Perspektive

Griechenland und die Diktatur der Finanzmärkte

Das alte Athen gilt als Wiege der europäischen Demokratie. Das moderne Athen droht zu ihrem Grab zu werden. Die Ereignisse, die Griechenland in den vergangenen Tagen erschüttert haben, sind eine Lehre und eine Warnung für ganz Europa.

Seit vor drei Wochen ein zweitägiger Generalstreik das Land stilllegte, jagten sich in Athen, Brüssel und Cannes die Krisensitzungen. Das Ergebnis ist eine Regierung ohne demokratische Legitimation, die der arbeitenden Bevölkerung das Diktat der Finanzmärkte aufzwingt.

Versteht man unter Demokratie Mitbestimmung des Volkes über das eigene Schicksal oder auch nur über die Zusammensetzung der Regierung, dann gibt es in Athen keine Demokratie mehr. Der Souverän ist nicht das Volk sondern die Troika, das Dreigespann aus Europäischer Union, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Zentralbank. Der voraussichtliche neue Regierungschef Lucas Papademos, ein ehemaliger Vizepräsident der EZB, ist von ihr ausgewählt worden und ist ihr verantwortlich.

Was in Athen geschieht, ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Auch in den vier anderen hochverschuldeten Staaten der Eurozone – Irland, Portugal, Italien und Spanien – ist die Regierung in den letzten Monaten ausgewechselt worden, oder sie steht kurz davor. Dabei ging die Initiative stets von den Vertretern der Wirtschaft aus. Wichtigste Voraussetzung bei der Auswahl der jeweiligen neuen Regierung ist ihre Fähigkeit, unpopuläre Sparmaßnahmen durchzuführen und dem öffentlichen Druck dagegen standzuhalten.

Auch die anderen europäischen Länder werden von dieser Entwicklung nicht verschont bleiben. In Frankreich hat die Regierung Fillon soeben ein neues Sparprogramm über 65 Milliarden Euro angekündigt. Und Deutschland ist mit seiner exportabhängigen Industrie mehr als jedes andere Land vom restlichen Europa abhängig.

Die Lage erinnert an Deutschland in den 1930er Jahren. Damals wälzte Reichskanzler Heinrich Brüning, ein Zentrumspolitiker, die Auswirkungen der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise ebenfalls mittels drastischer Sparmaßnahmen auf die Bevölkerung ab. Er regierte mit Notverordnungen, stützte sich auf die Vollmachten des Reichspräsidenten sowie die parlamentarische Unterstützung der Sozialdemokratie und unterdrückte den Widerstand gegen sein Spardiktat mit brutalen Polizeieinsätzen. Brüning ebnete so den Weg für den Aufstieg und die Machtübernahme der Nationalsozialisten.

Die Entwicklung in Griechenland weist in dieselbe Richtung. Das ergibt sich folgerichtig aus der Logik der „Regierung der nationalen Einheit“. Da sie ihren Sparkurs als Ausdruck eines übergeordneten nationalen Interesses darstellt, wird sie dazu neigen, jeden Widerstand dagegen als nationalen Verrat zu brandmarken und gewaltsam zu unterdrücken. Auch das Militär wird wieder Mut fassen, sich zum Herrn der Nation aufzuschwingen, wie es das schon 1967 getan hatte. Die nicht näher begründete Entlassung der obersten Militärführung durch den scheidenden Ministerpräsidenten Giorgos Papandreou ist in dieser Hinsicht ein Warnsignal.

Die Entstehung einer Diktatur in Griechenland und ganz Europa kann verhindert werden. Die herrschenden Eliten sind in sich zerstritten und schwach, während der Widerstand gegen ihre Angriffe wächst. Doch diesem Widerstand fehlt eine tragfähige Perspektive, während sich die herrschenden Eliten ihrer Interessen bewusst sind und über ausgefeilte Mechanismen verfügen, um den Widerstand zu lähmen und zu unterdrücken.

Da sind als erstes die sozialdemokratischen Parteien, die längst aufgehört haben, die Interessen der Arbeiter zu vertreten, und ebenso energisch für Kürzungen und Sparmaßnahmen eintreten, wie ihre konservativen Gegenspieler.

Als zweites arbeiten die Gewerkschaften eng mit der EU, den nationalen Regierungen und den Unternehmerverbänden zusammen, unterstützen die Sparprogramme und unterdrücken jede internationale Solidarität mit den griechischen Arbeitern.

Auf dem G20-Gipfel, wo der Regierungswechsel in Griechenland besiegelt wurde, legten die Gewerkschaften der Teilnehmerländer (Labour 20; strenggenommen sind es nur 19, da in Saudi-Arabien Gewerkschaften verboten sind) und die Unternehmerverbände (Business 20) eine gemeinsame Erklärung vor, in der sie ihre enge Zusammenarbeit bekräftigen. Unterzeichnet von der Generalsekretärin des Internationalen Gewerkschaftsbunds (IGB) Sharon Burrow und der Präsidentin des französischen Arbeitgeberverbands Laurence Parisot forderte die Erklärung die versammelten Regierungschefs auf, den Schwerpunkt auf die „Schaffung eines unternehmerfreundlichen Umfelds zu legen, das die Schaffung von Arbeitsplätzen fördert“.

In Griechenland selbst haben die Gewerkschaften den Widerstand gegen die Sparmaßnahmen auf befristete Protestaktionen beschränkt, um die PASOK-Regierung nicht zu gefährden. Die Initiative zu ihrem Sturz blieb so den Rechten überlassen.

Dann gibt es die zahlreichen Restbestände stalinistischer Organisationen, die eng mit den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie zusammenarbeiten oder, wie die griechische KKE, nationalistische Stimmungen schüren.

Schließlich sind da noch die vielen kleinbürgerlichen Gruppierungen, die sich „antikapitalistisch“, „sozialistisch“ oder ähnlich nennen, aber eng mit den Sozialdemokraten, Stalinisten und Gewerkschaften zusammenarbeiten und sich jedem Bruch mit ihnen widersetzen. In der „Empörten“- und der „Occupy“-Bewegung haben diese Gruppierungen die Parole „keine Politik“ ausgegeben, die sich direkt gegen den Aufbau einer revolutionären Alternative zu den bestehenden Parteien richtet.

Ohne mit diesen Organisationen zu brechen, können weder soziale noch demokratische Rechte verteidigt werden. Streiks und Proteste, so wichtig sie sind, reichen nicht aus. Der Kampf gegen Sparprogramme und Diktatur erfordert eine sozialistische Perspektive und den Aufbau einer neuen Partei. Die Herrschenden lassen sich durch Druck von der Straße nicht zur Umkehr bewegen. Für sie steht viel auf dem Spiel. Sie verteidigen ihre Privilegien und Reichtümer in einem kapitalistischen System, das weltweit in einer tiefen Krise steckt.

Ursache der europäischen Schuldenkrise ist nicht der Mangel an Geld. Allein reiche griechische Privatleute haben nach Schätzung des Handelsblatts 560 Milliarden Euro auf ausländischen Konten gebunkert – fast doppelt so viel wie die gesamte griechische Staatsschuld. In ganz Europa lebten 2007 nach Berechnungen der US-Investmentbank Merrill Lynch mehr als 3 Millionen Millionäre mit einem Gesamtvermögen von 7,5 Billionen Euro.

Dieses gewaltige Kapital verlangt nach Zinsen und Profit. Es ist – um eine Formulierung Karl Marx‘ zu gebrauchen – „verstorbene Arbeit, die sich nur vampirmäßig belebt durch Einsaugung lebendiger Arbeit“. Die Finanzmärkte verlangen täglich ihren Tribut. Immer größere Mengen des von den Arbeitern produzierten Mehrwerts fließt in Banken, Hedgefonds und andere Finanzinstitute, die selbst keine Werte produzieren.

Hier liegt die Bedeutung der Schuldenkrise. Sie dient als Mechanismus zur Verschärfung der Ausbeutung der Arbeiterklasse – zur Dezimierung der staatlichen Sozialausgaben, zur Senkung der Löhne und zur Wiedereinführung von Ausbeutungsbedingungen wie im Frühkapitalismus.

Ohne Eingriff in die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse kann diese Krise nicht gelöst werden. Die Banken, Großunternehmen und großen Vermögen müssen enteignet, demokratisch kontrolliert und in den Dienst der Gesellschaft gestellt werden. Statt der Profitansprüche der Kapitalbesitzer müssen die gesellschaftlichen Bedürfnisse Vorrang haben.

Solche Maßnahmen lassen sich nur durch eine revolutionäre Bewegung der Arbeiterklasse verwirklichen. Sie stoßen auf den erbitterten Widerstand aller etablierten Parteien, die aufs Engste mit den Kapitalinteressen verbunden sind.

Im wirtschaftlich und gesellschaftlich eng verflochtenen Europa kann eine sozialistische Perspektive nur durch die enge internationale Zusammenarbeit der Arbeiterklasse verwirklicht werden. Ziel muss der Aufbau Vereinigter Sozialistischer Staaten von Europa sein. Sonst droht, wie in den 1930er Jahren, die Balkanisierung des Kontinents und sein Abgleiten in Diktatur und Krieg.

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