Historische und internationale Grundlagen der Socialist Equality Party (Großbritannien)

Hier der dritte Teil der Historischen und Internationalen Grundlagen der Socialist Equality Party (Großbritannien). Das Dokument wurde auf dem Gründungskongress der Socialist Equality Party (SEP) in Manchester vom 22. bis 25. Oktober 2010 einstimmig verabschiedet. Es untersucht die wichtigsten politischen Erfahrungen der britischen Arbeiterklasse und konzentriert sich insbesondere auf die Nachkriegsgeschichte der trotzkistischen Bewegung.

 

Es wird in elf Teilen auf der WSWS veröffentlicht.

Teil 3
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Die Revolutionary Communist Party im zweiten Weltkrieg

51. Die Vereinigung der britischen Sektion auf dem Höhepunkt des zweiten Weltkriegs war ein Fortschritt für die Weltbewegung. Die britische Bourgeoisie sah in ihr eine Bedrohung, da zu dieser Zeit sämtliche Arbeiterorganisationen den Krieg als notwendiges Mittel unterstützten, angeblich um die Demokratie gegen den deutschen Faschismus zu verteidigen. Die RCP-Gründungskonferenz betonte dagegen, dass Großbritanniens wirkliches Kriegsziel in der Verteidigung seiner kolonialen Vorherrschaft über die Völker und Ressourcen des britischen Empire bestand. Sie klagte die reformistischen und stalinistischen (Irre-)Führer als Verräter an den Interessen der internationalen Arbeiterklasse an.

“Durch ihre Unterstützung für den Krieg verraten die Gewerkschaften, die Labour Party und die Kommunistische Partei mit ihren Satellitenorganisationen die historischen Interessen der Arbeiterklasse und die Interessen der kolonialen Volksmassen, die durch den britischen Imperialismus unterdrückt werden. Es ist die Pflicht revolutionärer Sozialisten, die Führung dieser Organisationen gnadenlos als Agenten der herrschenden Klasse in den Rängen der Arbeiterschaft bloßzustellen, die breiten Massen der Arbeiter von der Führung dieser Organisationen loszulösen und sie für die Partei der Vierten Internationale zu gewinnen.“13

52. Die “Patriotische Front” konnte die Klassenkämpfe nicht auf Dauer unterdrücken. Sie brachen schließlich außerhalb ihrer Kontrolle und in Opposition zur offiziellen Arbeiterbewegung aus. Im Frühjahr 1944 kam es zu drei Millionen Streiktagen, unter anderem in der Waffenproduktion, den Werften und Bergwerken. Die RCP stürzte sich enthusiastisch in diese Kämpfe. Sie spielte beim Streik der Technikerlehrlinge in Tyneside eine führende Rolle und organisierte Massenproteste mit der Forderung nach Arbeiterkontrolle. Der Streik richtete sich gegen Pläne Arbeitsminister Bevins, Arbeiter in die Kohlegruben zwangszuverpflichten.

53. Auch in der Armee entwickelte sich ein rebellischer Geist. Die RCP-Mitglieder und Mitglieder anderer Sektionen der Vierten Internationale verbrüderten sich mit Zivilisten und Soldaten, wo immer sie stationiert waren. Im September 1943 waren Trotzkisten an der Revolte von 191 Soldaten in Montgomerys Achter Armee in Salerno, Sizilien, beteiligt; das war die größte Kriegsmeuterei in der britischen Militärgeschichte. Sie waren in Ägypten aktiv, wo Testwahlen in den Streitkräften einen trotzkistischen Premierminister ergaben und zu einer überwältigenden Unterstützung für die Forderung nach entschädigungsloser Enteignung des Bodens und der Banken führten.

54. Als Antwort auf den Tyneside-Streik hielt das Kriegskabinett eine Sondersitzung wegen der RCP ab, und Bevin griff die Organisation in einer Rede im Parlament an. Einen Monat nach ihrer Gründungskonferenz fand eine Razzia im Büro der RCP und ihrer Führer statt. Haston, Heaton Lee, Roy Tearse und Ann Keen wurden verhaftet. Die RCP-Führer waren die ersten, die unter dem „Trades Disputes and Trades Unions Act“ (Streik- und Gewerkschaftsgesetz) von 1927, das nach dem Generalstreik von 1926 verabschiedet worden war, angeklagt wurden. Ihnen drohten Gefängnisstrafen von bis zu fünf Jahren. Die Razzien wurden von einer Hexenjagd der Medien begleitet, die von der Daily Mail angeführt wurde. Unter der Überschrift „Stalin-Hasser fachen illegale Streiks an“ berichtete die Zeitung: „Die Trotzkisten versuchen, die gesamte Zivilisation in Schutt und Asche zu legen, in der Hoffnung, dass ihre Art des Kommunismus dann triumphieren werde. Diesen Kommunismus lehnte Stalin ab, als er Trotzki des Landes verwies und sich an die Arbeit machte, das Russland aufzubauen, das in der Lage war, der größten militärischen Bedrohung in der Geschichte zu widerstehen. Trotzdem tun diese Leute alles, um Stalin zu schaden.“

55. In einem am 13. April 1944 von Innenminister Herbert Morrison verfassten, ausgiebigen Memorandum über die RCP, hieß es: „Die Trotzkisten betrachten die Gesellschaftsform, die heute in der Sowjetunion existiert, nicht als Sozialismus – sie glauben, dass wahrer Sozialismus nur durch mehr oder weniger simultane Revolution auf dem größeren Teil des Globus erreicht werden kann; und sie sind erbitterte Feinde des stalinistischen Regimes, weil es nicht nur ‚die Revolution in Russland verraten‘, sondern die Entwicklung der Arbeiterklasse in Richtung Weltrevolution durch seine ‚reaktionäre‘ Politik verzögert hat.“

56. Mit der Bemerkung, dass die Stalinisten “die Trotzkisten und ihre kleine Zeitung gern unterdrückt sehen würden”, fährt Morrison fort: “Das Endziel der Trotzkisten ist die Errichtung von Arbeiterregierungen in aller Welt mit Hilfe von weltweiten Aufständen, die die Produktionsmittel in allgemeinen Besitz und unter die Kontrolle der Arbeiter bringen werden. Sie glauben, dass als Ergebnis des Krieges die Weltrevolution wieder möglich wird.“

57. Die Anwendung des Gesetzes von 1927 wurde mit einer breiten Verteidigungskampagne durch das „Victims Defence Committee“ beantwortet, das gegen dieses Gesetz kämpfte. Dagegen verlangte die stalinistische Zeitung Daily Worker: „Lasst die Regierung mit harter Hand gegen diese Saboteure vorgehen“. Im Mai 1944 wurden die RCP-Führer in Newcastle Moor Hall vor Gericht gestellt und für bis zu einem Jahr ins Gefängnis geschickt. Der Widerstand war so groß, dass die Labour Party gezwungen war, ihre alljährliche Konferenz zu verschieben, und die Regierung nicht in der Lage war, das Gesetz gegen einen Streik der Bergarbeiter durchzusetzen. Im September wurden die Urteile gegen die RCP-Führer aufgrund ihres Einspruchs aufgehoben.

Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg

58. Am Kriegsende gab es allen Grund, revolutionäre Aufstände zu erwarten, wie sie nach dem Ende des ersten Weltkrieges ausgebrochen waren. Europa lag in Trümmern. Die Wirtschaft war verwüstet, und die herrschenden Eliten waren entweder direkt an der faschistischen Barbarei beteiligt gewesen oder hatten vor Hitlers Armeen kapituliert. Die Rote Armee kontrollierte große Gebiete des Kontinents, während in Italien und Griechenland Bürgerkrieg herrschte. Das Kolonialsystem war erschüttert, und antiimperialistische Massenproteste überzogen Indien, China und Afrika.

59. Obwohl Großbritannien zu den Siegern zählte, ging es schwer angeschlagen aus dem Krieg hervor. Der Konflikt hatte den Weg für die Konsolidierung der USA als dominierende kapitalistische Macht auf Kosten Großbritanniens bereitet. Zusätzlich zu den massiven Zinszahlungen für die Kredite, welche die britische Bourgeoisie zur Finanzierung des Krieges in den USA aufgenommen hatte, war sie mit Revolten in ihren kolonialen Besitzungen konfrontiert. Zur gleichen Zeit forderte die arbeitende Bevölkerung im Lande, dass sie ihr Versprechen einlöse und ein „Land schaffe, wie es Helden gebührt“. Das Ergebnis der Unterhauswahlen im Juni 1945 unterstrich die radikale Stimmung in der Arbeiterklasse. Die Stimmen tausender britischer Soldaten sorgten dafür, dass Churchill aus dem Amt gejagt wurde und Attlees Labour Party mit einem Erdrutschsieg an die Macht kam.

60. Aber jede Einschätzung des objektiven Potentials für eine Revolution muss den kritischen Faktor der Führung der Arbeiterklasse mit einbeziehen. Der politische Mord an der marxistischen Vorhut durch den Stalinismus, die Zerstörung der Arbeiterbewegung durch die faschistischen Mächte und das bloße Gewicht der im Krieg erlittenen Verluste an Menschen bedeutete, dass der revolutionäre Kader der Vierten Internationale nur wenige hundert Mitglieder umfasste. Die physische Vernichtung der bewusstesten Elemente der Arbeiterklasse erwies sich als ausschlaggebend, und der Imperialismus war in der Lage, diese Phase tiefer Krise zu überwinden.

61. Die stalinistische Bürokratie missbrauchte das Prestige, das die Sowjetunion durch ihren Sieg über Nazideutschland errungen hatte, um jegliche unabhängige Initiative der Arbeiterklasse zu unterdrücken. In Frankreich, Italien, Deutschland und Griechenland wies der Kreml die stalinistischen Parteien an, die bürgerlichen Regierungen zu unterstützen und die Widerstandskämpfer zu entwaffnen. In Osteuropa, wo der Kreml aus Gründen der militärischen Verteidigung die Einsetzung von amerikanisch kontrollierten Marionettenregimes nicht dulden konnte, errichtete die Sowjetunion eine Reihe von „Pufferstaaten“ unter eigener Kontrolle. Die Einführung verstaatlichten Eigentums in diesen Ländern, manchmal um Jahre verzögert, wurde von der systematischen Entrechtung der Arbeiterklasse begleitet.

62. Der Stalinismus verschaffte dem amerikanischen Imperialismus die Zeit, die er brauchte, um seine gewaltigen Ressourcen zur Restabilisierung des Weltkapitalismus zu ordnen. Roosevelt, Churchill und Stalin hatten sich in Verhandlungen in Teheran, Jalta und Potsdam darauf geeinigt, Europa in „Einflusszonen“ aufzuteilen. Aber die Frage, wie mit den Kriegsgegnern Deutschland und Japan umzugehen sei, war offen geblieben. Es wurde überlegt, Deutschland zu veröden, um sein industrielles Wiederaufleben zu verhindern. Am Ende jedoch bekamen beide Länder von den USA erheblich mehr Geld geliehen, und das zu besseren Bedingungen, als Großbritannien, das doch zu den Alliierten zählte. Die Vereinbarung von Bretton Woods 1944 verknüpfte den Wert aller Währungen mit dem Dollar, der wiederum ans Gold gebunden wurde. Von den USA kontrollierte Einrichtungen, wie der Internationale Währungsfond (IWF), die Weltbank und die Welthandelsorganisation (GATT), regulierten die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den kapitalistischen Staaten, um eine Rückkehr zur protektionistischen Politik zu verhindern, die den Weltmarkt in den dreißiger Jahren zerrüttet hatte.

Die Labour-Regierung von 1945

63. Die Labour Party spielte bei der Rettung des britischen Kapitalismus, den die USA in den Schatten gestellt hatten, die zentrale Rolle. Zu dem Zweck war die Labour Party gezwungen, die in ihrer Geschichte weitestgehenden Zugeständnisse an die sozialistischen Hoffnungen der Arbeiterklasse zu machen. Bei der Unterhauswahl von 1945 verpflichtete sie sich, ein allgemeines kostenloses Gesundheitswesen, ein staatlich finanziertes Erziehungswesen, nationalen Versicherungsschutz und sozialen Wohnungsbau einzuführen und die Arbeiter so „von der Wiege bis zum Grab“ zu betreuen. Zusätzlich verstaatlichte die Labour-Regierung ein Fünftel der Produktionskapazitäten des Landes, einschließlich wichtiger Industrien, die für die allgemeinen Interessen des britischen Kapitalismus und den Nachkriegswiederaufbau wesentlich waren. Dies, so hieß es, sei nur der erste Schritt auf dem Weg zur Realisierung des Labour-Zieles von vergesellschaftetem Eigentum.

64. Die Rolle der Gewerkschaften im Krieg wurde auf die Leitung der verstaatlichten Industrien ausgeweitet, wo sie gemeinsam mit Vertretern der Regierung und des Managements die Produktion, die Löhne und die Arbeitsbedingungen regulieren sollten. Solche korporatistischen Maßnahmen lieferten die Grundlage, auf der die Gewerkschaften zu direkten administrativen Agenten des Kapitals zur Disziplinierung der Arbeiterklasse werden sollten.

65. Eine antiimperialistische Massenbewegung, die von einem Aufstand in der Armee begleitet wurde, zwang die Attlee-Regierung, die direkte Herrschaft über den indischen Subkontinent aufzugeben. Die Unabhängigkeit wurde im August 1947 verkündet, aber der Subkontinent wurde in Indien und Pakistan aufgeteilt. Die indische Bourgeoisie verriet den nationalen Unabhängigkeitskampf und das Ergebnis war die Teilung, die ein wahres Blutbad auslöste. Labour unterdrückte aufständische Bewegungen in Großbritanniens Herrschaftsgebieten und „Protektoraten“ brutal, und gleichzeitig hielt es gemeinsam mit dem US-Imperialismus den Widerstand in Griechenland und Korea nieder. Mit dem Einsetzen des Kalten Krieges konnte Labour sich damit brüsten, dass die eigenen Bemühungen zur Verteidigung britischer Interessen zur Gründung der North Atlantic Treaty Organisation (Nato) unter Führung der USA geführt hätten.

66. Die Auswirkungen der Nachkriegsreformen vereinten die breite Masse der Arbeiterklasse hinter der Labour Party. Die britische KP unterstützte dies. 1951 nahm sie „den britischen Weg zum Sozialismus“ an, in dem es hieß: „Großbritannien wird den Sozialismus auf seinem eigenen Weg erreichen. Das Volk Großbritanniens kann die kapitalistische Demokratie in eine wirkliche Volksdemokratie verwandeln, indem sie das Parlament, das Produkt des historischen Kampfes Großbritanniens für die Demokratie, in den Willen der großen Mehrheit des Volkes verwandelt“.

Haston, Grant und die Morrow-Goldman-Fraktion

67. Die politische Vielschichtigkeit des Krieges und der Nachkriegszeit stellten kritische Probleme der revolutionären Perspektive auf die Tagesordnung. Die sich schnell wandelnde Situation sollte zu einer langwierigen Krise in der Vierten Internationale führen. Von Felix Morrow und Albert Goldman in den USA vorgebrachte Differenzen, die das Tempo der revolutionären Entwicklung betrafen, wurden in Großbritannien von Haston und Grant unterstützt. Wie sich zeigen sollte, waren sie nur das erste Anzeichen eines wachsenden Skeptizismus gegenüber der historischen Perspektive der trotzkistischen Bewegung.

68. Morrow verwies auf die Aussicht auf einen wirtschaftlichen Aufschwung in den USA und die gestärkte Position der stalinistischen und sozialdemokratischen Parteien in Europa und forderte, die Vierte Internationale solle sich auf die Agitation für demokratische Forderungen beschränken. Da Morrow und Goldman in der SWP praktisch isoliert waren, eilten Haston und Grant zu ihrer Verteidigung. Die Grundlage ihrer Unterstützung für Morrow wurde von Grant mit folgenden Argumenten offen ausgesprochen: Obwohl Trotzki das Aufkommen einer revolutionären Massenbewegung gegen den Stalinismus und den Imperialismus vorausgesagt habe, sei der Kapitalismus nicht gestürzt worden, und die sowjetische Bürokratie habe ihre Herrschaft auf Osteuropa ausgedehnt. Dadurch werde „die ursprüngliche Perspektive der Bewegung aus Kriegszeiten verfälscht“.

69. Grants Annahme, Trotzki habe eine Garantie für den Kurs der Entwicklung gegeben, war jedoch falsch. Im April 1940 hatte Trotzki geschrieben:

69. “Jede historische Vorhersage ist grundsätzlich bedingt, und je konkreter sie ist, umso bedingter ist sie. Eine Prognose ist kein Schuldschein, der an einem bestimmten Tag eingelöst werden kann. Eine Prognose skizziert nur bestimmte Entwicklungstendenzen. Aber zusammen mit diesen Entwicklungstendenzen wirkt eine unterschiedliche Abfolge von Kräften und Tendenzen, die in einem bestimmten Augenblick vorzuherrschen beginnen. Diejenigen, die exakte Voraussagen konkreter Ereignisse haben wollen, sollten einen Astrologen konsultieren. Die marxistische Prognose hilft nur bei der Orientierung”.15

70. Eine revolutionäre Perspektive beinhaltet nicht die Behauptung, es sei der Arbeiterklasse möglich, zu jedem gegebenen Zeitpunkt die Macht zu übernehmen. Es ist eine historische Prognose, die sich auf das Verständnis gründet, dass die Epoche des imperialistischen Zerfalls zu Krieg und Revolutionen führt. Darüber hinaus ist der „finale“ Sturz des Kapitalismus immer vom Aufbau einer revolutionären internationalistischen Partei abhängig. So heißt es im Manifest der Vierten Internationale von 1940:

“Die kapitalistische Welt hat keinen Ausweg, wenn man nicht einen in die Länge gezogenen Todeskampf als solchen betrachten will. Man muss sich auf viele Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, von Krieg, Aufständen, kurzen Zwischenspielen des Waffenstillstandes, neuen Kriegen und neuen Aufständen gefasst machen. Eine junge revolutionäre Partei muss sich auf diese Perspektive gründen. Die Geschichte wird ihr ausreichend Gelegenheiten und Möglichkeiten verschaffen, sich zu bewähren, Erfahrungen zu sammeln und zu reifen. Je rascher die Reihen der Vorhut zusammen geschweißt werden, desto kürzer wird die Epoche der blutigen Erschütterungen sein, desto weniger Zerstörung wird unser Planet erleiden. Aber die große historische Aufgabe wird nicht gelöst werden, ehe eine revolutionäre Partei an der Spitze des Proletariats steht.“16

Die osteuropäischen “Pufferstaaten”

71. Was die Morrow-Haston-Opposition umtrieb, war nicht der Versuch, die Probleme zu analysieren und zu verstehen, vor denen die revolutionäre Partei am Ende des Krieges stand. Sie nahm vielmehr die Schwierigkeiten zum Vorwand, um sich an dieselben politischen Mechanismen anzupassen, die dem Kapitalismus ermöglichten, sich wieder zu stabilisieren.

72. Die Vierte Internationale hatte sich geweigert, vorschnell eine fertige Definition der osteuropäischen Pufferstaaten abzugeben. Bis 1948 hatte die stalinistische Bürokratie kein Interesse gezeigt, die Besitzverhältnisse in den durch die Rote Armee besetzten Ländern zu verändern. Ihr Ziel hatte sich darauf beschränkt, sie als militärischen Puffer gegen den Imperialismus zu benutzen. Dies änderte sich erst, als sie auf das aggressive Handeln der USA im Vorfeld des Koreakrieges reagieren musste. Trotzdem bestand die Vierte Internationale darauf, dass die Kriterien zur Bewertung der Veränderungen nicht darauf beruhen konnten, welche Ergebnisse die stalinistische Politik an diesem oder jenem Ort erzielte, sondern eine Einschätzung ihrer Rolle in der Weltarena beinhalten mussten.

“Vom internationalen Standpunkt aus wiegen die Reformen der Sowjetbürokratie – die Angleichung der Pufferzone an die UdSSR – weit weniger schwer, als die Schläge, die die Sowjetbürokratie grade durch ihre Taten in der Pufferzone dem Bewusstsein des Weltproletariats versetzt hat.“17

73. Im Gegensatz dazu behauptete Grant, der stalinistische Apparat habe in Osteuropa Arbeiterstaaten errichtet, indem er erst die Arbeiterklasse mobilisiert und erst später eine Form des „proletarischen Bonapartismus“ eingeführt habe. Grants Definition für die osteuropäischen Regimes sollte das Werkzeug für eine Anpassung an nicht-proletarische Kräfte liefern, die zum Ersatz für das revolutionäre Handeln der Arbeiterklasse erklärt wurden. Dies wurde schließlich auf alle Konflikte angewandt, bei denen eine kleinbürgerliche oder stalinistische Führung, gestützt auf die Bauernschaft, extensive Verstaatlichungen einführte.

74. In diesem Konflikt mit der Morrow-Haston-Grant-Fraktion trat Healy zum ersten Mal als bedeutender internationaler Politiker auf. Seit dem Kampf für die Vereinigung hatte er eng mit Cannon und der SWP zusammengearbeitet, und nun nahm er den Kampf auf, um die Position der Vierten Internationale innerhalb der britischen Bewegung zu verteidigen. Hierfür wurde er in offen chauvinistischer Weise diffamiert. Cannon bezog sich gezielt auf die Angriffe der Haston-Fraktion auf Healy, als er Morrow und Goldman fragte:

“Wisst ihr, welches Regime eure Kumpane in England führen? Sie haben eine Minderheit unter Healy, dessen Verbrechen darin bestand, dass er die Vereinigungspolitik des Internationalen Sekretariats unterstützte, mit dem sektiererischen Nationalismus der WIL brach und ein wirklicher Internationalist wurde, ihren nationalistischen Einschlag zurückwies und im allgemeinen mit den politischen Positionen der SWP sympathisiert. Wisst ihr, wie dieses Regime Healy nennt? Einen Mietling der Socialist Workers Party, das heißt, einen Agenten eines feindlichen Landes.“ 18

Die verflixte Frage des Entrismus in die Labour Party

75. Gegner des Internationalen Komitees schreiben über diese Periode, dass die Auseinandersetzungen über die Frage, ob man innerhalb der Labour Party oder als offene Tendenz weiter arbeiten solle, die entscheidenden Differenzen zwischen den Fraktionen der RCP gewesen seien. Taktisch gesehen, war die Frage schon wichtig, war sie doch davon abhängig, ob Maßnahmen, die Trotzki in den 1930er Jahren ergriffen hatte, sich auf die Nachkriegssituation in Großbritannien anwenden ließen. Doch obwohl sich 1949 alle Fraktionen der RCP formell darüber einig waren, in die Labour Party einzutreten, gab es doch Differenzen über politische Prognosen und Orientierungen, die im Versteckten anwuchsen.

76. Healy führte eine halb-geheime Gruppe in der Labour Party, bekannt als The Club. Ihre Arbeit um die Zeitschrift Socialist Outlook gründete sich auf die Erkenntnis, dass es nicht genügte, der Reform abstrakt die Revolution gegenüberzustellen, weil die Mehrheit der sozialistisch orientierten Arbeiter Labour als ihre Partei und deren linken Flügel als ihre Führung betrachteten. Es war notwendig, am Kampf gegen den rechten Labour-Flügel und die Gewerkschaftsführer teilzunehmen und die Überlegenheit einer revolutionären Führung über die Unentschlossenheit und die Kompromisse der Linken zu demonstrieren.

77. Die Haston-Grant-Mehrheit hatte sich ursprünglich gegen den Entrismus ausgesprochen, war aber praktisch durch den Zusammenbruch ihrer externen Fraktion gezwungen gewesen, ihn zu akzeptieren. Hinter dieser Wende verbarg sich eine wachsende Demoralisierung über die Möglichkeit den Einfluss der Sozialdemokratie über die Arbeiterklasse zu brechen. Die Vierte Internationale warnte vor dem Inhalt ihrer politischen Position:

“Liquidatorische Tendenzen (…) Man kann nichts machen, da der Reformismus die Arbeiterklasse transformiert; man kann nichts machen, da der Stalinismus Siege für die Arbeiterklasse erzielt. Sie haben keine Hoffnung, eine trotzkistische Organisation aufzubauen; sie haben kein Vertrauen in die Entwicklung der Vierten Internationale.“ 19

78. 1950 verließ Haston plötzlich die RCP; er gab die Vierte Internationale ausdrücklich auf und näherte sich der Labour Party an. In einem Brief vom 10. Juni erklärte er: „Die These, dass der Stalinismus und die Sozialdemokratie die Arbeiterklasse verraten hätten, führte uns zu der Schlussfolgerung, dass eine neue Internationale notwendig sei. Wir gingen weiter und erklärten uns – die wir uns als Vierte Internationale gegründet hatten – zur etablierten Führung der weltweiten Arbeiterklasse.“ Stattdessen aber, so erklärte Haston, habe die Labour Party „größere Reformen durchgeführt“, Indien habe „unter der Führung der indischen Bourgeoisie politische Freiheit erlangt“, und der Kapitalismus sei in Jugoslawien, Osteuropa und China gestürzt worden.

79. Er schloss daraus: “Aus dem Gesagten folgt, dass wir kein Recht haben, politische oder organisatorische Autorität als die internationale Führung des Weltproletariats für uns zu beanspruchen.“ Die Vierte Internationale müsse „durch eine Form eines internationalen Beraterzentrums“ ersetzt werden, das „alle linken Strömungen“ umfasse. Haston fuhr fort: „Ich lehne die These ab, dass die Labour Party unter keinen Umständen das Instrument sozialistischer Emanzipation sein kann, und eine Umwandlung der Gesellschaft in Großbritannien nur durch die Errichtung von Räten erfolgen kann.

Obwohl ich die Möglichkeit des parlamentarischen Sturzes des Kapitalismus in den fortgeschrittenen Ländern nie ausgeschlossen habe, besonders nicht in diesem Land, glaube ich jetzt, dass es unsere Aufgabe ist, uns für den Einsatz des Parlaments als dem wirtschaftlichsten Vehikel für die vollständige Umwandlung der britischen Gesellschaft einzusetzen.“ „Die Labour Party hat viele bürokratische Züge“, schrieb er. „Nichtsdestoweniger ist sie eine der demokratischsten Arbeiterorganisationen, die es gibt. (…) die Aufgabe besteht darin, sich der Massenpartei loyal anzuschließen und zu versuchen, sie auf den Weg der vollständigen Umwandlung des Systems zu führen.“ 20

80. Auch andere in der RCP-Führung teilten Hastons Einstellung, und einige von ihnen traten ebenfalls aus. Grant weigerte sich, gegen Haston Stellung zu beziehen, und wurde ausgeschlossen. Zusammen mit einer kleinen Gruppe von Anhängern bildete er die International Socialist League, Vorgängerin der Militant Tendency (heute: Socialist Party).

Wird fortgesetzt

 

Anmerkungen:

13Prometheus Research Library, http://www.prl.org/prs/prs2/rcp-1.html, [aus dem Englischen]

14 Die Illusionen, die in den Reformismus geweckt wurden, wurden von der Bürokratie gegen den revolutionären Marxismus gerichtet. In seiner Schrift „In Place of Fear“ (Anstelle von Furcht) erklärte zum Beispiel der führende Labour-Linke Aneurin Bevin: „Schon früh schien mir in meinen Studien, dass der Marxismus ständig die Rolle der politischen Demokratie mit ihrem vollen Wahlrecht unterschätzte. Das trifft sowohl subjektiv zu, weil es die Haltung des Arbeiters zu seiner politischen Verantwortung beeinflusst, als auch objektiv, weil es seine Möglichkeiten beeinflusst, mit seinem Wahlrecht und parlamentarischen Methoden Macht auszuüben.

15Leo Trotski, Verteidigung des Marxismus, Essen, 2006, S.206

16 Leo Trotski Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der Vierten Internationale; das Übergangsprogramm, Essen, 1997, S.254

17 Zitiert in Das Erbe, das wir verteidigen, David North, Essen, 1988, S. 162

18 Zitiert in Gerry Healy und sein Platz in der Geschichte der Vierten Internationale, Essen, 1992, S. 30

19 Zitiert in The History of British Trotskyism to 1949, Martin Upham (1980), Open letter from the IS to all members of the RCP, 8. February 1949, http://www.marxists.org/history/etol/revhist/upham/14upham.html [aus dem Englischen]

20Zitiert in What Next?, Jock Haston (1950), Letter to the “Club”, http://www.whatnextjournal.co.uk/pages/healy/Haston.html [aus dem Englischen]

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