Perspektive

Welchen Weg muss die griechische Arbeiterklasse einschlagen?

Griechenlands wichtigste Gewerkschaften haben gestern zu einem eintägigen Streik gegen die jüngsten Sparmaßnahmen aufgerufen, die die sozialdemokratische PASOK-Regierung durchsetzen will. Der Streik wirft aktuelle Fragen der politischen Perspektive für alle klassenbewussten Arbeiter auf.

Wie die früheren eintägigen Streiks, die die Gewerkschaftsfunktionäre seit Ausbruch der europäischen Schuldenkrise im Jahr 2009 ausgerufenen haben, wird auch dieser Streik nichts gegen die von den Banken verlangten Einschnitte ausrichten.

Diese Erkenntnis verbreitet sich unter immer breiteren Schichten der Arbeiterklasse in Griechenland und ganz Europa, insbesondere nach den Aufständen, die zur Absetzung von Mubarak in Ägypten und Ben Ali in Tunesien geführt haben.

Die Demonstrationen der “indignados” in Spanien und die Aganaktismeni-Proteste in Griechenland widerspiegeln die Zurückweisung des gesamten politischen Establishments durch immer größere Teile der Jugend. Bei einer Massendemonstration in Athen am 5. Juni wandten sich Demonstranten gegen die Vertreter der Gewerkschaften und erklärten, sie hätten kein Recht mitzudemonstrieren.

Es verbreitet sich das Gefühl, dass die alten Formen des politischen Lebens und des Klassenkampfes nicht mehr zeitgemäß sind. In Ägypten wird zunehmend klarer, dass Mubaraks Sturz nicht das Ende des militaristischen Regimes bedeutete.

Auch dort sind die politischen und gesellschaftlichen Hoffnungen, die die Massenbewegung antrieben, nicht erfüllt worden. In den Rufen nach einer "zweiten Revolution" drückt sich das Bedürfnis aus, dass etwas Radikaleres und Grundlegenderes erforderlich ist.

In Spanien hat die Sackgasse eines Protestes ohne ausgearbeitete Strategie und ohne ein Programm, das die unabhängigen Interessen der Arbeiterklasse formuliert, zum Rückzug der „indignados“ von Plaza del Sol in Madrid geführt.

Beide Entwicklungen deuten in unterschiedlicher Weise darauf hin, dass es notwendig ist, den Kämpfen der Arbeiterklasse eine neue und fundamental andere Perspektive zu geben

In Griechenland und im internationalen Maßstab müssen die Erfahrungen des vergangenen Jahres analysiert und die entsprechenden politischen Schlussfolgerungen gezogen werden.

Vor etwas mehr als einem Jahr bezeichnete die griechische Regierung einen 110-Milliarden-Dollar-Kredit der Europäischen Union (EU), der Europäischen Zentralbank (EZB) und des Internationalen Währungsfonds (IWF) als Ausgangspunkt für die Rückkehr zu wirtschaftlichem Wachstum.

Für die Kredite waren allerdings hohe Zinsen zu zahlen und sie waren an enorme Kürzungen bei den Sozialausgaben gebunden, die sich gegen Arbeitsplätze, Löhne und Sozialbedingungen der Arbeiterklasse richteten.

Ungeachtet aller Wachstumsversprechen trieben diese Kürzungen die griechische Wirtschaft in den freien Fall.

Die Rate, mit der die Wirtschaft schrumpfte, erhöhte sich von 2,3 Prozent auf 4,0 Prozent – womit sich der Rückgang fast verdoppelte.

Dieser Widerspruch hat sich in diesem Jahr noch verschärft. Allein im ersten Quartal erreichte er fast 5,5 Prozent.

Griechische Wirtschaftswissenschaftler schätzen, dass die Arbeiter durchschnittlich um die 30 Prozent ihres Einkommens eingebüßt haben.

Der Wirtschaftskollaps verhindert, dass Griechenland seine Schulden zurückzahlen kann – trotz der brutalen Sparmaßnahmen. Letzten Freitag kündigte die Regierung von Premierminister Papandreou eine neue Runde von Kürzungen und einen massiven Ausverkauf von Staatseigentum an.

Die Erfahrungen Griechenlands, die sich in Irland, Portugal, und anderen schwer verschuldeten Ländern wiederholen, unterstreichen die Tatsache, dass die Bourgeoisie keine brauchbare Lösung für die Krise hat und dass es sich bei der Rezession nicht um einen konjunkturellen Abschwung, sondern ein Versagen des kapitalistischen Systems selber handelt.

Die Unterordnung Griechenlands unter die internationale Finanzelite in der Form der EU, der EZB und des IWF hat zu einem Desaster für die Arbeiterklasse geführt. Aber die angeblichen Alternativen, die die Nationalisten in Griechenland propagieren – ein Rückzug aus der europäischen Gemeinschaftswährung und eine Rückkehr zur Drachme – wären gleichermaßen katastrophal.

Das Ergebnis wären massive Inflation und ein Ruin der Bevölkerung – ein Szenario wie das hyperinflationäre Chaos, das 1923 in Deutschland herrschte.

Das internationale Finanzkapital organisiert einen historischen Transfer sozialen Wohlstands in die Hände einer winzigen Finanzelite. Für diese herrschende Schicht bedeutet der soziale Schutz, der in der Nachkriegsära im Westen geschaffen wurde – Arbeitslosengeld, Renten, Gesundheitsvorsorge, freie Bildung – eine unzulässige Minimierung ihrer Profite.

Jetzt sollen diese Errungenschaften, die im Verlauf eines Jahrhunderts von der Arbeiterklasse hart erkämpft wurden, hinweggefegt werden.

In ihren wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen auf die Arbeiterklasse ähneln die Veränderungen, die die Finanzelite in Griechenland und international herbeiführen will, der ökonomischen „Schocktherapie“, die Ende der achtziger Jahre bei der Widereinführung des Kapitalismus in der UdSSR angewandt wurde.

Diese Maßnahmen waren der Höhepunkt der konterrevolutionären Politik des stalinistischen bürokratischen Regimes, das der sowjetischen Arbeiterklasse in den 1920ern und 1930ern die politische Macht entriss und Hunderttausende sozialistisch gesonnene Arbeiter, Intellektuelle, Künstler, Wissenschaftler und eine ganze Generation von Bolschewiken mit Leo Trotzki an der Spitze ermordete, die die Russische Revolution angeführt hatten.

In Zusammenarbeit mit dem westlichen Imperialismus demontierte die Bürokratie unter Gorbatschow und später unter Jelzin das, was von der durch die Revolution 1917 verstaatlichten Industrie noch übrig war und führte kapitalistische Marktverhältnisse ein.

Das Ergebnis war eine soziale Katastrophe. Das Wirtschaftsleben zerfiel und riesige Bereiche staatseigenen Besitzes wurden zu Schleuderpreisen verkauft, was zum Aufstieg der russischen Gangster-Oligarchie führte.

Der Lebensstandard brach zusammen, Arbeitsplätze gingen verloren und es kam zu einem nie dagewesenen Anstieg der sozialen Ungleichheit. Mitte der 1990er Jahre war der Lebensstandard derart gesunken, dass die Lebenserwartung der russischen Bevölkerung unter das Niveau während des zweiten Weltkrieges fiel.

Der Schlussakt des konterrevolutionären Verrats der stalinistischen Bürokratie war Teil eines breiteren Prozesses der Degeneration und des Verrats aller alten Arbeiterbürokratien – einschließlich der sozialdemokratischen und der kommunistischen Parteien wie auch der Gewerkschaften.

Nun, mit dem Ausbruch der Wirtschaftskrise in Europa und in Nordamerika, arbeiten die Gewerkschaftsbürokratien systematisch daran, den Widerstand der Arbeiterklasse gegen die kapitalistischen Angriffe einzudämmen, fehlzuleiten und zu ersticken. Sie verteidigen die Regierungen, die die Angriffe ausführen und versuchen, den öffentlichen Widerstand auf fruchtlose Proteste zu beschränken.

Während sie behaupten, sie “übten Druck” auf ihre Regierung aus, verhandeln sie in Wirklichkeit über die von den Banken diktierte Politik.

Dabei werden sie in entscheidender Weise durch die pseudo-linken Organisationen der Mittelklasse – wie SYRIZA in Griechenland, die Neue Antikapitalistische Partei in Frankreich, die Antikapitalistische Linke in Spanien – unterstützt, die ihre ganze Kraft darauf verwenden, den Widerstand der Arbeiterklasse in Richtung der Gewerkschaften und der bürgerlichen „linken“ Parteien zu kanalisieren.

Ungeachtet ihrer gelegentlich revolutionären Rhetorik lehnen diese Organisationen die sozialistische Revolution und die internationale Vereinigung der Arbeiterklasse ab.

Sie unterstützen die Kürzungen, die notwendig sind, um die nationale Wettbewerbsfähigkeit ihrer nationalen Bourgeoisie gegenüber den imperialistischen Rivalen und den aufstrebenden Wirtschaften in Asien und Lateinamerika zu stärken.

Es gibt für diese Krise keine nationalen Lösungen. Der wirkliche Graben verläuft in Europa und weltweit nicht zwischen Nationalitäten, sondern zwischen Klassen.

Die Arbeiter in ganz Europa müssen die Medienpropaganda zurückweisen, die die Griechen als “faul” und “über ihre Verhältnisse lebend” diffamiert. Während die Regierungen in Europa und weltweit auf ähnlich vernichtende Angriffe auf die Arbeiterklasse drängen, muss die grundlegende Antwort darin bestehen, einen gemeinsamen politischen Kampf der europäischen und internationalen Arbeiterklasse zu organisieren.

Druck auf bürgerliche Regierungen auszuüben oder die Macht von einer Schicht der herrschenden Elite auf eine andere zu übertragen, führt die Arbeiterklasse nicht weiter.

Die Angriffe der internationalen Bourgeoisie auf die sozialen Rechte der Arbeiter stellen die Frage der politischen Macht. Der einzige Weg, die Offensive der Banken zurückzuschlagen, besteht darin, dass die Arbeiterklasse die Macht übernimmt und den Kapitalismus stürzt. Dies erfordert die Vereinigung der Arbeiterklasse in ganz Europa und auf internationaler Ebene im gemeinsamen Kampf für den Sozialismus.

Dies ist das Programm, das in der Perspektive der Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa zusammengefasst ist und für das das Internationale Komitee der Vierten Internationale kämpft.

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