In ganz Syrien, nicht nur in der Hauptstadt Damaskus, gehen seit Wochen Zehntausende auf die Straße, um gegen das gewaltsame Vorgehen des Baath-Regimes von Präsident Baschir al-Assad zu demonstrieren.
Der “Tag des Zorns” am vergangenen Freitag hatte die Vorgänge in Daraa zum Thema, der Stadt nahe der jordanischen Grenze im Süden Syriens, wo vor sechs Wochen die Massenproteste gegen das Assad-Regime begonnen hatten. Hier waren fünfzehn Jugendliche verhaftet worden, die politische Parolen, wie: „Das Volk will den Sturz des Regimes!“, an eine Mauer gesprüht hatten.
Vor zwei Wochen stürmte die von Assads Bruder Maher geleitete Vierte Division der syrischen Armee diese Stadt, schoss mit Granaten auf Wohnhäuser, tötete viele Menschen und versetzte den Ort in den Belagerungszustand. Die Menschen durften ihre Häuser nicht verlassen, Wasser und Nahrung wurden knapp, der Strom wurde abgestellt.
Zu den blutigsten Zusammenstößen kam es am vor-vergangenen Freitag, als Menschen aus umliegenden Dörfern versuchten, diese Belagerung zu beenden, indem sie mit Olivenzweigen und weißen Fahnen nach Daraa zogen. Nach Augenzeugenberichten wurden sie jedoch mit scharfer Munition beschossen.
Der Nachrichtenkanal der syrischen Menschenrechtsorganisation in Damaskus berichtete über neunzehn Tote in der Stadt und führte sie namentlich auf.
Ein Menschenrechtsbüro für Syrien mit Sitz in London gab die Zahl der Toten mit 23 an und identifizierte sie alle als Zivilisten. Dem Büro zufolge sind im ganzen Land 55 Menschen getötet worden. Danach läge die Gesamtzahl der seit Beginn der Proteste Getöteten bei über 500.
Die syrische Regierung berichtete, an diesem Freitag seien in Daraa vier Soldaten von “bewaffneten Terroristen” getötet und zwei weitere entführt worden. Regierungsgegner sagten jedoch aus, die Soldaten seien beim Versuch, die Demonstranten zu verteidigen, von anderen Truppenangehörigen getötet worden.
Es soll schon zu Zusammenstößen zwischen verschiedenen Einheiten der Sicherheitskräfte gekommen sein, was darauf schließen lässt, dass sich die Truppe wegen die verschärften Repression spaltet. Auch der Austritt von 200 mittleren Funktionären aus der Baath-Partei in Daraa, die damit gegen die Ermordung von Demonstranten protestierten, weist darauf hin dass das Regime in einer tiefen Krise ist.
Schon seit zwei Monaten finden jede Woche nach den Freitagsgebeten vor den Moscheen Proteste statt. Ungewöhnlich ist jedoch, dass in letzter Zeit die Demonstranten großer Brutalität des Regimes trotzen.
Der vergangene Freitag war mit 112 getöteten Menschen im ganzen Land der blutigste Tag seit Ausbruch der Proteste.
Nur einen Tag zuvor hatte das Baath-Regime den Ausnahmezustand aufgehoben, der seit seinem Machtantritt 1963 in Kraft war. Gleichzeitig hatte Assad jedoch gedroht, dies sei keine „Erlaubnis“ für Demonstrationen der Bevölkerung. Als diese dennoch auf die Straßen ging, griff das Regime zu scharfer Repression.
Am Freitag gingen in Damaskus erstmals 10.000 Menschen auf die Straße, wie von unterschiedlichen Stellen berichtet wurde.
Augenzeugenberichten und verwackelten Videos auf der Facebook-Seite Syrische Revolution ist zu entnehmen, dass die Demonstranten im Stadtbezirk Maidan von Damaskus Transparente trugen wie: „Das Volk will den Sturz des Regimes“ und „Solidarität mit Daraa“.
Bis jetzt ist es dem Assad-Regime gelungen, derartige Proteste in der Hauptstadt auseinanderzujagen, noch bevor sie wirklich begonnen hatten. Auch jetzt gab es eine massive Polizeipräsenz, und an allen Zufahrtsstraßen nach Damaskus wurde scharf kontrolliert.
In den ärmeren Vorstädten der Hauptstadt kam es jedoch zu einigen der größten Demonstrationen, aber auch zur schlimmsten Unterdrückung. In der Vorstadt Saqba gingen junge Menschen auf die Straße und riefen in Sprechchören: „Wir sind die Jugendrevolution; weder Schläger noch Terroristen!“
Auch in Hom, der drittgrößten Stadt des Landes, in der kurdischen Stadt Qamishli in Ostsyrien, in der Hafenstadt Banias und in vielen kleineren Städten fanden Protestaktionen statt.
Am Freitag hatte auch zum ersten Mal die entrechtete Muslimbruderschaft öffentlich zur Teilnahme an den Demonstrationen aufgefordert. In einer Erklärung beschuldigte die Bruderschaft Assad, „auf syrischem Boden Völkermord zu verüben“ und appellierte an die Syrer: „Lasst euch von keinem Tyrannen als Sklaven halten.“
Die islamistische Organisation, die sich gegen Hafez al-Assad, den Vater des derzeitigen Präsidenten, erhoben hatte, war von den Streitkräften bei der Belagerung der Stadt Hama 1982 gnadenlos aufgerieben worden. Über 10.000 Menschen kamen dabei um.
Bis jetzt betonte die Muslimbruderschaft, dass sie die Proteste zwar nicht organisiere, ihre Ziele jedoch gutheiße. Weil sie von den Monarchien Saudi-Arabiens und Katars unterstützt und von Syriens religiösen Minderheiten als Befürworter eines hegemonialen sunnitischen muslimischen Religionsstaats angesehen wird, hat sie sich bis jetzt im Hintergrund gehalten. Sie will dadurch die Furcht vor ausländischer Einmischung und sektiererischen Bestrebungen zerstreuen.
Inzwischen kündigte die Regierung Obama am Freitag eine Reihe neuerlicher Sanktionen gegen Syrien an, die auf Verwandte von Bashir al-Assad, wie auf seinen Bruder Maher, den Kommandeur der Vierten Waffendivision, den syrischen Spionagedienst und auf die Führung des Geheimdienstes und deren Kommandeur, Ali Mamluk, abzielen. Ebenso richten sie sich gegen die Al-Quds-Truppe der iranischen Islamischen Revolutionsgarden, von denen die USA behaupten, sie hätten die syrischen Sicherheitskräfte technisch für die Aufstandsbekämpfung aufgerüstet.
Dieses Vorgehen ist eine Reaktion auf zunehmende Kritik von republikanischer Seite, die Regierung hätte es versäumt, härter gegen das syrische Regime vorzugehen. Auch wird der Vorwurf der Heuchelei erhoben, da die USA Libyen auf der Grundlage der falschen Behauptung angriffen, sie wollten Zivilisten schützen, und dabei gleichzeitig wenig gegen das Morden in Syrien unternehme und überhaupt nicht auf die Repression durch ihre Verbündeten, wie z.B. in Bahrain, reagiere.
Ein Regierungsbeamter stellte jedoch nochmals klar, dass Washington nicht für den Sturz des Assad-Regimes sei, weil dadurch eine krisenhafte Entwicklung in der ganzen Region ausgelöst werden könnte. Die Regierung ist „nicht bereit“, wie im Fall Gaddafis den Rücktritt Assads zu fordern, so ein Beamter im Weißen Haus. Obama und seine Berater, sagte er, „wollen sich dem syrischen Volk nicht entgegen stellen.“
Auch die Europäische Union diskutiert derzeit Vorschläge für mögliche Sanktionen. Gleichzeitig verabschiedete der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen in Genf eine Resolution, die die Repression in Syrien verurteilt.
Der stellvertretende Hohe Kommissar der UN für Menschenrechte, Kyung-wha Kang gab vor dem Rat eine Erklärung ab, die folgendes anprangerte: „Den umfassenden Einsatz von scharfer Munition gegen Protestierende; die Verhaftung, Einkerkerung und die Entführung von Demonstranten, Verteidigern von Menschenrechten und Journalisten; die Folterung und Misshandlung von Inhaftierten; die scharfe Unterdrückung der Pressefreiheit und anderer Kommunikationsmöglichkeiten; sowie Angriffe auf medizinisches Personal, medizinische Institutionen und Patienten.
Eine von den USA eingebrachte Resolution musste revidiert werden, um mehrheitsfähig zu werden. Die Forderung nach einer offiziellen Untersuchungskommission wegen Menschenrechtsverletzungen wurde in den Vorschlag umgeändert, dass Mitarbeiter des Rates eine Inspektionsreise unternehmen.
Die Resolution wurde mit 26 Stimmen angenommen. Russland, China und sieben weitere Länder stimmten dagegen, elf Länder enthielten sich oder fehlten bei der Abstimmung. Russland und China hatten zuvor einen Antrag Washingtons und seiner europäischen Verbündeten blockiert, eine Resolution des Sicherheitsrates zu verabschieden, in der die Repression in Syrien verurteilt wurde.
“Wir denken, wenn wir das (die Resolution des Menschenrechtsrats) annehmen, wird das die Menschenrechtssituation in Syrien nur verkomplizieren und die Spannungen im Land erhöhen”, sagte der chinesische Botschafter Xia Jingge vor der Abstimmung am Freitag.
Russland warnte den Westen vor einer “Einmischung von außen”, an der sich ein Bürgerkrieg entzünden könnte.
Die Ratsbotschafterin aus Washington, Eileen Chamberlain Donahoe, erklärte, das Assad-Regime brauche Zeit, um sich selbst zu reformieren. „In der Zeit kann es aber nicht die Menschen auf seinen eigenen Straßen niedermähen“, sagte sie.
Sie versuchte auch von den Beschuldigungen einer Reihe von Ländern wie Brasilien abzulenken, nach denen Washington in Libyen interveniere, Syrien verurteile und gleichzeitig stillschweigend die brutale Unterdrückung durch ihre Verbündeten in Bahrain und im Jemen unterstütze.
Washington, so sagte sie, „sei nicht leichtfertig“ sondern “mache sich große Sorgen” über die Menschenrechte in der ganzen Region.