzki keine Chance, Anerkennung zu finden und den Sieg davonzutragen. [23]

Auf diese Weise wird der Leser zu dem Schluss verleitet, dass Stalin das Erbe Lenins repräsentierte und dass das seinen Sieg über Trotzki erklärt. Medwedjew führt auch andere Gründe für Stalins Sieg an: „Was die Stärke des Charakters, den politischen Willen, die Ruchlosigkeit und viele andere Eigenschaften angeht, die im Kampf um die Macht notwendig sind, so übertraf Stalin Trotzki bei Weitem.“[24] Aber in „Lasst die Geschichte urteilen“ ließ Medwedjew sich verächtlich über diejenigen aus, die voller Bewunderung von Stalins „Willen“ sprachen:

Ein Meuchelmörder, der aus dem Hinterhalt schießt, braucht wohl kaum einen stärkeren Willen als sein Opfer. Ein Ehrenmann begeht nicht deshalb keine Verbrechen, weil es ihm an starkem Charakter fehlt; sein Charakter richtet sich ganz einfach auf andere Ziele. Viel zu oft nennen wir einen Menschen stark, der die akzeptierten Normen menschlicher Beziehungen und die Regeln ehrenhaften Kampfes verletzt; je mehr er diese Regeln missachtet, umso stärker und resoluter erscheint er den Menschen. In Wirklichkeit aber beweisen die meisten Verbrechen keine Willensstärke, sondern eine Schwäche moralischer Prinzipien. [25]

Wie erklärt sich Medwedjews schreckliche intellektuelle Degeneration? Er ist mit Sicherheit ein weiteres Opfer des Zusammenbruchs der UdSSR, was sein politisches und moralisches Gleichgewicht zerstört hat. Medwedjew ist zu einem glühenden Verehrer von Wladimir Putin geworden, den er mit Peter dem Großen vergleicht! Diese Desorientierung ist nicht einfach die Folge von Medwedjews persönlicher Schwäche. Ungeachtet seiner früheren Verurteilung des Stalinismus, schloss seine politische Opposition gegen den Trotzkismus die Möglichkeit aus, zu einer umfassenden Kritik des Sowjetregimes zu gelangen. Dessen Zusammenbruch überraschte ihn, und er driftete, wie so viele andere sowjetische Intellektuelle, in das reaktionäre Milieu des russischen Nationalismus und Chauvinismus. Dies hat ihn in Stalins Arme getrieben.

In seinen besseren Jahren schrieb Medwedjew, der Stalinismus könne rechtmäßig als “eine ernste und langwierige Erkrankung der sowjetischen Gesellschaft” beschrieben werden. Ein fruchtbarer und sinnvoller Einfall, der bei einer Untersuchung des Anti-Trotzkismus nützlich sein könnte. Die Beständigkeit, mit der über viele Jahrzehnte jeder Aspekt von Trotzkis Denken und seinen Aktivitäten verfälscht wird, enthält ein durchaus pathologisches Element. Aber die Ursache dieser Erkrankung ist nicht biologischer, sondern gesellschaftlicher Natur. Es ist eine Manifestation erheblicher Widersprüche innerhalb der Gesellschaft. In Zeiten wachsender Krisen flammt der Anti-Trotzkismus als ideologischer Verteidigungsmechanismus gegen die revolutionäre Kritik an der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung und gegen den zunehmenden Widerstand der Arbeiterklasse gegen die kapitalistische Unterdrückung auf.

Alexander Rabinowitch , einer der wenigen zeitgenössischen Historiker, der - obwohl kein Marxist - dennoch tief von der historischen Bedeutung des Oktobers 1917 überzeugt ist, stellte dies auf direktere und einfachere Art fest. Warum, fragte ich ihn kürzlich, dauerten die Angriffe auf Trotzki siebzig Jahre nach seinem Tod an. Seine Antwort: „Weil Trotzki noch immer eine Bedrohung darstellt.“ In der Tat – für all diejenigen, die die Ungerechtigkeit und Ungleichheit in der Welt verteidigen, tut er das mit Sicherheit.

Anmerkungen

[1]Siehe “The Blackmail of the Single Alternative: Bukharin, Trotsky and Perestrojka,” in Studies in Soviet Thought, Volume 40, No. 1/3, August-November 1990, pp. 159-188.

[2] Ibid, p. 163.

[3] Ibid, p. 170

[4] Trotsky (Longman, 2006), p. 1)

[5] Trotsky (Routledge, 2003), pp. 14-16

[6] Trotsky (Macmillan, 2009), p. xx1

[7] Swain, p. 1

[8] Let History Judge, (Columbia, 1989), p. 18.

[9] pp. 47-48.

[10] pp. 102.

[11] Roy Medvedev, “Predislovie” [Foreword], in: Georgii Cherniavskii, Lev Trotskii (Moskva: Molodaia Gvardiia, 2010), p. 9 (unpublished English translation from the Russian).

[12] Let History Judge, p. 104.

[13] Medvedev, “Predislovie”, p. 10.

[14] Let History Judge, p. 109.

[15] Medvedev, “Predislovie”, p. 8.

[16] Ibid.

[17] p. 33

[18] Penguin Press, 1967, p. 68.

[19] Medvedev, “Predislovie”, p. 9.

[20] Ibid, p. 10.

[21] Ibid.

[22] p. xiv

[23] Medvedev, “Predislovie”, p. 9.

[24] Ibid.

[25] p. 593

 

David North ist der Autor von Verteidigung Leo Trotzkis, einer kritischen Untersuchung von drei letztens erschienen Biographien Trotzkis.

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