Perspektive

Die Plünderung der griechischen Arbeiterklasse

Als vor zwei Jahrzehnten die stalinistischen Regime in Osteuropa und der Sowjetunion zusammenbrachen, wurden die Medien nicht müde, das „Scheitern des Sozialismus“ zu beschwören. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, mit denen diese Staaten in ihrer Endphase zu kämpfen hatten, wurden als Beweis angeführt, dass eine rational geplante Wirtschaft auf der Grundlage gesellschaftlichen Eigentums grundsätzlich unmöglich sei.

Dabei machte sich kaum jemand die Mühe, die wirklichen Ursachen für den Niedergang dieser Staaten zu untersuchen: die Herrschaft einer korrupten Bürokratie, die das Staatseigentum für ihre eigenen Privilegien missbrauchte, die Arbeiterklasse politisch unterdrückte und die Integration in den kapitalistischen Weltmarkt anstrebte.

Wendet man heute auf die kapitalistischen Staaten Europas dieselben ökonomischen Kriterien an wie damals auf Osteuropa, dann ist der Kapitalismus ebenfalls gescheitert, und zwar wesentlich eindeutiger. Was derzeit in Griechenland – und in ähnlicher Forma auch in Portugal, Irland und Spanien – abläuft, spottet jeder Beschreibung. Ein abschreckenderes Beispiel für das Wirken der freien Märkte hätte sich selbst Marx nicht vorstellen können. Erst wurde das Land kaputt gespart, jetzt wird es den internationalen Finanzhaien zum Fraß vorgeworfen, und danach droht der vollständige Kollaps.

Die Sparprogramme, mit denen die Regierung Papandreou unter dem Druck der Europäischen Union (EU) und des Internationalen Währungsfonds (IWF) das griechische Haushaltsdefizit senken will, haben nicht nur den Lebensstandard breiter Bevölkerungsschichten dezimiert und zahlreiche Arbeitsplätze vernichtet. Wie leicht vorauszusehen war, haben sie die griechische Wirtschaft auch in eine tiefe Rezession gestürzt und damit neue Haushaltslöcher aufgerissen – ein Teufelskreis, aus dem es kein Entrinnen gibt.

Die EU und der IWF reagieren, indem sie mehr von derselben Medizin verschreiben und den griechischen Staat zu einer Art Schlussverkauf zwingen. Öffentliche Liegenschaften und staatliche Unternehmen wie Eisenbahn, Post, Telekom, Wasserwerke, Häfen und Flughäfen, Mautstraßen und Lottogesellschaft werden einer Treuhandgesellschaft übereignet und an den Meistbietenden verhökert. Die Folgen solcher Privatisierungsmaßnahmen sind bekannt: Arbeitsplatzabbau, Lohnsenkungen, höhere Preise, schlechtere Dienstleistungen und hohe Profite für die neuen Eigentümer, während der Staat einen wichtigen Teil seiner Einnahmen verliert.

Die Regierung Papandreou hat außerdem eine weitere Sparrunde angekündigt. So wird im öffentlichen Dienst zukünftig nur noch jede zehnte freiwerdende Stelle neu besetzt, statt wie bisher jede fünfte. Ganze Behörden werden geschlossen und die öffentlichen Investitionen gekürzt. Die Folge wird eine weitere Verschärfung der Rezession sein.

Am heftigsten drängen jene Regierungen auf scharfe Sparmaßnahmen, die wirtschaftlich am meisten von der Einführung des Euro profitiert haben – allen voran die deutsche. So hat Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble mit der Einstellung aller Hilfszahlungen an Griechenland gedroht, falls die zugesagten Einsparungen nicht strikt eingehalten werden. Die Folge wäre der sofortige Staatsbankrott.

Unterstützt wird Schäuble von der deutschen Boulevard-Presse und einem Chor von Bundestagsabgeordneten. Sie hetzen gegen die „faulen Griechen“, die „über ihre Verhältnisse gelebt“ hätten, und verlangen, dass „ihre“ Schulden nicht mit „unserem“ Geld bezahlt werden.

Aber es geht hier nicht um „ihr“ und „wir“, nicht um „Deutsche“ gegen „Griechen“. Die griechische Krise ist keine nationale, sondern eine Klassenfrage. Dieselben Finanzinteressen, die den letzten Cent aus der griechischen Bevölkerung herauspressen, stehen auch hinter den Angriffen auf Löhne und Sozialleistungen in Deutschland, Frankreich, England und überall sonst in Europa. Die griechischen Sparprogramme sind Bestandteil eines gewaltigen Umverteilungsprozesses, der den sozialen Fortschritt von sechs Jahrzehnten rückgängig machen soll.

Geld ist anonym. Daher lässt sich nur schwer verfolgen, auf welchen Pfaden das Geld, das der griechischen Arbeiterklasse weggenommen wird, in die Taschen der Reichen und Superreichen gelangt. Aber dass es dorthin gelangt, ist eindeutig. Laut dem jüngsten „Global Wealth Report“ der Unternehmensberatung Boston Consulting Group (BCG) sind die weltweiten Vermögenswerte, die private Investoren in Bargeld, Aktien, Wertpapieren oder Fonds angelegt haben, allein im vergangenen Jahr um 8 Prozent auf 122 Billionen Dollar gestiegen. Das sind 20 Billionen mehr als auf dem Höhepunkt der Finanzkrise vor zweieinhalb Jahren.

Während also Millionen Arbeiter an den Folgen der internationalen Finanzkrise leiden, geht es deren Verursachern besser denn je zuvor. Die Anzahl der Haushalte, die mehr als eine Million Dollar besitzen, ist im vergangenen Jahr weltweit um 1,5 auf 12,5 Millionen gestiegen. Obwohl sie weit weniger als ein Prozent der Weltbevölkerung ausmachen, besaßen sie 35 Prozent des globalen Vermögens.

Die größte Vermögenskonzentration findet sich im höchstverschuldeten Land der Welt, den USA. Während die amerikanische Arbeiterklasse beispiellosen Angriffen ausgesetzt ist, stieg das Anlagevermögen reicher Amerikaner im vergangenen Jahr um 10 Prozent auf 38,2 Billionen Dollar. Europäischer Spitzenreiter ist mit 7,9 Billionen Dollar Großbritannien, dessen Regierung ein Sparprogramm über 100 Milliarden Pfund beschlossen hat, dicht gefolgt von Deutschland mit 7,4 Billionen Dollar. Das ist 17 Mal so viel wie die gesamte Staatsverschuldung Griechenlands.

Die Umverteilung der Vermögenswerte geht mit der Zuspitzung nationaler Konflikte einher. Der Euro droht an der Auseinandersetzung über die griechischen Schulden zu scheitern, und mit ihm steht auch der Fortbestand der Europäischen Union in Frage. Europa droht wieder in jene rivalisierenden Staaten und Machtblöcke zu zerfallen, die im vergangenen Jahrhundert zweimal einen Weltkrieg ausgelöst haben.

Dieses Anwachsen von Nationalismus ist ein Ergebnis der Interessengegensätze zwischen den europäischen Mächten, die die Auswirkungen der Krise auf ihre Nachbarn abladen wollen. Gleichzeitig wird der Nationalismus von der herrschenden Klasse gezielt geschürt, um die Arbeiterklasse zu spalten. Indem Griechen, Deutsche und Franzosen, oder aber Immigranten und Muslime zum Sündenbock für die Krise gestempelt werden, soll von deren wirklichen Ursachen abgelenkt und eine grenzüberschreitende Solidarisierung verhindert werden.

Es ist die Aufgabe der Arbeiterklasse, diesen Gefahren entgegenzutreten. An Empörung, Wut und Opposition mangelt es nicht, das zeigen die zahlreichen Streiks und Proteste in Griechenland und die jüngsten Demonstrationen in Spanien. Was fehlt, ist eine politische Perspektive und Führung.

Die alten Arbeiterorganisationen – die reformistischen Parteien und Gewerkschaften – haben längst die Seite gewechselt. Die sozialdemokratischen Parteien akzeptieren das Spardiktat der Banken und setzen es – wie in Griechenland, Spanien und Portugal – selbst gegen die Arbeiterklasse durch. Die Gewerkschaften halten die Sparprogramme für unausweichlich, sabotieren jeden ernsthaften Widerstand dagegen und lehnen internationale Solidarität ab. Sie organisieren bestenfalls ohnmächtige nationale Proteste, um Dampf abzulassen und zu verhindern, dass der Widerstand außer Kontrolle gerät.

Unterstützt werden sie von einer Vielzahl ehemals linker Gruppen. Diese fesseln die Arbeiter an die alten, bankrotten Parteien und Gewerkschaften, indem sie behaupten, man könne nichts weiter tun, als diese unter Druck setzen und zu einem anderen Kurs bewegen. Doch das ist eine Täuschung.

Es gibt im Rahmen des Nationalstaats und des Kapitalismus keine Antwort auf die gegenwärtige Krise. Sowohl die „Rettung“ des Euro mit Hilfe drastischer Sparprogramme wie sein Scheitern aufgrund einer Reihe von Staatsbankrotten hätten für die Abeiterklasse verheerende Folgen. Solange die Banken und großen Konzerne in der Verfügungsgewalt privater Eigentümer bleiben und die Regierungen ihren Interessen dienen, werden die Angriffe auf Einkommen, Sozialleistungen und demokratische Rechte weitergehen.

Der Widerstand dagegen erfordert ein koordiniertes, grenzüberschreitendes Vorgehen auf der Grundlage eines sozialistischen Programms. Die Arbeiterklasse ist nicht für die kapitalistische Krise verantwortlich und muss jedes Opfer kategorisch zurückweisen. An die Stelle der rechten und „linken“ bürgerlichen Regierungen müssen Arbeiterregierungen treten, die die Interessen der Gesellschaft über die Profitinteressen des Kapitals stellen. Die Europäische Union, ein Werkzeug der Konzerne und Banken, muss durch Vereinigte Sozialistische Staaten von Europa abgelöst werden.

Für dieses Ziel kämpfen das Internationale Komitee der Vierten Internationale und seine europäischen Sektionen.

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