Perspektive

Ein Jahr nach dem Erdbeben in Haiti

Heute ist der erste Jahrestag des Erdbebens der Stärke 7,0, das den karibischen Inselstaat Haiti zerstörte und 250.000 Einwohner tötete, 300.000 verletzte und ungefähr 1,5 Millionen obdachlos machte.

Ein Jahr nach dieser Naturkatastrophe hat sich der Horror für die Bevölkerung Haitis noch verschärft. Eine Choleraepidemie fordert Tausende Todesopfer, und eine Million Menschen vegetieren immer noch in schmutzigen Zeltstädten dahin.

Diese schwärende Krise unterstreicht die gesellschaftlichen und politischen Wurzeln des Leidens der Arbeiterklasse und der unterdrückten Massen Haitis. Dass solche Bedingungen praktisch vor der Haustür der Vereinigten Staaten existieren, wo der größte Reichtum der Welt konzentriert ist, ist ein Verbrechen welthistorischen Ausmaßes und eine Anklage gegen das Profitsystem.

Personen, die mit den Verhältnissen vor Ort in Haiti vertraut sind, berichten über die empörende Gleichgültigkeit des amerikanischen und des Weltimperialismus gegenüber der Bevölkerung des Landes.

„Die Trümmerberge sind noch immer da. Die Lage der Opfer, die nicht einmal akzeptable provisorische Unterkünfte haben, verschlechtert die Bedingungen und begünstigt die Ausbreitung der Cholera. Die Gefahr weiterer Seuchen wird mit jedem neuen Tag bedrohlicher“, sagte der ehemalige Ministerpräsident Jamaikas P.J. Patterson, der Sondergesandte der karibischen Gemeinschaft in Haiti. „Kurz gesagt, das Trauma und das Elend der Bevölkerung Haitis haben noch nicht nachgelassen.“

Roland Van Hauwermeiren, Landesdirektor der Hilfsorganisation Oxfam in Haiti, nannte 2010 ein „Jahr der Unentschlossenheit“, in dem „die Zeichen für den Wiederaufbau Haitis auf Halt standen“. Er fügte hinzu: „Fast eine Million Menschen leben immer noch in Zelten oder unter Segeltüchern, und Hunderttausende leben in den Ruinen der Stadt und wissen nicht, wann sie in ihre Wohnungen zurückkehren können.“

Mehr als die Hälfte der ungefähr eine Million Menschen, die in den übervölkerten Lagern von Port-au-Prince in Zelten oder unter Segeln leben, sind Kinder.

Die Hauptstadt Haitis ist immer noch ein Trümmerhaufen. Vermutlich sind weniger als fünf Prozent der Betonberge und geborstenen Stahlarmierungen bisher weggeräumt worden – von Haitianischen Arbeitern mit Schaufeln und bloßen Händen. Seit das amerikanische Militär vor sechs Monaten abgezogen ist, ist weit und breit so gut wie kein schweres Gerät mehr zu erblicken.

Auf dem Höhepunkt hatten die USA 22.000 Marines, Seeleute und Angehörige der Air Force in Haiti stationiert. Sie übten einseitig die Kontrolle über den wichtigsten Flughafen des Landes aus, über die Häfen und andere strategische Einrichtungen. Die Priorität des amerikanischen Militärs war, das Land gegen drohende Volksaufstände zu sichern und Einheiten der Küstenwache und der Marine zu etablieren. Sie sollten verhindern, dass Flüchtlinge aus Haiti sich auf den Weg in die USA machten.

Deswegen wies das Pentagon in den ersten Wochen nach dem Beben, als Hilfe besonders verzweifelt benötigt wurde, um die Hunderttausenden Verletzten am Leben zu erhalten, immer wieder Flugzeuge mit Hilfsgütern und Hilfspersonal ab, um die Landebahnen für militärische Güter freizuhalten.

Schon elf Tage nach dem Beben erklärte die von den USA unterstützte Regierung Haitis von Präsident Rene Preval die Such- und Rettungsaktionen für beendet. Nur 132 Menschen waren lebend aus den Trümmern gezogen worden. Wäre eine angemessenere Operation organisiert worden, hätten wesentlich mehr Menschen gerettet werden können. Die Entscheidungen in Washington wurden nicht aufgrund humanitärer Überlegungen getroffen, sondern eiskalt im Namen des nationalen Interesses und des Profits kalkuliert. Zweifellos spielte dabei auch die Überlegung eine Rolle, dass die Versorgung von noch mehr geretteten Haitianern die vorhandenen Mittel noch weiter belastet hätte.

Im Gegensatz dazu reagierten die Menschen in den USA und weltweit solidarisch auf das Leiden der Massen in Haiti. Alleine in den USA kamen 1,3 Mrd. Dollar an Spendengeldern zusammen, der größte Teil davon von einfachen Menschen.

Ein Jahr später sind dem Chronicle of Philanthropy zufolge aber erst 38 Prozent dieser Gelder für Hilfen und für den Wiederaufbau Haitis ausgegeben worden. In Haiti kursiert der Verdacht, dass große Summen in die Taschen von NGOs und Hilfsorganisationen umgeleitet worden sind.

Schlimmer noch ist die Reaktion der Regierungen. Auf einer Geberkonferenz im März letzten Jahres wurden mehr als 5,3 Mrd. Dollar zugesagt. Davon sind erst 824 Millionen Dollar geflossen. Am Übelsten ist die Reaktion Washingtons, das 1,15 Mrd. Dollar für 2010 zusagte, nur um dann anzukündigen, dass es die gesamte Verpflichtung auf 2011 verschieben werde.

Im Juli äußerten sich mehrere Politiker frustriert über das langsame Eintreffen der Zahlungen. Der Gesandte der Obama-Regierung in Haiti, Ex-US-Präsident Bill Clinton, der auch UN-Sonderbotschafter und (mit dem Ministerpräsidenten Jean-Max Bellarive) Leiter der Vorläufigen Haiti-Wiederaufbaukommission ist, versprach, Druck auf die Geber auszuüben, damit sie ihre Versprechen wahrmachten. Anscheinend hatte er dabei wenig Erfolg, so auch bei seiner Frau, Außenministerin Hillary Clinton. Er hat mehrfach klar gemacht, dass der einzig akzeptable Weg des Wiederaufbaus Haitis private Investitionen und die Schaffung profitabler Bedingungen für amerikanische Banken und Transnationale Konzerne sei – im Wesentlichen auf der Grundlage von Hungerlöhnen.

Zu allem Überfluss ist zu dem Erdbeben jetzt noch eine Choleraepidemie hinzugekommen, die schon 3.600 Menschenleben gekostet hat. Wahrscheinlich werden 400.000 Menschen infiziert werden. Gesundheitsexperten gehen davon aus, dass der Höhepunkt der Krankheitswelle noch nicht erreicht sei. Aber der schreckliche Preis, den die Krankheit fordert, findet in den amerikanischen Meiden kaum Erwähnung.

Der amerikanischen Regierung ist das Leben der Haitianer vollkommen gleichgültig. Dies wird durch ihre Entscheidung unterstrichen, die Abschiebungen in das Land wieder aufzunehmen. 350 Abschiebungen sind schon für diesen Monat vorgesehen. Da vielen dieser Menschen ein Gefängnisaufenthalt in Haiti droht, in denen die Cholera allgegenwärtig ist, läuft diese Entscheidung praktisch auf ein Todesurteil hinaus.

Die Epidemie ist, wie die hohe Zahl an Opfern des Bebens selbst, keine Folge des Erdbebens, sondern der bitteren Armut und Rückständigkeit infolge der Vorherrschaft des Imperialismus über Haiti, und besonders der Rolle, die amerikanische Regierungen, Banken und Konzerne in den letzten hundert Jahren in dem Land gespielt haben.

Haiti ist das bei weitem ärmste Land der westlichen Hemisphäre. Schon vor dem Erdbeben hatten weniger als die Hälfte der städtischen Bevölkerung und weniger als zwanzig Prozent in den ländlichen Gebieten Zugang zu sanitären Einrichtungen. Dadurch wurde das Land leicht zur Beute der Cholera. Vor dem Beben lebten Dreiviertel der Bevölkerung von weniger als zwei Dollar am Tag. Kaum zwanzig Prozent hatten ordentliche Arbeitsplätze, und 86 Prozent der Stadtbewohner lebten in Slums.

Diese Bedingungen sind untrennbar mit einer unterdrückerischen politischen und gesellschaftlichen Ordnung verbunden, die von der militärischen Besetzung des Landes durch die USA von 1915 bis 1934, der brutalen dreißigjährigen Duvalier-Dynastie und der darauf folgenden, so genannten Politik des „freien Marktes“ der USA und des Internationalen Währungsfonds durchgesetzt wurden.

Die wachsende Frustration und der Zorn der haitianischen Bevölkerung über die kriminelle Politik Washingtons und der winzigen, korrupten Finanzelite des Landes haben sich in den letzten Monaten mehrfach in massenhaften Widerstandsaktionen Luft verschafft, die sich wegen der Verbreitung der Cholera zuerst gegen die Truppen der Vereinten Nationen richteten und dann gegen die gefälschten Wahlen am 28. November.

Dieser Widerstand verdient die volle Unterstützung der internationalen Arbeiterklasse. Sofortige und umfangreiche Hilfe für Haiti muss die Forderung des Tages sein.

Notwendig ist sofortige Hilfe für die Bevölkerung Haitis und der Wiederaufbau des Landes auf der Grundlage der Bedürfnisse der Menschen statt der Interessen der einheimischen Elite und der ausländischen Banken und Konzerne. Doch dies ist nur möglich, wenn sich die Arbeiterklasse in Haiti, in den USA und auf der ganzen Hemisphäre im gemeinsamen Kampf für die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft zusammenschließt.

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