Perspektive

Obama und das Pentagon verzögern den Abzug der Truppen

Die Frist, nach deren Ablauf, laut Präsident Obamas Versprechen, der Abzug der US-Truppen aus Afghanistan beginnen soll, läuft in weniger als einem Monat aus. Der oberste US-Militärkommandant hat jedoch bekanntgegeben, dass noch kein Plan für den Abzug von US-Truppen vorliege.

Als Obama im Dezember 2009 die Entsendung von 30.000 zusätzlichen Soldaten nach Afghanistan ankündigte, setzte er den Juli 2011 als Datum fest, an dem der Abzug der Truppen beginnen werde, sofern sie ihre militärischen Ziele erreicht hätten.

In den vergangenen eineinhalb Jahren haben die Regierung und das Pentagon ihr Möglichstes getan, um die Bedeutung dieses Versprechens herunterzuspielen. Es handelte sich dabei um einen Versuch, die Bevölkerung zu beschwichtigen, die den mittlerweile seit zehn Jahren andauernden Krieg – den längsten, den die Vereinigten Staaten bisher geführt haben – mit überwältigender Mehrheit ablehnt.

Stattdessen wird als Datum das Jahr 2014 angepeilt. Die NATO hat dieses Jahr als den Zeitpunkt festgelegt, ab dem den Sicherheitskräften der afghanischen Marionettenregierung zugetraut werden kann, den landesweiten Widerstand unterdrücken zu können. In ehrlicheren Aussagen von NATO-Verbündeten und Militärkommandanten scheint allerdings durch, dass man in Wirklichkeit damit rechnet, dass der Krieg und die Besatzung sich noch weitere zehn Jahre oder noch länger hinziehen könnte.

Trotzdem war es ungewöhnlich, dass Generalstabschef Admiral Michael Mullen diese Woche zugab, dass das Militär noch nicht einmal eine Empfehlung ausgesprochen habe, wie viele der fast 100.000 US-Soldaten nächsten Monat aus Afghanistan abgezogen werden sollen.

General David Petraeus, der amerikanische Oberkommandierende in Afghanistan, hat der Regierung bisher noch keinen Vorschlag gemacht. Vorgeblich ist die Petraeus‘ Empfehlung der erste Schritt in einem Prozess, der zu Diskussionen in der Regierung und letztendlich zu einer Entscheidung Obamas führen würde.

Es scheint klar, dass jeder Truppenabzug minimal wäre und eher Symbolcharakter hätte. Petraeus schloss sich den Warnungen des britischen Kommandeurs und des NATO-Generalsekretärs vor einem überstürzten Abzug an. In einem Interview mit USA Today Anfang der Woche stellte der US-Kommandeur klar, dass jeder Rückzug in „verantwortungsvollem“ Rahmen stattfinden werde, “in einer Geschwindigkeit, die den Bedingungen im Land entspricht.“

Da Obama den politischen General Petraeus zum neuen Direktor der Central Intelligence Agency (CIA) ernannt hat, ist es unwahrscheinlich, dass er dessen Empfehlung ignorieren würde.

Petraeus, der die angeblichen Fortschritte in Afghanistan als „schwach und umkehrbar“ beschreibt, gab Mitte Mai ein Memorandum an seine Untergebenen heraus, in dem er schrieb, dass der fast zehn Jahre dauernde Krieg an einem „entscheidenden Punkt“ angekommen sei.

Was für ein Punkt das ist, wurde durch die Ereignisse der vergangenen Woche auf scharfe Weise in den Vordergrund gebracht.

Zuerst verurteilte Präsident Hamid Karsai letzten Dienstag öffentlich die Tötung von Zivilisten bei amerikanischen Militäroperationen. Karsai hat in der Vergangenheit ähnliche Verurteilungen ausgesprochen, aber diesmal gab er den – sofort von amerikanischen und NATO-Sprechern abgelehnten – Befehl, die Luftangriffe und die nächtlichen Überfälle durch US-Spezialeinheiten auf afghanische Wohnhäuser einzustellen.

Er warnte vor einer Fortsetzung dieser Aktionen. Andernfalls würden die von den USA geführten Streitkräfte als Besatzer angesehen, und er fügte hinzu, die Geschichte habe gezeigt, „wie Afghanistan Besatzer behandelt.“

Dass ein vor fast zehn Jahren vom US-Militär eingesetzter Marionettenpräsident, dessen Überleben völlig von den ausländischen Truppen abhängt, mit bewaffnetem Widerstand droht, ist nur eine schwache Wiederspiegelung der weitverbreiteten Ablehnung des von den Amerikanern geführten Besatzungsregimes.

Diese Feindschaft wird durch eine Reihe von blutigen Massakern an afghanischen Männern, Frauen und Kindern genährt. Vor einer Woche kosteten zwei Luftangriffe mindestens 126 Afghanen das Leben. In der Provinz Nuristan starben 22 Polizisten und zwanzig Zivilisten bei einem Angriff auf angebliche Taliban-Rebellen, von denen Berichten zufolge ebenfalls 70 getötet wurden. In der Provinz Helmand starben vierzehn Zivilisten bei einem US-Bombenangriff auf zwei Häuser. Unter den Toten waren zwei Frauen und zehn Kinder. Die Bilder der afghanischen Dorfbewohner, die die zerfetzten Kinderleichen trugen, von denen die jüngsten zwei Jahre alt waren, lösten in weiten Teilen der Bevölkerung Empörung aus.

Vor diesen Angriffen wurden im letzten Monat in den Provinzen Chost im Südosten und Tachar im Nordosten Zivilisten bei nächtlichen Überfällen von Spezialeinheiten getötet. Der letztere Vorfall, bei dem vier Familienmitglieder ermordet wurden, führte zu Massendemonstrationen, bei denen weitere zwölf Afghanen erschossen und Dutzende verwundet wurden. Diese Ausbrüche der allgemeinen Wut werden immer größer und auch häufiger.

Inzwischen hat eine Reihe von Angriffen, die den Taliban zugeschrieben werden, die US-Strategie einer schrittweisen „Afghanisierung“ des fast zehn Jahre dauernden Krieges infrage gestellt. Letzten Montag versuchten bewaffnete Kämpfer, den Hauptstützpunkt der Nato in der westafghanischen Stadt Herat zu stürmen. Mit einer Autobombe sprengten sie ein Loch in die Mauer des Stützpunktes und lieferten sich eine hitzige Schlacht mit italienischen und afghanischen Truppen

Nur 72 Stunden davor verübten Aufständische einen Bombenanschlag auf ein Treffen unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen in den Gebäuden des Gouverneurs von Tachar, bei dem der oberste afghanische Polizeikommandeur für Nordafghanistan getötet und der deutsche General und Oberbefehlshaber aller NATO-Truppen in der Region verwundet wurden. Diese beiden Gebiete galten bisher als die sichersten in Afghanistan, und Herat war angeblich soweit, dass es nächsten Monat den afghanischen Sicherheitstruppen übergeben werden sollte.

Jetzt, wo die von Obama gesetzte Frist abläuft, führt die US-Regierung Gespräche mit Karsais Regierung über eine langfristige „strategische Partnerschaft“, die dem Pentagon die Kontrolle über dauerhafte Stützpunkte in Afghanistan geben würde.

Hierüber wurde in den Medien kaum berichtet, weil dadurch das wahre Ziel Washingtons im Krieg in Afghanistan deutlich wird, der unter dem Vorwand geführt des „Kriegs gegen den Terror“ geführt wird. Es war aber von Anfang an Washingtons Ziel, die militärische Hegemonie über die strategisch wichtige Region Zentralasien und ihre großen Energiereserven zu sichern.

Nach vorsichtigen Schätzungen hat dieser Krieg das amerikanische Volk etwa eine halbe Billion Dollar gekostet. Gleichzeitig behaupten die Regierungen auf Bundes-, Staats- und Bezirksebene ständig, dass „kein Geld da ist“ für Arbeitsplätze, Bildung, medizinische Versorgung und andere wichtige Sozialleistungen. In diesem Krieg wurden mehr als 1.600 amerikanische Soldaten, die überwiegend aus der Arbeiterklasse stammten, getötet – zusammen mit 900 weiteren aus Großbritannien, Kanada, Deutschland, Australien und anderen Ländern. Zehntausende wurden verwundet, viele von ihnen schwer. Gleichzeitig sind durch die US-geführten Besatzungstruppen in den vergangenen zehn Jahren zahllose Afghanen getötet oder verstümmelt worden, und Hunderttausende sind aus dem Land geflohen.

Der Krieg geht weiter, ohne größere Aufmerksamkeit der Medien und nahezu ohne öffentliche Debatte. Zahlreiche Umfragen zeigen, dass eine große Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung ein Ende des Krieges und einen sofortigen Abzug der US-Truppen fordert, aber diese Antikriegsstimmung findet im politischen Establishment und seinen zwei Parteien keinen ernstgemeinten Ausdruck.

Der Kampf für ein Ende des Krieges in Afghanistan und der weltweiten Operationen des amerikanischen Militarismus erfordert den Aufbau einer neuen Bewegung gegen den Krieg aus der Arbeiterklasse, und muss kombiniert werden mit dem Kampf für die Verteidigung von Arbeitsplätzen und Lebensstandard und gegen die weitreichenden Angriffe auf soziale Verhältnisse und Grundrechte durch die Finanzaristokratie und ihre Regierung.

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