Geheimnisvolle Rakete: Pentagon schließt übereilt Akte

Amerikanische Militärsprecher gaben am Mittwoch bekannt, das Pentagon sei „überzeugt“, dass der riesige Kondensstreifen, der am Montagabend vor der Küste Südkaliforniens zu sehen war, von einem Flugzeug stammte und nicht von dem geheimen Abschuss einer Rakete. Pentagon-Sprecher Oberst David Lapan sagte Reportern: „Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass es etwas anderes war als ein Flugzeug.“

Lapan gab zwar zu, es gebe keine eindeutigen Beweise dafür, dass der Kondensstreifen von einem Flugzeug verursacht worden sei, fügte aber dennoch hinzu: „Für uns ist der Fall abgeschlossen.“ Das Militär bestreitet, dass eins seiner Flugzeuge damit zu tun hatte, und auch kein ziviles Flugzeug konnte als Verursacher ausgemacht werden.

Das Ganze ist eine negative Schlussfolgerung, die sich auf die Angaben mehrerer Regierungsorganisationen stützt, die in der Lage sind, eine Rakete zu starten. Diese erklären, sie hätten in dem Zeitraum, als der Kondensstreifen beobachtet und vom Verkehrsüberwachungshubschrauber eines Fernsehsenders außerhalb von Los Angeles gefilmt wurde, keine Rakete gestartet.

Es wurde bisher weder eine glaubhafte Erklärung des eigentlichen Phänomens geliefert, das von einem Kameramann aufgezeichnet und seither von Millionen gesehen wurde, noch für die Unfähigkeit des riesigen amerikanischen Militär- und Geheimdienstapparats, auch 48 Stunden danach elementare Fragen zu dem Ereignis zu beantworten.

Ohne zusätzliche Informationen ist es unmöglich, die offizielle Erklärung zu akzeptieren, die an die Aufforderung eines Polizisten am Ort einer Katastrophe erinnert: „Bitte gehen Sie weiter. Hier gibt es nichts zu sehen.“ Es ist gut möglich, dass das, was den Kondensstreifen ausgelöst hat, noch andauert und dass die offizielle Geschichte des Militärs noch ein paar Mal korrigiert wird.

Die meisten amerikanischen Medien haben die Behauptungen des Pentagon entweder übernommen, oder, wie die New York Times, überhaupt nichts über den möglicherweise ernstesten Sicherheitsvorfall in den Vereinigten Staaten seit den Anschlägen vom 11. September geschrieben.

Hunderte Milliarden Dollar sind im letzten Jahrzehnt für Maßnahmen zum Heimatschutz, der Homeland Security, ausgegeben worden, von aufdringlichen Passagierkontrollen bis zu hoch entwickelten Geräten, die jedes sich nähernde Flugzeug, Schiff oder anderes Fahrzeug entdecken und überwachen. Deswegen gibt es keine harmlose Erklärung für die angebliche Unfähigkeit zahlloser Behörden – des North American Air Defense Command (NORAD), der Federal Aviation Administration (FAA), des US Northern Command (NORTHCOM), und der Naval Air Warfare Weapons Division –, den Zwischenfall zu erklären.

Es ist wesentlich glaubwürdiger anzunehmen, dass eine oder mehrere dieser Behörden irgendeinen geheimen Test nicht nur entdeckt, sondern sogar selbst durchgeführt haben – ob mit oder ohne Genehmigung der höchsten zivilen Stellen in Washington. Aber jeder, der die offizielle Geschichte nicht schlucken will oder gar ernste Fragen aufwirft, wird sofort als Verfechter von „Verschwörungstheorien“ hingestellt.

Das Pentagon drückt sich in seiner Erklärung bemerkenswert vage aus. „Nachdem das Verteidigungsministerium 36 Stunden lang intern und von anderen Regierungsstellen Informationen gesammelt hat, geht es davon aus, dass der Kondensstreifen wahrscheinlich von einem Flugzeug stammt“, sagte Oberst Lapan.

Alle US-Regierungsorganisationen, „mit Raketen- und Flugkörperprogrammen haben versichert, dass es in dem Zeitraum und dem Gebiet, in dem der Kondensstreifen beobachtet wurde, keine Starts gab, weder geplante, noch versehentliche“, erklärte der Sprecher. Er fügte hinzu, dass das Militär zu dieser Überzeugung gekommen sei, nachdem es zahlreiche „Datenquellen“ überprüft habe. Er lehnte aber ab, diese Datenquellen offenzulegen.

Lapan behauptete, Radarsysteme hätten am Montag zwar mehrere Flugzeuge, aber keine Raketen entdeckt. Am Mittwochabend konzentrierte sich CBS News in seiner Sendung dann auf Behauptungen, ein US Airways Flieger, Flug 808 von Honolulu nach Phoenix, für den Kondensstreifen verantwortlich gewesen sei. US Airways sah sich nicht in der Lage zu bestätigen, dass sein Flugzeug, das um 19.04 Uhr Ortszeit in Phoenix gelandet war, zu der Zeit, als der Kondensstreifen gesichtet wurde, vor der südkalifornischen Küste gewesen sei.

Die FAA, die landesweit den Luftraum für den zivilen Luftverkehr überwacht, teilte mit, dass sie nicht in der Lage war, den Ort, die Höhe oder die Richtung des Kondensstreifens zu bestimmen. „Ohne diese Informationen können wir seine Quelle nicht bestimmen“, sagte Sprecher Ian Gregor. „Wir können nicht sagen, was den Kondensstreifen verursacht hat.“

Die Naval Air Warfare Center Weapons Division betreibt den Stützpunkt Point Mugu auf dem Festland, der häufig für Waffentests über dem Pazifik genutzt wird. Zwei weitere Einrichtungen der Regierung liegen in der Nähe: der Luftstützpunkt Vandenberg, dreißig Meilen in westlicher Richtung an der Küste entlang, und ein Marine-Stützpunkt auf der San Nicolas Insel, der auch schon von der NASA genutzt wurde. Er liegt der vermutlichen Abschussanlage am nächsten.

Mehrere Sicherheits- und Raketenexperten haben nachdenklichere und kritischere Kommentare abgegeben. Sie glauben die offizielle Pentagon Story nicht, die von den konzernabhängigen Medien inzwischen allgemein akzeptiert wird.

Professor Theodore Postol vom MIT, ein energischer Kritiker des Antiraketenprogramms des Pentagon, seit die Reagan-Regierung ihre „Krieg der Sterne“-Phantasien in die Welt setzte, widerlegte ausführlich die offizielle Geschichte, dass der Kondensstreifen von einem Flugzeug stamme.

Er sagte dem Christian Science Monitor: „Das ist kein Flugzeug-Kondensstreifen. Da bin ich mir sicher. Es sieht nach einer großen Rakete aus. Aber wer weiß genau, wie ein Kondensstreifen aus großer Entfernung aussieht?“ Er sagte der Zeitung, dass das Video Drehbewegungen zeige, wie man sie von interkontinentalen ballistischen Langstreckenraketen (ICBM) kennt. Der Kondensstreifen „weist Spiralen auf, wie man sie bei einer großen Feststoffrakete erwarten würde“, sagte er.

Postol erklärte, dass der Flugsicherungsradar der FAA die Ursache des Kondensstreifens nicht entdeckt habe, lege nahe, dass es wahrscheinlich eine Rakete war, die sich so schnell bewegte, dass sie auf deren Kontrollschirmen nur ein einmaliges Aufblinken bewirkte. Andererseits würde NORAD eine Rakete mit Sicherheit entdeckt haben: „Zweifellos hätten die Frühwarnsatelliten des North American Air Defense Command das bemerkt“, sagte er dem Monitor.

Der Marinefachmann Raymond Pritchett erklärte gegenüber Wired.com: „Wenn jemand 35 Meilen entfernt von der zweitgrößten Stadt des Landes (auf See und in internationalen Gewässern) eine unangekündigte Rakete abschießt und NORAD achtzehn Stunden später überhaupt keine Erklärungen abgeben kann, dann ist dieser völlige Mangel an Informationen eine große Bedrohung für die nationale Sicherheit. Wenn NORAD keine der Fragen beantworten kann, dann denke ich ist es Zeit, jeden Cent in Frage zu stellen, der im Verteidigungshaushalt für die Raketenabwehr ausgegeben wird. NORTHCOM muss erklären, was es eigentlich weiß, anstatt sich darauf zu konzentrieren, was es nicht weiß.“

Doug Richardson, Herausgeber von Jane’s Missiles and Rockets sagte gegenüber der Times of London: „Es ist eine Feststoffrakete. Das sieht man an dem Ausstoß [Rauch].“ Er sagte, es könnte eine von einem U-Boot abgeschossene ballistische Rakete gewesen sein, oder eine Abfangrakete, die Raketenabwehrwaffe, die von den Schiffen der Navy aus abgefeuert wird.

Eine weitere Tatsache wirft zusätzliche Fragen auf: Ein offizieller FAA-Hinweis für Piloten der Luftwaffe (NOTAM), wurde wenige Stunden, bevor der Kondensstreifen von einem Hubschrauber aus gefilmt wurde, herausgegeben. Darin heißt es: „Aufgrund einer Aktivierung von W537 durch die Naval Air Warfare Center Weapons Division werden folgende Einschränkungen notwendig. Im Interesse der Sicherheit werden alle nicht teilnehmenden Piloten angewiesen, sich W537 fernzuhalten. IFR-Verkehr sollte nach ATC-Bestimmungen abwarten, bis W537 wieder freigegeben wird….“

W537 ist ein breiter Streifen des Pazifischen Ozeans, der sich südwestlich von Los Angeles bis Santa Catalina und anderen der Channel Islands erstreckt. Der FAA-Hinweis wurde offensichtlich um 12.52 Ortszeit (20.52 GMT), am Tag des Zwischenfalls erstellt, sollte aber erst am nächsten Tag für einen dreistündigen Zeitraum wirksam werden. (14 Uhr bis 17 Uhr am Dienstag, den 9. November).

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