Ungarn: Kepiro-Prozess endet mit Freispruch

Ein Budapester Bezirksgericht hat den 97-jährigen Sandor Kepiro vom Vorwurf freigesprochen, er habe 1942 im Rahmen eines Massakers an Serben und Juden in der Nähe von Novi Sad Kriegsverbrechen begangen. Das Verfahren gegen Kepiro, der im Zuge der Aktion „letzte Chance“ des Simon-Wiesenthal-Centers angeklagt wurde, galt als einer der letzten großen Prozesse gegen Kriegsverbrecher aus der Nazi-Zeit.

Kepiro war 1942 als Offizier der ungarischen Gendarmerie in der Vojvodina tätig, die heute zu Serbien gehört. Das Gebiet war 1940 von Ungarn mit deutschem Einverständnis annektiert worden. Der ungarische Diktator Miklos Horthy war im Zweiten Weltkrieg mit Hitler verbündet.

Laut offiziellen Zahlen fielen dem Massaker, das ungarische Truppen, Gendarmerieeinheiten und Pfeilkreuzlerverbände in und um Novi Sad verübten, 1.200 Menschen zum Opfer – hauptsächlich Serben, ungarische Juden und Roma. Neuere Forschungen nennen mittlerweile Zahlen von über 4.000 Opfern. Einige Historiker gehen sogar von 12.000 Toten bei den wochenlangen „Säuberungen“ aus, die sich auch auf die Stadt Becej und den angrenzenden Bezirk Šajkacka erstreckten.

Die Staatsanwaltschaft warf Kepiro der Mord an vier Menschen sowie Beihilfe zum Mord an 32 weiteren vor. Sie sah von weitergehenden Anklagepunkten ab, um den Prozess nicht unnötig in die Länge zu ziehen.

Kepiro war wegen dem Massaker von Novi Sad zusammen mit anderen Gendarmerieoffizieren bereits im Januar 1944 von einem ungarischen Gericht zu zehn Jahren Haft verurteilt worden, hatte seine Strafe aber nie angetreten, sondern nur kurzzeitig unter Hausarrest gestanden. Als Hitlers Wehrmacht das Land kurz danach besetzte und eine deutschlandhörige faschistische Regierung einsetzte, wurde das Urteil zurückgenommen. Kepiro beteiligte sich an der Deportation der ungarischen Juden in die Vernichtungslager, bevor er mit deutscher Hilfe über Österreich nach Argentinien emigrierte.

1946 wurde er in Jugoslawien wegen des Massakers von Novi Sad in Abwesenheit zum Tode verurteilt.

1996, fünfzig Jahre später, kehrte Kepiro mit Wissen der ungarischen Behörden unbehelligt nach Budapest zurück. Er fühlte sich in Ungarn so sicher, dass er unter seinem echten Namen sogar im Telefonbuch zu finden war.

In den Medien fand die Rückkehr Kepiros damals wenig Echo. Vereinzelten Forderungen nach Strafverfolgung des Kriegsverbrechers wurde entgegnet, man habe dafür keine Anhaltspunkte. Auch die sozialistische Regierung, die bis 2010 im Amt war, leitete kein Verfahren gegen Kepiro ein.

Zuletzt lebte er in einer Wohnung im jüdischen Viertel, nahe der Großen Synagoge. Im Staatsfernsehen und Zeitungen gab er ungeniert Interviews, in denen er erklärte, er habe nur Befehle ausgeführt und habe nichts zu bereuen. Aus seiner faschistischen Gesinnung machte er dabei nie einen Hehl.

2006 spürte in das Simon Wiesenthal Center auf und strengte einen Prozess an. Doch die ungarische Justiz ließ sich Zeit. Sie brauchte fünf Jahre bis zum Prozess-Beginn. Auch die serbische Justiz eröffnete 2008 ein Verfahren gegen Kepiro, stellte es aber nach innenpolitischen Differenzen über die Aufarbeitung serbischer Kriegsverbrechen schnell wieder ein.

Der Prozess gegen Kapiro berührt nicht nur historische Fragen, er ist auch von aktueller politischer Brisanz. Die Regierung von Viktor Orban, dessen Fidesz im Parlament über eine Zweidrittelmehrheit verfügt, hat die Horthy-Diktatur rehabilitiert, unter der Kepiro seine Verbrechen beging. Und die rechtsextreme Partei Jobbik, die mit 46 Abgeordneten im Parlament sitzt, knüpft an die Tradition der faschistischen Pfeilkreuzler an.

Während des Prozesses kam es vor und im Gerichtsgebäude wiederholt zu Sympathiekundgebungen von Jobbik-Anhängern für den Angeklagten. Die „Nationale Rechtsstiftung“, die vom Jobbik-Abgeordneten Tamas Nagy-Gaudi geleitet wird, übernahm seine Verteidigung.

Jobbik strebt den Aufbau einer „flächendeckende Gendarmerie“ zum Schutz „der Ungarn vor Zigeunerkriminalität“ an. Vorbild ist die Gendamerie der 1940er Jahre, in der Kepiro während des Massakers von Novi Sad diente.

Parallel zum Kepiro-Verfahren fand in Budapest auch ein Prozess gegen vier Männer statt, die beschuldigt werden, 2008 und 2009 Anschläge gegen Roma durchgeführt zu haben. Dabei wurden sechs Roma getötet und etliche verletzt, darunter ein Kleinkind. Die Anschläge fanden teilweise in Orten stattfanden, in denen die „Ungarische Garde”, der paramilitärische Arm von Jobbik, unmittelbar davor Aufmärsche durchgeführt hatte.

Auch Vorsitzende Richter im Kepiro-Prozess, Bela Varga, gab sich wenig Mühe, seine politischen Vorlieben zu verstecken. Als bei der Verhandlung vom 5. Mai einige Zuschauer nach einer Demonstration vor dem Gerichtsgebäude mit Davidstern im Verhandlungssaal erschienen, ordnete Richter Varga an, die jüdischen Symbole abzunehmen. Als dagegen bei der nächsten Verhandlung Mitglieder der rechtsextremen Organisation 64 Burgkomitate (HVIM) mit dem faschistischen Symbol der Pfeilkreuzler auf dem T-Shirt auftauchten, ließ der Richter das zu. Von einem Reporter auf das faschistische Symbol angesprochen, erklärte er: „Das stört mich nicht sonderlich.“

Das Urteil und seine Begründung löste bei Opferverbänden und jüdischen Organisationen Entsetzen aus. Das Gericht sprach Kepiro wegen Mangels an Beweisen frei. Die Verwendung von Beweisen und Dokumenten aus den Prozessen von 1944 und 1946 lehnte es mit der haarspalterischen Begründung ab, nach ungarischem Gesetz dürfe niemand zweimal wegen desselben Verbrechens verurteilt werden. Daher müssten die damaligen Prozesse und die darin gesammelten Beweise als ungültig betrachtet werden.

Auch die Aussage einer noch lebenden Zeugin stufte das Gericht als unglaubwürdig ein. Die alte Dame sagte aus, sie habe gesehen, wie Kepiro ein Kind mit einem Gewehr geschlagen habe. Varga erklärte dazu, die Polizeieinheiten in Novi Sad hätten damals Pistolen getragen, und damit sei die Aussage unglaubwürdig.

Jobbik feierte den Freispruch als „Sieg“, und auch der regierende rechts-nationale Bürgerbund (Fidesz) reagierte mit Wohlwollen auf das Urteil. Führende Fidesz-Mitglieder hielten sich zwar mit Kommentaren zurück, aber es ist kein Geheimnis, dass die Regierungspartei in diesen Fragen kaum Differenzen mit Jobbik hat.

Bestes Beispiel dafür ist Zsolt Bayer, ein berüchtigter Rassist und Antisemit, der im Januar von einem Fidesz-Gremium für seine kulturellen Verdienste mit dem Madach-Preis ausgezeichnet wurde. Bayer hatte zuvor einen britischen Kritiker des ungarischen Mediengesetzes in der Fidesz-nahen Zeitung Magyar Hirlap als „stinkendes Exkrement“ bezeichnet und sein Bedauern darüber geäußert, dass Leute wie er nicht im Wald von Orgovany verscharrt würden. In dem ungarischen Dorf hatte nach dem Ersten Weltkrieg ein Massaker stattgefunden, dem Hunderte Anhänger der kurzlebigen kommunistischen Räterepublik, unter ihnen viele Juden, zum Opfer fielen.

Orban selbst sorgt seit der Regierungsübernahme im letzten Jahr dafür, dass alle wichtigen Stellen in Justiz und Verwaltung mit Fidesz-nahen Personen besetzt werden. Das dürfte auch das Urteil im Kepiro-Prozess beeinflusst haben, wie Rudolf Gruber auf RP-online in einem der wenigen kritischen Kommentare feststellte. „Das Urteil ist politisch brisant“, schrieb er. „Seit seiner Machtübernahme im Mai 2010 hat der nationalkonservative Premier Viktor Orban sämtliche Staatsorgane auf seine Linie gebracht, auch die Justiz.“

Der Freispruch Kepiros und der Vormarsch der politischen Rechten in Ungarn sagt viel über die so genannte Wende von 1989 aus. Der Fall der stalinistischen Diktaturen wurde damals als „demokratische Revolution“ und Aufbruch zu Wohlstand und Freiheit gefeiert. Doch die Menschen bekamen nicht Freiheit und Demokratie, sondern Kapitalismus und Ausbeutung. Zwei Jahrzehnte später ist die Gesellschaft sozial tief gespalten und die rechten Gespenster der Vergangenheit machen sich wieder breit.

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