Lafontaine, Wolf und Liebich diskutieren über linke Kürzungspolitik

Am Mittwochabend trafen sich mit Oskar Lafontaine, Harald Wolf und Stefan Liebich drei führende Vertreter der Linkspartei, um über „Linke Reformpolitik im 21. Jahrhundert“ zu diskutieren. Treffpunkt war ein Hinterzimmer der Brotfabrik Weißensee in Berlin, in der sich etwa 70 Gäste überwiegend weit fortgeschrittenen Alters einfanden. Die Besucher waren fast ausschließlich Mitglieder der Linkspartei. Man war unter sich; und die Diskutanten nutzen die Möglichkeit sich offen über „linke Reformpolitik“ – oder besser „linke Kürzungspolitik“ – auszutauschen

Die Veranstaltung wurde von Liebich selbst moderiert, einem Berliner Bundestagsabgeordneten der Linkspartei, der dem offen rechten Flügel der Partei zugeordnet wird. Er ist einer der Initiatoren der Strömung „Forum Demokratischer Sozialismus“ innerhalb der Linkspartei, die vehement für eine Regierungszusammenarbeit mit der SPD und den Grünen auch auf Bundesebene eintritt. Zusammen mit Harald Wolf, dem Wirtschaftssenator Berlins, ist er einer der Hauptarchitekten der rot-roten Sparpolitik in der Hauptstadt. Beide führten gemeinsam mit Gregor Gysi für die damalige PDS die Koalitionsverhandlungen mit der SPD.

Im ersten Teil der Diskussion befragte Liebich seine Gäste zu ihrem biographischen Hintergrund. Als Zuhörer erfuhr man einige interessante Details über Lafontaine und Wolf, die beide auf eine lange Erfahrung bei der Unterdrückung der Arbeiterklasse zurückblicken können.

Oskar Lafontaine war von 1966 bis 2004 Mitglied der SPD. Zunächst wollte Liebich wissen, wie schwer es ihm gefallen sei, nach so langer Zeit seine Partei zu verlassen, wo er doch auch einer der Hauptstrategen der rot-grünen Bundesregierung gewesen sei. Lafontaine erklärte, die SPD habe ihr Programm verraten. Blair und Schröder hätten sich dem „neoliberalen Zeitgeist“ angepasst und seien ihm „in den Rücken gefallen“. Nun gelte es diesen Trend mit der Linkspartei umzukehren.

In Wirklichkeit hatte Lafontaine 1999 das Feld kampflos Schröder überlassen und war ohne politische Begründung von seinen Ämtern in Partei und Regierung zurückgetreten. Erst als sich Widerstand gegen Schröders Agenda 2010 regte und der Kontrolle der SPD und der Gewerkschaften zu entgleiten drohte, hatte er sich bei der WASG engagiert und war für deren Fusion mit der PDS zur Linkspartei eingetreten.

Seither bemüht sich die Linkspartei, den Widerstand der Arbeiter unter Kontrolle zu halten, und arbeitet dabei aufs engste mit der SPD zusammen. In Berlin hat sie sich dabei in zehn Jahren Regierungsbeteiligung derart diskreditiert, dass sie am Sonntag voraussichtlich nicht mehr die nötigen Stimmen erhalten wird, um die rot-rote Koalition fortzusetzen. Lafontaine appellierte deshalb am Ende seiner Ausführungen an die anwesenden Parteimitglieder, die Konflikte innerhalb der Linkspartei zu kontrollieren, um wieder „etwas zu Stande zu bringen“.

Besonderes Interesse an Wolfs Biographie weckte bei Liebich dessen frühere Mitgliedschaft in der Gruppe Internationale Marxisten (GIM), der deutschen Sektion des pablistischen Vereinigten Sekretariats in den 1970er und 1980er Jahren. Laut Liebich war diese Gruppe eine „gar nicht so uninteressante Organisation“, gingen aus ihr doch Personen wie Sonja Mikich (Fernsehmoderatorin beim WDR), Volker Ratzmann (Fraktionsvorsitzender der Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus) oder eben Harald Wolf hervor. Mit unverhohlenem Zynismus erklärte Liebich, dass man vor diesem Hintergrund gar zur Auffassung kommen könne, dass der Trotzkismus „eigentlich kein schlechter politischer Zweig“ sei.

Dass die GIM nie etwas mit Trotzkismus zu tun hatte, wurde in den Ausführungen Wolfs schnell deutlich. Man sei eine kleine Gruppe auf dem linken Flügel innerhalb der SPD gewesen, die einen „demokratischen Sozialismus“ wollte. Als das mit der SPD nicht mehr möglich schien, seien viele in die neu gegründeten Grünen eingetreten. Dort habe Wolf versucht, für einen „dritten Weg“ zwischen den sogenannten „Realos“, wie dem späteren Außenminister Joschka Fischer, und „Fundis“, wie Jutta Dittfurth, zu kämpfen. Sein Ziel sei es immer gewesen, „kleine Schritte zu machen, ohne das große Ziel aufzugeben“, erklärte er. Als die Realos sich immer stärker durchsetzten, habe er 1990 die Grünen verlassen, um schließlich in die PDS einzutreten.

Wolfs Werdegang steht exemplarisch für eine ganze Schicht kleinbürgerlicher Ex-Linker, die in den 70er Jahren radikalisiert wurden und heute nicht mehr das Geringste mit linker Politik zu tun haben. Sie sprechen für eine schmale, wohlhabende Schicht, die die Arbeiterklasse verachtet und das kapitalistische System mit allen Mitteln verteidigt. Heute ist Wolf selbst ein führender Vertreter angeblich linker „Realpolitik“ und organisiert mit der SPD seit zehn Jahren den Sozialkahlschlag in Berlin.

Diese „linken Projekte“, wie sie Liebich zynisch bezeichnete, standen im Mittelpunkt des nächsten Teils der Gesprächsrunde. Liebich zog eine Parallele zwischen dem Saarland, wo Lafontaine von 1985 bis 1998 Ministerpräsident war, und Berlin. In beiden Fällen sei man mit einer „katastrophalen Haushaltslage“ konfrontiert gewesen und habe „retten“ müssen. Ihn interessiere nun, wie man diese „Projekte“ angegangen sei und wie es z.B. Oskar Lafontaine geschafft habe, „als Stahlretter“ in die Geschichte einzugehen. „Wie hast du das gemacht?“, fragte er in vertraulichem Ton.

Ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, berichtete Lafontaine, dass „große Anstrengungen“ notwendig gewesen seien, die kriselnde Stahlindustrie und das Unternehmen Saarstahl zu „retten“. Er habe harte Verhandlungen mit den Gewerkschaften führen müssen, die seiner Devise „Arbeitszeitverkürzung ohne vollen Lohnausgleich“ nicht sofort zugestimmt hätten. Aber schließlich habe man „das dann zusammen mit den Gewerkschaften gemacht“. Um das Ganze abzufedern, habe er vorgeschlagen, eine Beschäftigungsgesellschaft zu gründen, um entlassene Arbeiter für etwa 80 Prozent ihrer Nettobezüge wieder einzustellen. Heute sei Saarstahl wieder Marktführer u.a. bei Verdrahtungen.

Tatsächlich sind von den 42.000 Arbeitsplätzen in der saarländischen Stahlindustrie im Jahr 1960 heute gerade noch 15.000 übrig. Hatte es unter Lafontaines CDU-Vorgängern massiven Widerstand gegen den Arbeitsplatzabbau gegeben, lief der Kahlschlag unter Lafontaine weitgehend geräuschlos ab.

Lafontaine stützte sich auf ein enges Netz von Funktionären, die sowohl der SPD- wie der IG Metall angehörten. Von „harten Verhandlungen“ konnte dabei keine Rede sein. So war der Bevollmächtigte der IG Metall im Saarstahlstandort Völklingen, Reinhold Wirtz, gleichzeitig Mitglied des SPD-Landesvorstands. Der Personalchef der Dillinger Hütte, Peter Hartz (der spätere Autor von Hartz IV), besaß ebenfalls das Mitgliedsbuch von IG Metall und SPD. Sein Bruder Kurt saß für die SPD im Landtag.

Dieses Kartell von Gewerkschaften, SPD und Landesregierung nahm den saarländischen Stahlarbeitern nicht nur ihre Arbeitsplätze. Dank Lafontaines Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich bezogen sie anschließend auch ein niedrigeres Arbeitslosengeld und eine geringere Rente.

Lafontaine betonte am Mittwochabend in Berlin, dass sein Konzept der Arbeitszeitverkürzung nach wie vor aktuell sei. Schließlich sei es besser, „zwei frische Arbeitskräfte statt einer“ zu haben. Das Prinzip funktioniere auch jetzt noch, schließlich sei die Arbeitslosigkeit in Deutschland gering.

„Auch in Berlin war die Linke damit konfrontiert, konsolidieren zu müssen“, warf Liebich ein. Es sei eine „Schlüsselaufgabe“ gewesen, und „wir mussten das dann auch machen“. Seine nächste Frage gehe deshalb an Harald Wolf. Er wolle wissen, ob sich das rückblickend „gelohnt“ habe und „richtig war“?

Wolf antwortete ebenso unverhohlen wie zuvor Lafontaine mit einem klaren „Ja“. „Wir mussten Maßnahmen ergreifen, um überhaupt wieder handlungsfähig zu werden“, erklärte er. Man habe die in die Krise geratene Berliner Bankengesellschaft retten müssen, denn sie habe „eine systemische Bedeutung für Berlin“. Ihr Untergang hätte „einen Flächenbrand bedeutet“.

Der rot-rote Senat hatte der Berliner Bank kurz nach Amtsantritt Bürgschaften von 21,6 Milliarden zugesichert und anschließend vor allem in den Bereichen Kultur, Bildung und Soziales massiv gekürzt.

Laut Wolf war der öffentliche Dienst in Berlin „überdimensioniert“. Er beschrieb, wie der rot-rote Senat in Berlin die Lohnkürzungen durchsetzte. Die Voraussetzung bei der Lösung dieser Aufgabe sei „Oskars Modell“ gewesen – also „Arbeitszeitverkürzung ohne vollen Lohnausgleich“. Die Auseinandersetzungen darüber seien schwierig gewesen. Man habe sich deshalb entschieden, aus dem kommunalen Arbeitgeberverband auszutreten. Danach hätten sich die Gewerkschaften zu Verhandlungen bereit gezeigt und Frank Bsirske (der Vorsitzende der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi) habe sich eingeschaltet. „Das Kapitel war schmerzhaft und hat uns Stimmen gekostet, aber wir haben unser Ziel erreicht und den Haushalt konsolidiert.“

Am Ende der Diskussion spannte Liebich dann den Bogen vom Saarland über Berlin zur Eurokrise und wollte von Lafontaine wissen, welche Konzepte die Linkspartei in diesem Zusammenhang anzubieten habe.

Dieser betonte, es gehe zunächst darum, „die Schäden“ zu begrenzen. Das Finanzsystem sei dabei, die „Grundlagen der Gesellschaft zu zerstören“. Die „Fundamente der Gesellschaft“ begännen sich aufzulösen. Der „Rettungsanker“ in der Krise sei der Keynesianismus, eine Politik, die noch vor einigen Jahren vom „neoliberalen Zeitgeist“ verteufelt worden sei. Nun beginne sich langsam etwas zu ändern. Schließlich gäben mittlerweile selbst konservative Kommentatoren wie Charles Moore (ehemaliger Chefredakteur des britischen Daily Telegraph) oder Frank Schirrmacher (Mitherausgeber der FAZ) zu, dass „die Linke“ recht gehabt habe. Auch Wolfgang Schäuble, mit welchem Lafontaine „ein produktives gegenseitiges Verhältnis“ verbinde, müsse nun auf den erst geschmähten Keynesianismus zurückgreifen, um das System zu retten.

Ähnlich verhalte es sich auch mit der Forderung nach einer europäischen Wirtschaftsregierung. Sichtlich erregt sagte Lafontaine, dies sei „alles als Mist“ bezeichnet worden, als er es vor Jahren vorgeschlagen habe, und nun würden alle darüber diskutieren. Die meisten hätten jedoch „bis heute nicht verstanden, was sich dahinter verbirgt“.

Bevor es eine gemeinsame Währung gegeben habe, seien Wechselkurse „der Stoßdämpfer“ gewesen, um wirtschaftliche Ungleichgewichte in den Griff zu bekommen. Mit der Einführung des Euro sei dieser Mechanismus weggefallen, und man müsse nun mit Hilfe einer Europäischen Wirtschaftsregierung für Ausgeglichenheit sorgen.

„Heute ist Lohnkoordinierung notwendig, sonst bricht die Währungsunion auseinander. Das ist die große Herausforderung vor der wir stehen. Wer das nicht begreift, ist nicht fähig, ein Land zu führen“, schloss Lafontaine. Er ließ sich nicht näher darüber aus, wie diese „Lohnkoordinierung“ zu verwirklichen sei. Letztlich läuft sie auf ein staatliches Lohndiktat hinaus und lässt sich weder mit der Tarifautonomie noch mit dem Streikrecht vereinbaren.

Der Smalltalk zwischen Liebich, Wolf und Lafontaine vor einer überschaubaren Zahl von Rentnern und Funktionären der Linkspartei muss Arbeitern eine Warnung sein. In der sich rasant verschärfenden historischen Krise des Kapitalismus sind alle Flügel der Linkspartei bereit, das „Modell Oskar“ auf ganz Deutschland und Europa auszuweiten und massive soziale Angriffe durchzusetzen, die die Kürzungen im Saarland und in Berlin weit in den Schatten stellen.

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