Gaddafi droht mit Gemetzel – Volksaufstand geht weiter

Der libysche Herrscher Muammar Gaddafi drohte am Dienstag bei einem Auftritt im Staatsfernsehen mit umfassenden Massakern an der Bevölkerung des Landes. Gleichzeitig gewann der Aufstand gegen sein Regime in der östlichen Hälfte des Landes an Boden und erreichte die Vororte der Hauptstadt Tripolis.

Hunderte Menschen haben in der Woche seit Beginn des Aufstands bereits ihr Leben gelassen. Seit dem Sturz des tunesischen Präsidenten Ben Ali am 14. Januar diesen Jahres ist keine andere Volksbewegung in Nordafrika und Nahost mit so brutalen und blutigen Unterdrückungsmaßnahmen konfrontiert gewesen.

Der Fernsehsender Al-Dschasira berichtet, Ölarbeiter hätten sich dem Kampf gegen die Regierung angeschlossen. Ein Streik habe die Förderung auf dem Ölfeld von Nafura zum Stillstand gebracht.

In einer siebzigminütigen Hetzrede, die offenbar vor einem kleinen Publikum von Sicherheitsleuten und Getreuen aufgezeichnet worden war, rief Gaddafi das libysche Volk auf, sich zu erheben und sein Regime zu verteidigen. Gleichzeitig drohte er mit den schlimmsten Verbrechen, um jene zu unterdrücken, die sich ihm widersetzen.

Die Zerstörung der irakischen Stadt Falludschah durch das US-Militär, die chinesische Niederschlagung des Tienanmen-Aufstandes und die Bombardierung des russischen Parlaments durch Boris Jelzin führte er als Beispiele dafür an, was er mit den von Rebellen gehaltenen Städten wie Derna und Al-Bayda zu machen gedenke. Er drohte damit, Dissidenten zu „exekutieren“, und erwähnte das Massaker von Waco in den USA als Vorbild.

Er rief seine Anhänger auf, „Libyen Haus für Haus zu säubern“, und forderte gleichzeitig offen von den imperialistischen Mächten, ihn zu unterstützen. Als Argument dient ihm die Behauptung, Libyens zweitgrößte Stadt Bengasi drohe in die Hände islamischer Fundamentalisten zu fallen und „al-Qaida einen Stützpunkt zu bieten“.

Es gibt derzeit nicht den geringsten Hinweis auf eine bedeutende Rolle islamistischer Fundamentalisten beim Aufstand. Triebkraft ist vielmehr wirtschaftliche Not, zudem brechen regionale Gegensätze auf, die während der 41 Jahre langen Herrschaft Gaddafi überdeckt und in andere Kanäle gelenkt worden waren.

Ungeachtet seines Selbstdarstellung als “Revolutionär aus dem Zelt”, der als “Märtyrer” zu sterben bereit ist, herrscht Gaddafi im Interesse einer kleinen bürgerlichen Clique, die es durch Libyens enorme Erdölreserven zu phänomenalem Reichtum gebracht hat. Das Land ist der neuntgrößte Ölproduzent der Welt und führender Lieferant Italiens und anderer europäischer Länder.

Während er in den ersten Jahrzehnten seiner Herrschaft von den Massen unterstützt wurde – u.a. während der scharfen Konfrontation mit der Reagan-Administration Mitte der Achtziger Jahre – hat sich Gaddafi in der jüngeren Vergangenheit zunehmend isoliert und an Popularität verloren. Nach seiner Ansprache im Fernsehen fanden sich nur wenige hundert Anhänger auf dem Grünen Platz in Tripolis ein, die meisten von ihnen Polizisten und Sicherheitskräfte.

Während der Aufstand um sich griff, wechselten zahlreiche hochrangige Vertretern des Regimes die Seiten. Zuletzt Abdel Fattah Junis, Innenminister und Kommandant eines militärischen Verbandes innerhalb der libyschen Armee. Er war ein enger Gaddafi-Vertrauter seit dem Putsch von 1969, der zum Sturz der libyschen Monarchie führte.

Junis verkündete am Montag in Bengasi, er schließe sich der Rebellion an. Er sagte gegenüber Al-Dschasira: „Als Antwort auf die Revolution gebe ich hiermit meinen Rückzug von allen Funktionen bekannt". Dabei rief er auch die libysche Armee auf, sich den Protesten und ihren "legitimen Forderungen" anzuschließen.

Regierungsfeindliche Demonstranten haben die Hälfte des Küstenstreifens, an dem die Mehrheit der libyschen Bevölkerung lebt, unter ihre Kontrolle gebracht. Das Gebiet reicht von der ägyptischen Grenze bis zur Stadt Sirte, die etwa 600 Kilometer weiter im Westen liegt. Presseberichten zufolge bewachten bewaffnete Einwohner von Adschabiya, westlich von Bengasi, die nahegelegene Erdölförderungsanlagen und Leitungen wie auch den Ölhafen von Zueitina.

In den Städten im Westen des Landes, einschließlich Tripolis, kam es zu vereinzelten Kämpfen, aber Gaddafis Kräfte schienen dort am Dienstag die Oberhand zu behalten. Wie die Online-Zeitung Quryna berichtet, griffen Truppen der libysche Armee in der Stadt Sabratah ein, die etwa 75 km westlich von der Hauptstadt liegt, nachdem Demonstranten dort die Büros der Sicherheitskräfte angegriffen und zerstört hatten.

Einwohner von Tripolis, die mit Al-Dschasira und westlichen Nachrichtenagenturen sprachen, berichteten Montag und Dienstag von Dutzenden Toten nach brutalen Angriffen der Sicherheitskräfte auf Anti-Gaddafi-Demonstranten, bei denen schwere Waffen, Panzer, Hubschrauber und Kampfflugzeuge zum Einsatz kamen. Al-Dschasira schätzt die Zahl der Toten allein in Tripolis auf über zweihundert.

Zwei libysche Mirage F1-Jagdflieger landeten am Montag auf Malta. Ihre Piloten erklärten, sie seien Oberste der Okba-bin-Nafe-Basis in der Nähe von Tripolis und hätten die Desertion gewählt, um nicht auf Demonstranten schießen zu müssen.

Mindestens vierzig Menschen wurden Sonntagnacht und Montagmorgen wegen Schussverletzungen in der Notaufnahme vom Zentralkrankenhaus in Tripolis behandelt. Zwölf weitere Menschen starben auf dem Weg dorthin. Es gab so viele Einlieferungen, dass Ärzte wegen Versorgungsengpässen Patienten auf andere Kliniken verteilen mussten. Die Häuserwände in den Armenvierteln Tadschura und Faschlum sind von Kugeln durchlöchert, in den Straßen lagen Tote und Verwundete.

“Eine Gruppe von Geländewagen fuhr durch meine Straße in Richtung Innenstadt, darin maskierte Männern in Militäruniform und schwer bewaffnet“, erzählte ein Einwohner per Internettelefonie der Washington Post. „Es sind die Garden des Regimes. Gott stehe uns bei heute Nacht! Hubschrauber beschießen die Menschen in Tripolis aus der Luft.“

Einem Bericht der Nachrichtenagentur Associated Press zufolge schossen Milizen mit scharfer Munition „auf jedes menschliche Wesen, das sich bewegte”, unter anderem auch auf Krankenwagen. Ein Einwohner erzählte Associated Press: „In den Straßen liegen Leichen. Die Verletzten finden weder ein Krankenhaus noch einen Krankenwagen, der sie retten könnte. Niemand kommt rein, und wenn es jemand schafft, wird er erschossen.“

Die Los Angeles Times interviewte einen Geschäftsmann aus Tripolis. Er sagte, dass Männer mit automatischen Waffen am frühen Montagmorgen nach der Rede von Gaddafis Sohn Seif al-Islam das Feuer auf Demonstranten eröffnet hätten. „Überall lagen Leichen herum“, sagte er und fügte hinzu, tagsüber seien vier Hubschrauber über die Stadt geflogen und hätten auf Demonstranten geschossen.

Ein weiterer Einwohner, der mit dem Nachrichtendienst McClatchy sprach, berichtete, er habe siebzig Leichen in einem Park in der Nähe des Grünen Platzes in der Innenstadt von Tripolis gesehen. „Es wird pausenlos geschossen“, sagte er. „Es ist im Grunde ein Kriegsgebiet.“

Demonstranten übernahmen die Stadt Garyan in der Nähe von Tripolis, brannten die Polizeistation in Meslala nieder und marschierten weiter nach Tarhunah, wo sich die Polizei ihnen anschloss. Auch andere Städte um Tripolis herum, darunter Al-Zawiya, Misrata und Khoms, befanden sich unter der Kontrolle der Aufständischen.

Im Osten brach die Macht des Gaddafi-Regimes am Sonntag angesichts der bewaffneten Menschenmassen zusammen. Polizisten und Soldaten rebellierten und schlossen sich den Menschen in den Straßen von Bengasi und anderen Städten an. Menschenrechtsorganisationen berichteten, allein in Bengasi seien mehr als 250 Menschen getötet worden.

Ein Einwohner namens Marai Al Mahry sprach per Telefon mit der Nachrichtenagentur Reuters und berichtete, sechsundzwanzig Menschen seien während des Aufstands in Al-Bayda, Libyens drittgrößter Stadt, getötet worden. Demonstranten seien mit Panzern und Flugzeugen angegriffen worden. „Das einzige, was wir jetzt tun können“, sagte er, „ist nicht aufzugeben, nicht zu kapitulieren, nicht zurückzuweichen. Wir werden sowieso sterben, ob es uns gefällt oder nicht. Eins ist klar: Es ist ihnen egal, ob wir leben oder nicht. Dies ist Völkermord.“

Andere Augenzeugen berichteten, in Al-Bayda seien Polizei und Armeetruppen aneinandergeraten. Dabei hätten sich die Polizisten auf die Seite der Aufständischen gestellt und letztlich das Militär zum Rückzug aus der Stadt zwingen können. In der gesamten Osthälfte des Landes patrouillierten bewaffnete Einwohner in den Straßen der Städte und die Vertreter des Gaddafi-Regimes sind verschwunden.

Innenminister Junis war nur der letzte in einer Reihe von hochrangigen Vertretern des Regimes, die in den vergangenen Tagen von ihren Ämtern zurückgetreten sind. Zu ihnen zählen Justizminister Mustafa Mohamed Abud Al-Dscheleil und Dutzende libyscher Diplomaten, unter ihnen die Vertreter des Regimes bei den Vereinten Nationen und der Arabischen Liga und die libyschen Botschafter in den Vereinigten Staaten, China, Indien, Indonesien, Bangladesch, Malaysia, Polen und Australien.

Wichtigstes Anliegen der imperialistischen Mächte ist es, ihre Interessen an Libyens Ölindustrie zu sichern und die eigene militärische Stärke als Druckmittel ins Spiel zu bringen. Kriegsschiffe und Militärtransporter aus einem halben Dutzend europäischer Länder, einschließlich den Niederlanden, Deutschland und Italien, sind bereits auf dem Weg nach Libyen, in die ehemalige italienische Kolonie.

Der italienische Außenminister Franco Frattini äußerte bei einem Besuch in Kairo besorgt, „die drohende Gefahr eines Bürgerkriegs in Libyen könne zu einem Flüchtlingsstrom nach Italien führen.“ Dasselbe Argument hatte der italienischen Regierung bereits als Vorwand gedient, um Sicherheitskräfte nach Tunesien zu senden.

Die beiden größten Ölproduzenten im Land, der italienische Konzern ENI und der spanische Energiemulti Repsol, stellten die Produktion ein, stoppten die Exporte und begannen, ihre Belegschaft außer Landes zu bringen. Shell, BP und die deutsche Wintershall, ein Ableger der BASF, taten es ihnen gleiche.

Sowohl die Arabische Liga als auch der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hielten am Dienstag Krisensitzungen ab. Sie diskutierten Möglichkeiten der Intervention in der libyschen Krise und wie die revolutionär-explosive Entwicklung im Land einzudämmen sei. Schließlich kann diese die Bewegung weiter anfachen, die die Region ohnehin schon wie ein Lauffeuer überzieht,

Loading