Überlegungen zu den Bolschewisten, zur Oktoberrevolution und zu den Anfängen des Staatsaufbaus in Petrograd

Am 14. Oktober stellte der amerikanische Historiker Professor Alexander Rabinowitch an der Berliner Humboldt-Universität die deutsche Übersetzung seines Buch „Die Sowjetmacht – Das erste Jahr“ vor. Eingeladen hatten der Mehring Verlag als Herausgeber und die International Students for Social Equality, die Studentenorganisation der Vierten Internationale. Mit über 350 Teilnehmern war die Veranstaltung ein großer Erfolg. Wir geben hier Rabinowitchs Beitrag im Wortlaut wieder.

 

Rabinowitch-Veranstaltung

Ich möchte heute Abend mit euch über einige Ansichten zu den Bolschewisten, der Oktoberrevolution und den Anfängen des sowjetischen Staatsaufbaus in Petrograd sprechen, die ich während eines fast lebenslangen Studiums verschiedener Aspekte dieses noch immer sehr kontroversen Themas entwickelt habe. Aber lasst mich zuerst etwas über den Hintergrund der Einflüsse sagen, die mein Denken in diesen Fragen geformt haben, bevor ich sie beruflich zu erforschen begann.

Alexander Rabinowitch

Zweifellos war der wichtigste Einfluss mein Aufwachsen in einer Familie der liberalen russischen Intelligenz. 1932 heirateten meine Mutter Anna Maiersohn aus Kiew, Schauspielerin in einem russischen Theaterensemble in Europa, und mein Vater, der bekannte Chemiker Eugen I. Rabinowitch. Mein Vater, 1898 in Petersburg geboren, war im August 1918 zwei Wochen vor dem Ausbruch des Roten Terrors aus Russland geflohen. 1921 gehörte er zu den Scharen junger russischer Emigranten, die nach Deutschland strömten und durch die Intervention des führenden Sozialdemokraten Eduard Bernstein, damals Mitglied des Reichstages, die Möglichkeit erhielten, sich an deutschen Universitäten einzuschreiben. Als Doktorand an der Universität von Berlin (der heutigen Humboldt-Universität) studierte mein Vater bei solch weltbekannten, bereits mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Wissenschaftlern wie Albert Einstein, Max Planck und Max von Laue. Am Vorabend des Zweiten Weltkrieges, nach Berufungen an die Universität von Göttingen, an Niels Bohrs Institut für theoretische Physik in Kopenhagen und an die Universität von London, erhielt er eine Festanstellung am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston.

Während der ersten Jahre, die mich formten, war meine Familie integraler Bestandteil einer lebendigen russischen Emigrantengemeinde an der Ostküste der Vereinigten Staaten. Wir verbrachten die Sommer in den saftigen grünen Bergen von Süd-Vermont, wo mein Vater ein Sommerhaus kaufte, das nicht weit entfernt vom Haus von Michael Karpowitsch lag, einem gemäßigten Sozialisten, zukünftigen Harvard-Historiker und anerkannten Begründer moderner russischer Geschichtsstudien in den USA. Einige meiner lebendigsten Erinnerungen an jene Zeit drehen sich um endlose Mittag- und Abendessen, bei denen zahlreiche prominente Russen, die damals in den USA lebten, von Kerenski bis Nabokow, über Themen wie russische Geschichte, Literatur und das Zeitgeschehen diskutierten. Diese Diskussionen gingen manchmal in hitzige Debatten über, aber es gab bestimmte Dinge, in denen sich alle einig schienen. Dazu gehörte die Ansicht, dass die Oktoberrevolution, die sie entwurzelt hatte, ein militärischer Putsch gewesen war, der von einem engen Netzwerk revolutionärer Fanatiker unter der Führung Lenins ausgeführt und von den Deutschen finanziert worden war – ohne nennenswerte Unterstützung aus der Bevölkerung. Eine andere Ansicht war, dass alles, was dieser Revolution entsprang, abscheulich war und eine globale Bedrohung darstellte. Während mein lebenslanges Interesse an russischer Geschichte und Kultur ganz ohne Zweifel aus diesen frühen Familienzusammenkünften erwuchs, besonders beeinflusst durch Karpowitsch und den menschewistischen Führer und Archivar der russischen Sozialdemokratie, Boris I. Nikolajewski, hinterließen sie bei mir eine kompromisslos negative Haltung gegenüber den Bolschewisten, der Oktoberrevolution und der gesamten sowjetischen Geschichtserfahrung.

Diese kritische Haltung wurde verstärkt durch das feindselige Klima gegenüber der UdSSR während meiner College- und High-School-Jahre in den USA (1948–1956), die in die Zeit der McCarthy-Ära und des Koreakriegs fielen. Als Kadett des Reserveoffizier-Ausbildungskorps (ROTC) wurde mir beigebracht, die Sowjetunion für die Verkörperung des Bösen und den Erzfeind der freien Welt zu halten und diese Ansicht auch anderen zu vermitteln (zu jener Zeit ermöglichte die Teilnahme am ROTC Studenten wie mir, den Militärdienst bis zum Abschluss der Collegezeit aufzuschieben).

Ich begann meine ersten formellen Studien russischer Geschichte bei Leopold Haimson an der Universität von Chicago und bei dem Diplomatie-Historiker John M. Thompson an der Indiana-Universität. Zusammen erweckten sie mein Interesse an der Russischen Revolution als einem bahnbrechenden politischen und gesellschaftlichen Phänomen, das weitere Studien wert war. Nichtsdestoweniger waren meine grundsätzlichen Ansichten über die Sowjetunion und ihre Entstehung zu dem Zeitpunkt unverändert, als ich ein Thema für meine Doktorarbeit aussuchte. Meine erste Wahl war eine Biografie von Irakli Tsereteli, einem prominenten georgischen Menschewisten und eingefleischten Feind des Bolschewismus, den ich als Jugendlicher in Vermont kennengelernt hatte. Nachdem sich herausstellte, dass ein intensives Studium Tseretelis georgische Sprachkenntnisse erforderte, konzentrierte ich meine Aufmerksamkeit auf Tsereteli während der politischen Krisen im Frühjahr und Sommer 1917, insbesondere nach dem fehlgeschlagenen Juli-Aufstand. Zu der Zeit führte er als Kabinettsmitglied und defacto-Führer des gemäßigten sozialistischen Blocks im Petrograder Sowjet und im Gesamtrussischen Zentralen Exekutivkomitee der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten (ZEK) die Bemühungen an, die liberal-gemäßigte provisorische Koalitionsregierung zu stützen und die Bolschewisten zu kriminalisieren.

Wie kam es dann dazu, dass sich mein Interesse von Tsereteli im Frühjahr und Sommer 1917 auf die Bolschewisten zu jener Zeit verlagerte? Und wie kam es im Weiteren zu dem scharfen Bruch mit meiner anfänglichen Haltung zur bolschewistischen Partei und der Revolution, die sie an die Macht brachte? Diese Fragen sind mir oft gestellt worden und die Antwort ist recht einfach. Meine Zusammenarbeit mit Haimson und Thompson hatten in mir die Leidenschaft geweckt, historische Belege zu sammeln, und die Verpflichtung, diese so ehrlich, wie das menschlich möglich ist, zu interpretieren. Ich fand dann recht schnell heraus, dass Tseretelis allgemein akzeptierte Einschätzung, der Juliaufstand sei wenig mehr als ein fehlgeschlagener leninistischer Putsch gewesen, durch das Bild widerlegt wurde, das sich aus dem relativ begrenzten Quellenmaterial ergab, das mir damals zur Verfügung stand – hauptsächlich zeitgenössische Zeitungen, veröffentlichte Dokumente und Memoiren. Noch vor dem Herbst 1963, als ich einen neunmonatigen Aufenthalt als Austauschwissenschaftler in Moskau begann, hatte sich das Hauptinteresse meiner Forschungen von Tsereteli im Jahr 1917 auf die Rolle der Bolschewisten beim Juliaufstand verlagert.

Einige in den USA zugängliche Quellen halfen mir beim Einstieg in die Beantwortung dieser Frage. Obwohl diese Quellen die bahnbrechende und historisch bedeutsame Rolle Lenins bestätigten, der die Bolschewisten auf der Siebten (April) allrussischen (bolschewistischen Partei) Konferenz auf eine frühe sozialistische Revolution ausgerichtet hatte, enthüllten veröffentlichte Aufzeichnungen der Konferenz auch die tiefe Spaltung, die nach ihrem Ende noch zwischen den Spitzenführern der Partei bestand – insbesondere zwischen den Mitgliedern des neu gewählten Zentralkomitees. (1)

Eine noch wichtigere leicht verfügbare Quelle waren die detaillierten Protokolle wöchentlicher Treffen des Petersburger Komitees der Bolschewisten aus dem Jahre 1917. 1927 zum ersten Mal veröffentlicht, aber selten genutzt, spiegelten sie ebenfalls die unterschiedlichen politischen Ansichten innerhalb der bolschewistischen Parteiorganisation wider, sowie etwas Anderes von immenser Bedeutung, nämlich die Verwandlung der Partei aus einer kleinen konspirativen Vereinigung in eine politische Massenpartei, die nach der Februarrevolution fest in den Fabriken und Kasernen verankert war, und ihre relativ dezentralisierte, flexible und demokratische Struktur und Arbeitsweise im Jahr 1917. (2)

Bolschewistische Memoiren, die in den relativ freien 1920er Jahren veröffentlicht wurden und auch in amerikanischen Archiven zugänglich waren, bestärkten diesen Eindruck. Ironischerweise war es Nikolajewski, der Tseretelis dämonische Einschätzung Lenins und seiner zentralen Rolle bei der Organisation des Juliaufstandes teilte, der mich auf die Memoiren des Historikers der Bolschewisten und der russischen revolutionären Bewegung, V.I. Newskij, aufmerksam machte, dem er einst persönlich verbunden war – nicht ahnend, dass sie halfen, die unabhängige Rolle der bolschewistischen Militärorganisation bei der Ermutigung des Juliaufstandes entgegen den Wünschen Lenins und des Zentralkomitees zu dokumentieren. (3)

Obwohl der Zugang zu sowjetischen Archiven für westliche Historiker zu jener Zeit ausgeschlossen war, waren meine Monate als Austauschwissenschaftler in Moskau im akademischen Jahr 1963–1964 unerlässlich, um immer noch rätselhafte Aspekte der Rolle der Bolschewisten beim Juliaufstand sowie weitere Fragen zu klären, die sich aus meiner Forschungsarbeit bezüglich der Struktur und der Arbeitsweise der Partei und ihrer Beziehung zur Entfaltung der Revolution im Massenmaßstab ergaben.

Zum Beispiel ergab ein genauer Vergleich der „Prawda“ des Zentralkomitees und der „Soldatskaja Prawda“ der bolschewistischen Militärorganisation im Vorfeld des Juliaufstandes („Soldatskaja Prawda“ war im Westen nicht verfügbar), dass es einen wachsenden Gegensatz zwischen der taktischen Vorsicht des Zentralkomitees und dem Radikalismus der Militärorganisation gab. Darüber hinaus spiegelten die Seiten der „Soldatskaja Prawda“ und der ebenso seltenen Kronstädter Tageszeitung „Izvestiia Kronstadtskogo soveta“ in den Wochen vor dem Juliaufstand die gewaltig zunehmende Unzufriedenheit der Soldaten der Petrograder Garnison und der Matrosen der Baltischen Flotte wider. Sie halfen, entscheidende Verbindungen zwischen dieser Unzufriedenheit und den Alleingangsbestrebungen und der eskalierenden Militanz der bolschewistischen Militärorganisation aufzuzeigen. Vollständige Sammlungen beider Zeitungen waren in der damaligen „Lenin-Staatsbibliothek“ verfügbar.

Die Forschungsergebnisse meiner Doktorarbeit spiegeln sich in meinem ersten Buch “Prelude to Revolution: The Petrograd Bolsheviks and the July Uprising“ (Auftakt zur Revolution: Die Petrograder Bolschewisten und der Juliaufstand von 1917) wider, das 1968 veröffentlicht wurde. Nach seinem Erscheinen wurde ich von sowjetischen Historikern sofort als „bürgerlicher Geschichtsfälscher“ gebrandmarkt. Die meisten westlichen Rezensenten des Buches schien dagegen meine Darstellung überzeugt zu haben, dass der Juliaufstandes ein authentischer Ausdruck der öffentlichen Unzufriedenheit mit den mageren Ergebnissen der Februarrevolution, die von den radikalen Elementen in der bolschewistischen Militärorganisation und dem Petersburger Komitee ermutigt und unterstützt wurde. Die meisten akzeptierten auch meine Schlussfolgerung, dass der Aufstand, obwohl zum Teil Folge monatelanger bolschewistischer Anti-Regierungsagitation und -propaganda, gegen die Wünsche des Zentralkomitees ausbrach, von dem einige Mitglieder wie Lenin fürchteten, dass der Sturz der Provisorischen Regierung den Widerstand der Bauern in den Provinzen und der Soldaten an der Front hervorrufen würde. Andere wie Kamenew hingegen blieben überzeugt, dass eine sozialistische Revolution im rückständigen Russland verfrüht sei und die Schaffung einer breiten Koalition sozialistischer Parteien in der konstituierenden Versammlung der Schlüssel zu bedeutsamen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Reformen sein werde.

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Nach dem Juliaufstand musste sich Lenin, dem vorgeworfen wurde, ein deutscher Spion zu sein, verstecken. Viele führende Bolschewisten kamen ins Gefängnis, und der dramatische Aufschwung an öffentlicher Unterstützung für das bolschewistische Programm geriet ins Stocken. Zu der Zeit, als „Prelude to Revolution“ veröffentlicht wurde, begann ich mit den Recherchen für mein Buch über die Oktoberrevolution selbst („The Bolsheviks Come to Power: The Revolution of 1917 in Petrograd“, 1976).

Weil der Charakter der bolschewistischen Partei, insbesondere ihre Toleranz gegenüber grundlegenden programmatischen Abweichungen, ihre dezentralisierte Struktur und ihr Eingehen auf die öffentliche Stimmung im Frühjahr und Frühsommer 1917 so erheblich zum Julidebakel beigetragen hatte, schien mir eine Neuorganisation, die mehr im Einklang mit der traditionellen Vorstellung des „leninistischen Modells“ stand, ihre schnelle Erholung und ihre Fähigkeit, die Macht zu übernehmen, erklären zu können. Diese Annahme erwies sich aber als nicht zutreffend. Im Gegenteil: Es stellte sich heraus, dass die weiter bestehende Akzeptanz unterschiedlicher Meinungen in der Partei in Verbindung mit ihrer relativ offenen und demokratischen Arbeitsweise, die fortbestehende Rücksichtnahme ihrer Beschlüsse auf die Stimmung der Massen, die andauernde Popularität ihres politischen Programms, das sofort nach Frieden, Land und Brot verlangte, und der Übergang der Macht an Mehrparteien-Sowjets bis zur Einberufung der Verfassungsgebenden Versammlung für ihren Erfolg im Oktober entscheidend waren. Lasst mich diesen wichtigen Punkt durch einige Beispiele illustrieren, die in „The Bolsheviks Come to Power“ entwickelt und dokumentiert werden.

Nach den Juliereignissen verlor Lenin alle Hoffnung, die bestehenden, von gemäßigten Sozialisten kontrollierten Sowjets könnten revolutionäre Organe werden. Folglich rief er aus seinem Versteck auf dem Lande nicht weit von Petrograd dazu auf, die Parole „Alle Macht den Sowjets“ durch den neuen Fanfarenruf „Alle Macht der Arbeiterklasse, geführt durch ihre revolutionäre Partei – die Bolschewiken-Kommunisten“ zu ersetzen, den institutionellen Schwerpunkt der Partei von den Sowjets auf Fabrikkomitees zu lenken und so bald wie möglich einen unabhängigen bewaffneten Aufstand vorzubereiten. Diesem Kurs jedoch widersetzten sich auf Parteitreffen Mitte Juli erfolgreich gemäßigte Bolschewisten im Zentralkomitee und – was nicht weniger wichtig ist – Petrograder Parteiführer auf allen Ebenen, die Lenins langfristige theoretische Ansichten akzeptierten, sich aber der Verbundenheit von Fabrikarbeitern, Soldaten und Matrosen zu ihren Sowjets sehr wohl bewusst waren und selbst weiter an das revolutionäre Potential der Sowjets glaubten. (4)

Zwar wurde auf dem sechsten allrussischen Parteikongress im August nach einer heftigen Debatte die Parole „Alle Macht den Sowjets“ offiziell zurückgenommen. Aber der Kongress betonte einmal mehr die zentrale Rolle revolutionärer Arbeit in den Sowjets. Ende August waren Bolschewisten der Petrograder und der nationalen Sowjetführung entscheidend daran beteiligt, Kräfte zu mobilisieren, die den rechten Putsch des Generals Kornilow niederschlugen. Danach schnellte die Beliebtheit der Partei wieder in die Höhe. Die Parole „Alle Macht den Sowjets“ wurde nun stillschweigend wieder aufgenommen. Darüber hinaus gewannen die Bolschewisten im Glanz ihrer zentralen Rolle beim Triumph über Kornilow die Mehrheit im Petrograder Sowjet. Obwohl zu diesem Zeitpunkt noch nicht ersichtlich, war dies ein entscheidender Schritt für den Griff nach der Macht Ende Oktober.

Etwa zwei Wochen später gab Lenin plötzlich die kurze Rückkehr zum gemäßigten taktischen Kurs, den er zwischen April und Juli eingeschlagen hatte, wieder auf und verlangte in zwei dringenden Briefen, dass seine Genossen in Petrograd sofort den Sturz der Provisorischen Regierung organisieren sollten. Lenins Drängen, die Macht sofort und unverzüglich zu übernehmen, scheint durch mehrere Faktoren veranlasst worden zu sein: die starke Stellung der extremen Linken in Finnland, der Gewinn der Mehrheitsunterstützung für das bolschewistische Programm in den Sowjets von Petrograd und Moskau und in einer Anzahl regionaler Sowjets, die massive Ausweitung von Unruhen unter russischen Bauern auf dem Lande und unter Soldaten an der Front und – vielleicht von allem das Wichtigste – Anzeichen revolutionärer Unruhe in der deutschen Flotte. (5) Dieser letzte Faktor war besonders wichtig wegen Lenins festem Glauben, dass eine sozialistische Revolution im rückständigen Russland entscheidende sozialistische Revolutionen in fortgeschritteneren Ländern auslösen würde und dass diese darüber hinaus wesentlich für das Überleben des revolutionären Russland waren.

Lenins Briefe von Mitte September hatten wie seine Aprilthesen die bedeutende Wirkung, das Denken der bolschewistischen Parteiführung in Petrograd nach links zu rücken, hin zu einem schnellen Sturz der Provisorischen Regierung, oder gar zur unabhängigen Machtergreifung. In diesem Sinne wurde die immense historische Bedeutung seiner Führung erneut bestätigt. Kurzfristig jedoch wurden seine taktischen Forderungen von Mitgliedern des Zentralkomitees beiseitegeschoben, die die Grenzen der Unterstützung für die Bolschewisten und die starke Verbundenheit der Petrograder Arbeiter, Soldaten und Matrosen mit einer durch demokratische Sowjets ausgeübten, auf mehreren Parteien beruhenden sozialistischen Macht besser kannten als er. Unter der Führung des Zentralkomitees nahm die Partei weiter in der Hoffnung an der sogenannten Demokratischen Staatskonferenz teil, dass sie die Revolution fördern würde. (6)

(Ich sollte in Klammern anfügen, dass ich mir über die Jahre oft die Frage gestellt habe, ob die Bolschewisten die Macht Mitte September hätten übernehmen können und dass ich jedes Mal zu der Überzeugung gelangt bin, dass sie, hätten sie es versucht, eine noch schlimmere Niederlage als im Juli erlitten hätten. Dass die Partei nicht versuchte, die Macht voreilig zu übernehmen, und vorher die Sowjets nicht aufgab, ist der Tatsache zu verdanken, dass sie nicht entsprechend dem monolithischen leninistischen Modell strukturiert war, wie es traditionell akzeptiert wird.)

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Während der zweiten Hälfte des Septembers lebte Lenin im finnischen Vyborg im Untergrund. Am Ende des Monats zog er heimlich in eine Wohnung in den nördlichen Vororten Petrograds. Aus diesen Verstecken beschwor er seine Genossen in immer dringlicheren Botschaften an die Parteiführung wie auch in Aufsätzen, die zur Veröffentlichung in der Parteipresse gedacht waren, die Provisorische Regierung ohne weiteres Zaudern zu stürzen. Doch sein Flehen und seine zunehmende Wut wurden geflissentlich ignoriert.

Um nach dem Scheitern der Demokratischen Staatskonferenz die Bildung einer neuen, ausschließlich sozialistischen Regierung in die eigenen Hände zu nehmen, war das allrussische Zentrale Exekutivkomitee der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten auf Drängen der Bolschewisten mit Delegierten der Demokratischen Staatskonferenz aus den Provinzen zusammengekommen und hatte einen zweiten gesamtrussischen Sowjetkongress für den 20. Oktober (später auf den 25. Oktober verschoben) angesetzt, um über eine Ersetzung der neuen Provisorischen Regierung zu entscheiden. Die Bolschewisten verschoben die Festsetzung ihrer Zielsetzung für den Sowjetkongress auf den für den 17. Oktober einberufenen außerordentlichen Parteikongress. Die gemäßigten Mitglieder der Partei wollten den Sowjetkongress benutzen, um eine breitere, umfassendere Allianz „demokratischer Gruppen“, zu schmieden, die sich darauf beschränken würde, eine ausschließlich sozialistische Übergangs-Koalitionsregierung zur Einberufung der Verfassungsgebenden Versammlung zu bilden. Das Ziel der „Leninisten im Geiste“ wie Trotzki war es, bei dem Kongress den Übergang der Macht an eine reine Räteregierung der extremen Linken zu erreichen mit einem Programm von sofortigem Frieden und international widerhallender sozialer Veränderungen. (7) Fürs erste behielt die gesamte bolschewistische Führung in Übereinstimmung mit den Linken Sozialrevolutionären, den Menschewisten-Internationalisten und anderen linken sozialistischen Gruppen einen klaren Kurs bei, der darauf abzielte, die Bildung einer ausschließlich sozialistischen Regierung auf dem Sowjetkongress zu erleichtern. Zur gleichen Zeit wurde jede Gelegenheit genutzt, die Autorität der Provisorischen Regierung friedlich zu untergraben.

Am 10. Oktober, eine Woche vor dem angesetzten Parteikongress, präsentierte Lenin seine Argumente zugunsten der unmittelbaren Organisation der Machtübernahme einem konspirativen Treffen des Zentralkomitees. Am Ende stimmten zehn von zwölf Mitgliedern (alle bis auf Kamenew und Sinowjew) dafür, einen bewaffneten Aufstand auf die Tagesordnung zu setzen, und kamen dem Parteikongress, der nie abgehalten wurde, damit praktisch zuvor. Trotz dieses grünen Lichtes für die Organisation eines bewaffneten Aufstandes wurde fast drei Wochen lang wenig getan, um dieses Ziel zu verwirklichen. Dafür gab es mehrere Gründe. Zum einen taten gemäßigte Parteiführer wie Kamenew und Sinowjew alles, was sie konnten, um den Beginn eines bewaffneten Aufstandes zu verhindern, da sie der Ansicht waren, dass ein direkter, von der Partei organisierter Angriff auf die Regierung vor dem bevorstehenden gesamtrussischen Sowjetkongress verheerend wäre, und dass darüber hinaus die Mehrheit der nationalen Parteiführer ihrer Meinung sei. (8)

Einer Umsetzung der Resolution des Zentralkomitees vom 10. Oktober standen auch Vorbehalte von Mitgliedern des Zentralkomitees entgegen, die wie Trotzki und radikal orientierte Petrograder Parteiführer ebenso wie Lenin von der Idee einer frühen sozialistischen Revolution in Russland als Funke zur Auslösung weltweiter sozialistischer Revolutionen angetan waren, aber gegen die Organisation eines bewaffneten Aufstand vor dem Sowjetkongress waren. Trotz ihrer Vorbehalte prüften aber Petrograder Bolschewistenführer als Reaktion auf die Entscheidung des Zentralkomitees vom 10. Oktober ernsthaft die Möglichkeit, die Provisorische Regierung umgehend zu stürzen, und beriefen zu diesem Zweck größere Strategiekonferenzen ein. Diese Sondierungen zwangen sie allerdings zu dem Schluss, dass die Partei technisch nicht auf einen sofortigen klassischen bewaffneten Aufstand vorbereitet sei, und dass Arbeiter, Soldaten und Matrosen vor dem Sowjetkongress einem Aufruf zum Aufstand keine Folge leisten würden. Darüber hinaus mussten sie eine Tatsache anerkennen, die gemäßigte Bolschewisten mit Nachdruck betonten, dass sie nämlich durch die Vorwegnahme des Entscheidungsrechts des Sowjetkongresses die Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit so wichtigen Verbündeten wie den Linken Sozialrevolutionären und den Menschewisten-Internationalisten gefährden würden. Außerdem riskierten sie den Verlust der Unterstützung in Massenorganisationen wie den Gewerkschaften, Fabrikkomitees und Petrograder Stadt- und Distriktsowjets. Am verhängnisvollsten aber war das erhöhte Risiko, dass Truppen der nahegelegenen Front Widerstand leisten.

Aus praktischen Gründen verfolgte die bolschewistische Führung in Petrograd demzufolge eine defensive Strategie, die sich auf das Prinzip stützte, dass die Sowjets oder ihre ausführenden Organe und nicht Teile der Partei zum Sturz der Provisorischen Regierung aufrufen sollten, dass zum Erhalt der größtmöglichen Unterstützung jeder Angriff auf die Regierung sich auf Handlungen beschränken sollte, die als Verteidigung der Sowjets ausgelegt werden konnten, dass, um potentiellem Widerstand den Boden zu entziehen, jede Gelegenheit genutzt werden sollte, um die Autorität der Provisorischen Regierung friedlich zu untergraben, und dass die formelle Beseitigung der existierenden Regierung mit den Entscheidungen des Zweiten Gesamtrussischen Sowjetkongresses verbunden und durch diesen legitimiert werden sollte.

Im Großen und Ganzen war diese Strategie eine natürliche, realistische Antwort auf die bestehende Situation. Sie wurde von Leninisten und Gemäßigten gleichermaßen akzeptiert, wenn auch aus verschiedenen Gründen. Im Wesentlichen handelte es sich um eine Fortführung der Haltung, die nach der Demokratischen Staatskonferenz eingenommen worden war, nur dass sie jetzt, insbesondere zwischen dem 21. und dem 24. Oktober, viel aggressiver verfolgt wurde. In der Parteipresse und bei riesigen öffentlichen Versammlungen attackierte die bolschewistische Führung in Petrograd, mit dem legendären Trotzki an der Spitze, die Politik der Regierung und verstärkte die öffentliche Unterstützung für ihre Beseitigung auf dem bevorstehenden nationalen Sowjetkongress. Gleichzeitig übernahm das bolschewistisch dominierte Militärische Revolutionskomitee (MRK), das am 9. Oktober vom Petrograder Sowjet etabliert worden war, um die Truppenbewegungen der Regierung zu beobachten, die Kontrolle über die meisten in Petrograd stationierten Einheiten. Es benutzte die Ankündigung der Provisorischen Regierung, den größten Teil der Petrograder Garnisonen an die Front zu befehlen, als Rechtfertigung, um ihre Aktionen als Defensivmaßnahmen gegen die Konterrevolution auszugeben.

Als Antwort darauf versuchte Kerenski früh am Morgen des 24. Oktober, einen Tag vor der Eröffnung des Zweiten Gesamtrussischen Sowjetkongresses, die Linke einzudämmen. Es stand zu erwarten, dass der Kongress mit großer Mehrheit eine ausschließlich sozialistische Sowjetregierung bilden werde. Das MRK antwortete mit entschiedenen Gegenmaßnahmen, alle im Namen der Verteidigung. Die Provisorische Regierung saß isoliert und vollkommen hilflos im Winterpalast. Die direkte Operation zum Sturz der Provisorischen Regierung, die Lenin seit mehr als einem Monat gefordert hatte, begann erst auf seine persönliche Intervention hin im Morgengrauen des 25. Oktober, nachdem all dies erledigt war. Sie war schon am folgenden Abend vorüber. In der relevanten historischen Literatur wird für gewöhnlich übersehen, dass Lenins direkter Angriff auf die Provisorische Regierung erst nach der erfolgreichen Anwendung der „defensiven“ Strategie möglich wurde. Letztere war Ende September, nach Kerenskis natürlicher, aber aggressiver Antwort auf die widerrechtliche Aneignung der Befehlsgewalt des MRK über die Petrograder Garnison und die erfolgreichen Gegenmaßnahmen des MRK eingeschlagen worden.

Zurückblickend ist offensichtlich, dass Lenin auf dem gewaltsamen Sturz der Provisorischen Regierung vor der Eröffnung des Sowjetkongresses beharrte, um die Möglichkeit auszuschalten, dass dort eine sozialistische Koalition gebildet wurde, in der die gemäßigten Sozialisten eine entscheidende Stimme hatten. Diese Strategie war so brillant wie erfolgreich. Am Vorabend der Eröffnung des Kongresses, vor Beginn der militärischen Aktionen, die in der Verhaftung der Provisorischen Regierung im Winterpalast gipfelten, ließen es die politischen Neigungen der ankommenden Delegierten und ihre Haltung in der Regierungsfrage so gut wie sicher erscheinen, dass die Bemühungen Früchte tragen würden, eine demokratische, sozialistische, auf mehrere Parteien gestützte Übergangsregierung zu bilden, die, abhängig von der frühzeitigen Einberufung der Verfassunggebenden Versammlung, ein Programm des Friedens und der dringenden Reformen proklamieren würde. Nach den militärischen Ereignissen des 25. Oktober verflüchtigte sich dieser Geist der Zusammenarbeit eines breiten Spektrums von Sozialisten. Selbst die engsten Verbündeten der Bolschewisten, die linken Sozialrevolutionäre, fühlten sich hintergangen und lehnten es zeitweilig ab, einer neuen sowjetischen Regierung beizutreten, womit sie die Tür für ein ausschließlich bolschewistisches Kabinett, den Sownarkom, öffneten, an dessen Spitze Lenin stand.

* * *

Die Machtübernahme durch die Bolschewisten 1917 kann demnach genauso wenig als erfolgreicher leninistischer Putsch charakterisiert werden wie der Juliaufstand nur als erfolgloser Putsch gelten kann. Obwohl beides keine klassischen bewaffneten Aufstände waren, weisen alle verfügbaren Belege darauf hin, dass beide ein echter Ausdruck weitverbreiteter Unzufriedenheit unter Petrograds niederen Klassen mit den Ergebnissen der Februarrevolution und der immensen Anziehungskraft des bolschewistischen Programms innerhalb der Bevölkerung waren. Darüber hinaus waren beide Ereignisse sehr wichtigen, oft übersehenen Eigenschaften der Petrograder bolschewistischen Parteiorganisation von 1917 zuzuschreiben, die zu vollkommen unterschiedlichen Ergebnissen führten. Offensichtlich ist es schwierig, diese Interpretation mit dem ultra-autoritären politischen System in Einklang zu bringen, das durch die Oktoberrevolution entstand, was mich aber nur noch mehr animierte, mit meinen Studien fortzufahren.

Das erste Ergebnis dieses neuen Projektes, das sich als genauso reich an Überraschungen wie meine Arbeit über die Revolution entpuppte, ist „Die Sowjetmacht – Das erste Jahr“. In diesem Buch besteht mein Hauptanliegen darin, den scheinbaren Widerspruch zu klären, der zwischen meiner Auffassung von der bolschewistischen Partei und auch den Sowjets von 1917 als relativ demokratisch strukturierten Einrichtungen und den traditionellen Ansichten besteht, die sie in der Nach-Oktober Zeit als strikt autoritär betrachten. Ich versuche die Dynamik der Art und Weise zu erklären, wie Partei und Sowjets im ersten Jahr sowjetischer Herrschaft in Petrograd strukturiert und geführt wurden. Für dieses Buch kam die Öffnung der russischen historischen Archive währen der Gorbatschow-Ära wie ein unerwartetes Geschenk. Plötzlich konnte ich politische innerparteiliche Debatten auf allen Ebenen studieren. Außerdem konnte ich die interne Arbeitsweise von Teilen der Partei und den Sowjets von oben bis unten untersuchen, wie auch die der Gewerkschaften und in eingeschränktem Maß sogar die solcher Geheimdienste wie der Tscheka.

Ich fand heraus, dass die Bolschewisten nicht nur ohne autoritäres Vermächtnis, sondern auch ohne vorgefassten Plan oder Konzept, wie sie regieren sollten, an die Macht kamen. Veränderungen in der Struktur und Arbeitsweise der bolschewistischen Partei und der Sowjets in Petrograd und ihrer Beziehung zueinander waren eher Teil eines allmählichen Prozesses, der weniger durch Ideologie, als durch den Einfluss endloser schrecklicher Notsituationen geformt wurde, während denen die Hauptsorge der Bolschewisten dem reinen Überlebenskampf galt. (Dieser Faktor war in der neuen Geschichte, die ich zu erzählen hatte, so beherrschend, dass mein ursprünglicher Titel für „Die Sowjetmacht – Das erste Jahr“ „Der Preis des Überlebens“ war.) Wie dem auch sei, am Ende des ersten Jahres der Sowjetmacht war dieser Umwandlungsprozess alles andere als fertig und aus meiner Sicht auch nicht irreversibel – deshalb habe ich meine Forschungen jetzt auf die Jahre 1919 und 1920 ausgedehnt.

Anmerkungen

1) Dem von der Konferenz neu gewählten Zentralkomitee gehörten vier Gemäßigte an: Lew Kamenew, Viktor Nogin, Wladimir Miljutin, and Grigori Fjodorow.

2) Siehe P. F. Kudelli, hrsg. Pervyi legal’ny Petersburgskii komitet bolshevikov v 1917 (Moscow–Leningrad, 1927). Für eine neue, vollständigere und stark erweiterte Ausgabe dieser Protokolle siehe T. A. Abrosimova, T. P. Bondarevskaia, E. T. Leikina, and V. Iu. Cherniaev, hrsg., Pervyi Petersburgskii Komitet RSDRP (b) v 1917 godu: Protokoly i materialy zasedanii (St. Petersburg, 2003).

3) 1917 war Newskij ein prominenter Führer der bolschewistischen Militärorganisation gewesen.

4) Ich denke hier an die zweitägige Konferenz führender Petrograder und Moskauer Bolschewiki (13.-14. Juli), die vom Zentralkomitee der Partei organisiert wurde, und an die letzte Sitzung der Zweiten Stadtkonferenz der Petrograder Bolschwiki (16. Juli), die vom Juliaufstand unterbrochen wurde.

5) Was offenbar ebenfalls zu Lenins Ungeduld beitrug, war die Angst, dass die Regierung die Revolution irgendwie eindämmen könnte, möglicherweise indem sie Petrograd an die Deutschen auslieferte, und dass die Partei ihren Einfluss unter den revolutionären Massen verlieren könnte, wenn sie mit der Machteroberung zögerte, und dann nicht mehr in der Lage sein würde, das Abgleiten Russlands in die völlige Anarchie zu verhindern.

6) Der detaillierteste Tag-für-Tag-Bericht über die Verhandlungen der Demokratischen Staatskonferenz findet sich in Izvestiia, 15–21.September 1917.

7) Es ist unbestritten, dass für den 17. Oktober ein bolschewistischer Parteikongress geplant war. Gründliche Nachforschungen Moskauer Historiker, die in der späten Sowjetära begannen, konnten bisher aber keine Dokumente über die genaue Ursache seiner Annullierung zutage fördern.

8) Ein langer Brief, der die Ansichten Kamenews und Sinowjews zusammenfasst und den sie am 11. Oktober unter bolschewistischen Führern zirkulierten findet sich in Institut marksizma-leninizma pri TsK KPSS, Protololy Tsentral’nogo komiteta RSDRP (b): Avgust 1917-fevral’ 1918 (Moscow, 1958), pp. 86–92.

siehe auch:

Großes Interesse am Vortrag von Professor Rabinowitch in Berlin

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