Perspektive

Was bedeutet die Katastrophe in Japan?

Während die Überlebenden noch benommen die Trümmer ihres Lebens zusammentragen und nach Familienmitgliedern suchen, wird das ganze Ausmaß der Katastrophe in Japan erst allmählich erkennbar. Die World Socialist Web Site drückt den von Tod und Zerstörung betroffenen Familien ihr tiefstes Beileid aus.

Mindestens 10.000 Menschen kamen zu Tode. Diese Zahl wird in den nächsten Tagen vermutlich steigen, wenn die Rettungsteams die Küstenstädte durchsuchen, die im Nordosten Japans von den zehn Meter hohen Tsunamiwellen überflutet wurden. Satellitenaufnahmen zeigen, dass die Kraft des Wassers ganze Städte von der Landkarte wischte. Schiffscontainer und ganze Schiffe wurden weit ins Inland getragen. Züge und LKWs wurden von den Wellen erfasst, Häuser aus ihren Fundamenten gerissen und zertrümmert. Durch zerstörte Gasleitungen gerieten Häuser in der Flut in Brand.

In der kleinen, in einem von steilen Felswänden umfassten Tal gelegenen Küstenstadt Minamisanriku, wurden viergeschossige Häuser von einer Welle umgerissen. Mindestens 10.000 der 17.000 Bewohner verloren ihr Leben. Die Bewohner wurden 30 Minuten vor dem Eintreffen der Welle gewarnt, aber die einzige aus dem Tal führende Straße wurde durch den sich stauenden Verkehr selbst blockiert und viele konnten nicht rechtzeitig fliehen. Die Überlebenden drängen sich nun in der örtlichen Schule zusammen, einem der wenigen höher gelegenen Gebäude. Auch das Krankenhaus wurde zerstört. Verletzte werden mit Hubschraubern in andere Städte gebracht.

Für die Millionenstadt Sendai, eine der am schwersten betroffenen Städte, gibt es aktuell keine genauen Angaben zur Zahl der Toten und Verletzten. Hunderte Leichen wurden aber bereits an die Strände gespült und Rettungskräfte durchsuchen noch die Trümmer. Überlebende stehen Schlange nach Wasser und Nahrung. Die Energieversorgung ist unterbrochen und es gibt bei kaltem Winterwetter keinerlei Heizung. Autofahrer warten auf das rationierte Benzin, hoffen verzweifelt darauf, dass sie einen vollen Tank haben, falls ein Nachbeben einen weiteren Tsunami auslöst.

Über dieser von Erdbeben und Tsunamiwellen ausgelösten Katastrophe schwebt die Gefahr nuklearer Kernschmelzen vom Ausmaß Tschernobyls oder Three Mile Islands. Unmittelbar nach dem Beben wurde für die Nuklearanlage Fukushima in der Präfektur Miyagi der Notstand ausgerufen. Etwa 200.000 Menschen wurden evakuiert.

Am Samstagnachmittag kam es zu einer Explosion im Reaktor Fukushima I, die offenbar die Betonhülle des ersten Reaktors zerstörte. Das Stahlgehäuse des Reaktors soll intakt geblieben sein, aber in allen drei Reaktoren spielen sich partielle Kernschmelzen ab. Japans Atomaufsichtsbehörde (Nisa) bestätigte, im Umfeld die radioaktiven Elemente Cäsium-137 und Jod-131 festgestellt zu haben, Nebenprodukte einer Kernschmelze.

Die Behörden warnten vor weiteren Explosionen und ließen, um die weitere Erhitzung der Reaktoren aufzuhalten, Meerwasser einleiten. Diese Maßnahme ist ein Indiz für die Schwere der Notlage, weil die Reaktoren dadurch unbrauchbar werden. Sie wurden aufgegeben, um ein größeres Unglück zu verhindern.

Am Montagmorgen japanischer Zeit hieß es, dass in insgesamt sechs Reaktoren an der nordöstlichen Pazifikküste des Landes die Kühlsysteme zusammengebrochen seien. Man sah sich gezwungen den Notstand auszurufen bzw. auf Notfallpläne zurückzugreifen. Weitere sechs Reaktoren wurden vorsorglich heruntergefahren und werden auf Erdbebenschäden untersucht.

Der britische Atomexperte John Large, der im Auftrag der russischen Regierung die Bergung des verunglückten russischen Atom-U-Bootes Kursk geleitet hatte, sagte in den britischen Channel 4 News, dass das volle Ausmaß der Gefahr erst in den kommenden Tagen erkennbar werde. Eine Explosion des zweiten Fukushima-Reaktors stelle eine größere Gefahr dar, weil es sich um einen MOX-Reaktor handele, dessen Brennstäbe Plutonium enthalten. Er warnte, dass ein der Tschernobyl-Katastrophe vergleichbares Ereignis einige Tage brauche um heranzureifen und dann womöglich der Wind auf Süden gedreht habe, was die Radioaktivität in Richtung der 35-Millionen-Metropole Tokio treiben würde.

Wie andere große Naturkatastrophen des vergangenen Jahrzehnts – der Tsunami im Indischen Ozean, Hurricane Katrina, der Zyklon Nargis, die Überschwemmungen in Pakistan, die Beben in Haiti, Kaschmir und Wenchuan (China) - ist die Katastrophe in Japan ein Weltereignis. Es ruft weltweites Mitgefühl für die Opfer und die Überlebenden wach. Diese Naturkatastrophe wirft auch ein Licht auf die Widersprüche der kapitalistischen Ordnung, in deren Rahmen sie sich ereignet.

Die Nuklearindustrie Japans und der ganzen Welt wird nach den Vorgaben des privaten Profites geführt. Eigentümer und Betreiber haben das Interesse, an allen Ecken und Enden an den Kosten für die Sicherheit zu sparen, um so die Nettoprofite zu steigern – besonders seit die Regierung die Industrie von der finanziellen Haftung im Falle einer Katastrophe entbunden hat.

Beim Fukushima-Reaktor handelt es sich um eine vierzig Jahre alte Anlage von General Electric, die dem heutigen Stand der Technik kaum noch entspricht. Dieses veraltete Modell findet sich in einem halben Dutzend anderer japanischer Atomanlagen und in mindestens einundzwanzig in den USA, zu denen auch der New Jersey Power Reactor 55 Meilen östlich von Philadelphia und 90 Meilen südlich von Manhattan gehört.

Der Betreiber des Fukushima-Komplexes, Tokyo Electric Power (TEPCO), hat einen zwielichtigen Ruf was Sicherheitsfragen betrifft. 2003 mussten nach einem Skandal wegen gefälschter Sicherheitsinspektionsberichte zeitweilig alle seine siebzehn Nuklearanlagen abgeschaltet werden. Bereits 2006 wiederholte sich der Eklat um gefälschte Unterlagen.

Die Los Angeles Times berichtet, Kritiker hätten seit langem „ihre tiefe Sorge um die Sicherheit vieler japanischer Atomanlagen“ geäußert, manche bereits in den siebziger und achtziger Jahren. Fukushima haben die Kritiker schon lange im Visier, aber auch Hamaoka, eine Nuklearanlage einhundert Meilen südwestlich von Tokio, die auf einer geologischen Bruchlinie steht.

Der japanische Seismologe Katsuhiko Ishibashi von der Kobe Universität trat 2005 aus einem Komitee, welches Sicherheitsrichtlinien für Reaktoren erstellte, aus, weil seine Einwände gegen den Bau von Nuklearreaktoren auf geologischen Bruchlinien ignoriert wurden. Er sagte gegenüber der Times, Japan sei eine „für Erdbeben anfällige Insel, an deren Ufer 54 Nuklearanlagen stehen.“ Das Land sei wie ein „Kamikazeflieger mit Handgranaten am Gürtel.“

Die starke Abhängigkeit Japans von der Atomenergie – derzeit werden 30 Prozent des Energiebedarfs durch 54 Kernkraftwerke erzeugt und bis 2030 sollen es durch den Bau weiterer Kernkraftwerke fünfzig Prozent sein – ist das Ergebnis von Entscheidungen der herrschenden Elite Japans in den vergangenen vierzig Jahren. Als der arabisch-israelische Krieg 1973 ein Ölembargo der OPEC-Staaten auslöste, wurden die Weltwirtschaft und besonders Japan schwer getroffen, dessen Atomenergie damals nur einen kleinen Teil der gesamten Energieversorgung ausmachte.

Die World Nuclear Alliance schreibt auf ihrer Website, Japan sei besonders von Ölimporten aus dem Nahen Osten abhängig gewesen. 66 Prozent seiner Elektrizitätsgewinnung hingen 1974 vom Öl ab. „Diese … Verletzbarkeit wurde durch den Ölschock 1973 akut. Die Umorientierung der heimischen Energieversorgung resultierte in Diversifikation und besonders in einem großangelegten Nuklearprogramm. Vorrang hatte die Verringerung der Abhängigkeit des Landes von Ölimporten.“

In einer mit Vernunft geplanten globalen Wirtschaft, würde die Errichtung dutzender Kernkraftwerke auf der aktivsten geologischen Bruchzone des Planeten – und dazu in einem der am dichtesten besiedelten Gebiete der Welt – als in höchstem Maße fahrlässig, wenn nicht als Irrsinn angesehen werden. Aber nicht so in der kapitalistischen, in rivalisierende Nationalstaaten gespaltenen Weltwirtschaft. In dieser war es für die japanische Bourgeoisie, die im Inland kaum auf Gas, Öl oder Kohle zugreifen kann, zwingend, sich eine adäquate heimische Energieversorgung aufzubauen.

Die herrschende Elite Japans hat aber bereits lange vor 1973 Erfahrungen mit Energiekrisen gesammelt. Die Entscheidung des japanischen Imperialismus für einen Präventivschlag gegen die USA im zweiten Weltkrieg wurde dadurch forciert, dass die Roosevelt-Regierung als Antwort auf Japans Überfälle auf China ein Embargo für Treibstoffe und Schrott gegen Japan verhängte.

Die technologischen Fähigkeiten Japans, dem führenden Hersteller erdbebensicherer Gebäude, sind ebenso unstrittig wie die Erfahrenheit der Bevölkerung des Landes im Umgang mit Erdbeben. Dennoch deckte diese Naturkatastrophe nicht nur tektonische Risse auf, sondern auch gesellschaftliche.

Der Kapitalismus und sein Nationalstaatensystem sind nicht in der Lage, die Sicherheit und das Wohlergehen der Menschheit zu gewährleisten – auch nicht in so hochentwickelten Ländern wie Japan. Nur eine wahrhaft wissenschaftliche und globale Perspektive, die Errichtung einer rational geplanten, im Gemeineigentum befindlichen Weltwirtschaft, kann der Menschheit eine Zukunft geben. Die Voraussetzung dazu ist die Abschaffung des kapitalistischen Privateigentums und des Nationalstaatensystems.

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