Perspektive

Der Krieg gegen Libyen: ein neuer Ausbruch imperialistischer Rivalität

Seit den Dreißiger Jahren, die zum zweiten Weltkrieg führten, ist der Kampf um die gegensätzlichen ökonomischen und strategischen Interessen der rivalisierenden imperialistischen Mächte noch nie so offen ausgetragen worden wie jetzt, im Krieg gegen Libyen.

Laut verkünden die Imperialisten ihre “humanitäre Besorgnis“ um das Leben libyscher Zivilisten und berufen sich auf die sogenannte „Verantwortung zum Schutz der Zivilbevölkerung“. Aber kein noch so humanitärer Schleier kann ihre entblößten Reißzähne verdecken.

Die Vereinigten Staaten führten die ersten Angriffe aus, um Frankreich und Großbritannien zuvorzukommen. Wie jetzt bekannt wurde, operierten CIA-Agenten schon lange vor der Verabschiedung der UN-Resolution 1973 in Libyen. Frankreich und Großbritannien dagegen sahen Amerikas wirtschaftliche Schwäche ohne Zweifel als willkommene Gelegenheit, den strategischen Rückschlag, den sie 1956 wegen Suez erlitten hatten, wieder gutzumachen.

Die USA hatten es noch auf einen anderen Rivalen abgesehen. Sie beabsichtigten, Beijing zu beweisen, dass der amerikanische Imperialismus noch immer in der Lage sei, seine Interessen durch militärische Intervention und einen „Regimewechsel“ durchzusetzen. Denn China dehnt seine Wirtschaftsbeziehungen und seinen politischen Einfluss auf Afrika durch chinesisches Geld und Investitionen ständig aus; allein 2010 nahm der Handel zwischen den beiden Ländern um mehr als vierzig Prozent zu.

Auch unter den europäischen Mächten gibt es Meinungsverschiedenheiten. Der Konflikt in der Frage, wer nach den ersten US-Militärschlägen die Operation leiten solle, entsprang zum Teil Italiens Befürchtung, Großbritannien und Frankreich könnten ihm den Zugang zu den wertvollen Ölreserven des „neuen“ Libyen verwehren.

Großbritannien, das den afrikanischen Kontinent zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts zusammen mit Frankreich regelrecht zerstückelt hat, schaut weit über Libyen hinaus. Wie Außenminister William Hague Reportern auf einer Konferenz in London sagte: „Großbritannien verfolgt eine ehrgeizige Außenpolitik mit dem Ziel, unseren Einfluss in der Welt auszubauen und unsere Wirtschaft zu stärken.“ Er fügte hinzu, bei den „Nationen Afrikas“ handle es sich um einen strategischen Bereich britischer Interessen.

Hague wurde noch deutlicher und sagte, die jüngsten Ereignisse in Nordafrika und im Mittleren Osten seien schon dabei, “die Finanzkrise von 2008 und den 11. September“ als die wichtigsten Ereignisse der frühen 21. Jahrhunderts zu überholen.

Der Ausbruch unverhüllten imperialistischen Gangstertums und das Auftreten offener Konflikte und Rivalitäten ist nicht das Ergebnis jüngerer Erwägungen. Letztendlich ist es der politische Ausdruck gewaltiger Veränderungen in den tektonischen Platten der Weltwirtschaft, die die politischen Beziehungen erschüttern, die seit dem Ende des zweiten Weltkrieges zwischen den Großmächten etabliert wurden.

Das Ausmaß der wirtschaftlichen Umgestaltung zeigt sich in den kürzlich veröffentlichten Zahlen zur weltweiten Produktion. Diese belegen, dass China die USA 2010 als führendes herstellendes Land der Welt abgelöst hat. Sein Anteil am globalen Ausstoß beträgt jetzt 19,8 Prozent, verglichen mit 19,4 Prozent für die USA.

Seit 1895 nahmen die USA die führende Position unter den produzierenden Ländern ein. Damals eroberten sie diese Position nach einem dynamischen Wirtschaftsaufschwung, dreißig Jahre nach dem amerikanischen Bürgerkrieg, und sie behielten sie seither durch alle wirtschaftlichen Verwerfungen von über hundert Jahren bei. Zu Ende des zweiten Weltkrieges stieg die amerikanische Produktion sogar auf bis zu fünfzig Prozent des Weltaufkommens an.

Der rapide Aufstieg Chinas, insbesondere während des vergangenen Jahrzehnts, stößt bei den USA auf wachsende Feindseligkeit.

Aber die Umkehrung des amerikanisch-chinesischen Verhältnisses ist nicht die einzig bedeutende Veränderung. 2000 produzierten die großen Länder der industrialisierten Welt (Westeuropa, die USA und Japan) 72 Prozent des Weltaufkommens. Das war zwar weniger als die achtzig Prozent von 1990, doch es bedeutete noch keine qualitative Veränderung. Diese sollte sich im folgenden Jahrzehnt entwickeln.

2010 beanspruchten diese Länder nur noch wenig mehr als die Hälfte des weltweiten industriellen Ausstoßes für sich. Die Veränderung erfolgte in Richtung der sogenannten BRIC-Staaten: Brasilien, Russland, Indien und China. 2000 waren sie für elf Prozent des globalen Ausstoßes verantwortlich. Letztes Jahr hatte sich ihr Anteil auf 27 Prozent erhöht.

Diese Zahlen deuten auf die Quelle der Differenzen bei der Abstimmung über die UN-Resolution 1973 hin, die eine Militärintervention gegen Libyen autorisierte. Die Resolution endete mit 10 zu 0, bei fünf Enthaltungen durch Brasilien, Russland, Indien, China (die BRIC-Staaten) und Deutschland.

Die Nachkriegspolitik in Europa basierte auf der Kollaboration Frankreichs und Deutschlands. Doch jetzt haben die Antagonisten aus zwei Weltkriegen einander widersprochen, und die aufstrebenden BRIC-Staaten weichen von den älteren kapitalistischen Mächten ab. Natürlich schließen diese Differenzen nicht aus, dass es in anderen Fragen künftig wieder Übereinstimmung gibt, aber sie belegen eine Zunahme geopolitischer Spannungen, die, wie die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts zeigt, unausweichlich zu inter-imperialistischem Krieg führen.

Die grundlegenden Veränderungen in der Weltwirtschaft und die geopolitischen Spannungen, die sie hervorrufen, verdeutlichen einmal mehr die Richtigkeit von Lenins Voraussagen in seinem Werk „Der Imperialismus, das höchste Stadium des Kapitalismus“.

1916, inmitten des Ersten Weltkrieges, schrieb Lenin im „Imperialismus“, dass der Sozialismus eine historische Notwendigkeit sei, weil er die einzige Möglichkeit sei, die Bedrohung der Zivilisation durch imperialistischen Krieg zu beenden. Lenin wandte sich direkt gegen den Führer der deutschen Sozialdemokratie, Karl Kautsky, der die theoretische Begründung für die Entscheidung der deutschen Sozialdemokratie geliefert hatte, ihre „eigene“ Regierung im Krieg zu unterstützen. Kautsksy behauptete, der Krieg ergebe sich nicht organisch aus dem Kapitalismus. Demzufolge wären die imperialistischen Mächte in der Lage, ihre Angelegenheiten so zu regeln, dass sie ihn vermeiden könnten.

Doch Lenin erklärte, ein solcher Zustand des so genannten “Ultra-Imperialismus” (Kautsky) könne niemals permanent sein, denn jegliche Übereinstimmung zwischen imperialistischen Mächten zu einem Zeitpunkt würden zu einem anderen wieder zerbrechen, und zwar wegen der ungleichmäßigen historischen Entwicklung. Und diese Störung des vorhergehenden ökonomischen Gleichgewichts würde einen neuen politischen und militärischen Kampf um Kolonien, Einflusssphären und Märkte in Gang setzen – und einen neuen Weltkrieg.

Heute, da wir uns dem hundertsten Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs nähern, gewinnt Lenins Analyse inmitten gewaltiger globaler Veränderungen des Weltkapitalismus größere Bedeutung denn je. Der militärische Angriff auf Libyen und der imperialistische Appetit, der dazu geführt hat, machen deutlich, dass der imperialistische Krieg wieder auf der Tagesordnung steht. Die Arbeiterklasse kann dieser schrecklichen Bedrohung nur begegnen, wenn sie sich mit den immensen Lehren aus dem zwanzigsten Jahrhundert bewaffnet und den Kampf für das Programm der sozialistischen Weltrevolution aufnimmt.

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