Ein Schlag gegen die postsowjetische Schule der Fälschung

Vierzehn Geschichts- und Politikwissenschaftler aus Deutschland, Österreich und der Schweiz haben sich in einem Brief an die Verlegerin Ulla Unseld-Berkéwicz gegen die Veröffentlichung der deutschen Ausgabe der Trotzki-Biographie von Robert Service im Suhrkamp-Verlag gewandt.

Prof. Hermann Weber, Professor em. der Zeitgeschichte in Mannheim und einer der Autoren des Briefes, begründete die Intervention in einem Gespräch mit der World Socialist Web Site so: „Nicht weil das Buch gegen Trotzkis politische Taten und Ansichten polemisiert, das steht ja jedem Autor frei zu tun. Aber hier wird mit Lügen, Geschichtsfälschungen, unseriösen Quellenangaben und sogar antisemitischen Vorurteilen hantiert. Solche Pamphlete sollten in einem wissenschaftlichen Verlag mit liberalen Traditionen und einer Geschichte wie Suhrkamp keinen Platz haben.“

Die vierzehn Wissenschaftler schlossen sich mit ihrem Brief dem Urteil von David North an, der das Buch von Service einer detaillierten und sorgfältig recherchierten Kritik unterzogen hatte. (1) Zuvor hatte schon der amerikanische Historiker Bertrand M. Patenaude in der renommierten historischen Zeitschrift The American Historical Review (Juni 2011) North’ Kritik unterstützt.

Auch der Suhrkamp Verlag hat die Korrektheit der Kritik inzwischen de facto anerkannt, indem er sich genötigt sah, die Veröffentlichung des Service-Buchs zunächst einmal um fast ein ganzes Jahr zu verschieben. Er gesteht damit ein, dass es nicht einfach um faktische Irrtümer und Falschdarstellungen geht, die relativ rasch richtiggestellt werden könnten. Es handelt sich vielmehr um ein tendenziöses Machwerk, dessen Charakter nicht einfach „herauskorrigiert“ werden kann und das den Verlag in der Fachwelt, bei seinen Lesern und bei seinen eigenen Autoren zu diskreditieren droht.

Ob es nun im Juli 2012 tatsächlich wie angekündigt zur Auslieferung des Buches kommen wird, bleibt offen. Eines steht aber bereits fest: Professor Robert Service ist als Wissenschaftler diskreditiert. Dasselbe gilt für alle, die sein Buch in den Medien, den Fachjournalen und den Hochschulen gepriesen haben, weil sie mit dem von Service öffentlich verkündeten Ziel übereinstimmen, Leo Trotzki als Mensch und als Person der Weltgeschichte „vollständig zu vernichten“.

Die postsowjetische Schule der Geschichtsfälschung hat damit einen schweren Schlag erhalten. Historiker dieser Schule – zu denen auch Dmitri Wolkogonow (Russland), Richard Pipes (USA), Geoffrey Swain und Ian Thatcher (beide Großbritannien) zählen – haben nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion alte stalinistische Lügen und Fälschungen über Trotzki wieder aufgewärmt, um die junge Generation vom Studium der Ideen des konsequentesten marxistischen Gegners des Stalinismus abzuschrecken.

Das spielte eine wichtige Rolle dabei, die Einführung kapitalistischer Verhältnisse in der Sowjetunion, Osteuropa und China als alternativlos darzustellen. Viele Intellektuelle, darunter zahlreiche ehemalige Stalinisten Moskauer oder Pekinger Prägung, betrachteten die Wiedereinführung des Kapitalismus in diesen Ländern nicht als Ergebnis des jahrzehntelangen konterrevolutionären Wirkens des Stalinismus. Im Chor mit den westlichen Regierungen und Medien erklärten sie sie vielmehr zum Beweis für das „Scheitern des Sozialismus“. Sie hielten an der großen Lüge des 20. Jahrhunderts fest, dass der Stalinismus mit dem Sozialismus identisch sei, mit der die Stalinisten ihre Herrschaft und die Westmächte ihren Antikommunismus rechtfertigten.

Heute verbinden sich die Folgen der kapitalistischen Restauration in diesen Ländern – allgemeiner gesellschaftlicher Niedergang, schreiende soziale Ungleichheit und kriminelle Wirtschaftsstrukturen – mit der tiefsten Krise des Weltkapitalismus seit den 1930er Jahren. Breite Bevölkerungsschichten in Ost und West suchen nach einer gesellschaftlichen Alternative. Unter diesen Umständen spielt die postsowjetische Schule der Geschichtsfälschung eine umso wichtigere Rolle, die junge Generation von einer sozialistischen Perspektive fernzuhalten.

Das Internationale Komitee der Vierten Internationale hat seit vielen Jahren eine systematische theoretische Offensive gegen diese Schule geführt. Es hat die Werke von Wolkogonow, Pipes, Swain, Thatcher und Service einer sorgfältigen Kritik unterzogen und in den 1990er Jahren eine enge Zusammenarbeit mit dem russischen Historiker Wadim Rogowin entwickelt, der in seinem siebenbändigen Werk „Gab es eine Alternative“ die enorme Bedeutung der trotzkistischen Linken Opposition in der Sowjetunion im Detail nachwies.

Nun ist diese Offensive in Fachkreisen der politischen und historischen Wissenschaften auf Resonanz gestoßen. Die Bereitschaft der 14 Wissenschaftler, unabhängig von ihrer eigenen politischen Haltung gegenüber Trotzki einen prinzipiellen Standpunkt einzunehmen und sich aktiv für die Verteidigung der historischen Wahrheit, wissenschaftlicher Standards und der Integrität der Historiographie einzusetzen, ist ein wichtiges Indiz für bedeutsame Veränderungen im Geistesleben.

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion vor zwanzig  Jahren war das intellektuelle Leben von einem äußerst reaktionären Klima geprägt, das eine offene, der historischen Wahrheit verpflichtete Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und ein ernsthaftes Studium der Geschichte an Schulen und Universitäten erschwerte. Gegen den Marxismus und ganz allgemein gegen Wissenschaftlichkeit und Aufklärung gerichtete Schulen der Philosophie und Geschichtstheorie – wie die Frankfurter Schule, der Postmodernismus, der Poststrukturalismus und andere – erfuhren eine neue Blüte.

Diese Schulen sahen die Ursachen für die Katastrophen des 20. Jahrhunderts in der Aufklärung, dem Streben nach wissenschaftlichem Erkennen von Natur und Gesellschaft, und nicht in den durch sozialdemokratische und stalinistische Bürokratien verursachten Niederlagen der Arbeiterklasse. Das Ziel der Wissenschaften, objektive Wahrheiten zu erkennen, bezeichneten sie als „vermessen“. Die „maßlose Fortentwicklung und Anwendung moderner Naturwissenschaften und Technologien“ zur Überwindung von Armut, Krankheit, Unwissenheit und sozialer Gleichheit betrachteten sie als eine „Bedrohung für die Gesellschaft“, sogar als „Grundlage für totalitäre Diktaturen“.

Die Behauptung, es habe keine Alternative zum Stalinismus gegeben und die sozialistische Revolution von 1917 habe zwangsläufig zum stalinistischen Totalitarismus geführt, bedürfe keiner historisch-kritischen Untersuchung mehr, denn so etwas wie eine objektive Wirklichkeit mit objektiven Ursache-Wirkung-Beziehungen gebe es ohnehin nicht.

Vordenker dieser Schulen wie Hayden White erklärten die wissenschaftliche Darstellung geschichtlicher Zusammenhänge für eine andere Form von „Mythenbildung“. Roger Chartier verkündete, die Geschichtswissenschaft befasse sich nicht mit einer objektiven Wirklichkeit der gesellschaftlichen Entwicklung, sondern nur mit subjektiven Sichtweisen (Repräsentationen) der Geschichte, mit den Empfindungen ihrer Zeitzeugen und den Interpretationen späterer Nachfahren.

Jörg Baberowski, Professor an der Humboldt  Universität Berlin und Wortführer dieser subjektivistischen Schule in Deutschland, zieht daraus die Schlussfolgerung: „Dass man aus der Geschichte lernen könnte, ist eine Illusion vergangener Tage… Der Anspruch (der Historiker), zu zeigen, wie es eigentlich gewesen sei, erweist sich in Wahrheit als Illusion. Was dem Historiker in den Quellen gegenübertritt ist nicht die Vergangenheit … Vergangenheit ist Konstruktion.“ An anderer Stelle schreibt er: „Wahrheit ist, was ich und andere für wahr halten und einander als Wahrheit bestätigen. … Deshalb müssen wir akzeptieren, dass es mehrere Wirklichkeiten gibt, dass es darauf ankommt, wer mit wem über was und mit welchen Argumenten spricht.“ (2)

Das bedeutet in der Geschichtswissenschaft: Freie Bahn für die Ideologen der postsowjetischen Geschichtsfälschung, die Quellen und Dokumente nach eigenem Bedarf zurechtzubiegen, fälschen oder unterdrücken. Denn auch eine solche „Konstruktion der Vergangenheit“ ist nach Baberowski „eine von mehreren  Wirklichkeiten“ und „wahr“, solange sie von anderen „Historikern“ geteilt wird.

In diesem Klima der Ignoranz und Verachtung gegenüber der geschichtlichen Wahrheit fühlte sich Robert Service lange sicher, dass seine Schmähschrift gegen Leo Trotzki in den Medien gelobt und von anderen Historikern wenn nicht begeistert begrüßt, dann als „seine Wahrheit“ hingenommen werden würde. In ihrer Arroganz hielten weder er noch sein Verlag es für nötig, auf die umfangreiche, sorgfältig belegte Kritik von David North auch nur einmal zu antworten.

Doch Service hat sich verrechnet. Poststrukturalisten, Postmodernisten und postsowjetische Fälscher mögen die Objektivität der Geschichte leugnen, das bewahrt sie nicht davor, dass die Geschichte sie einholt. Was hat sich ereignet, seit das Buch von Service in Großbritannien und den USA 2009 und Spanien 2010 kritiklos gelobt wurde?

Mit der Revolution in Ägypten zu Beginn des Jahres 2011 traten zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder Arbeitermassen auf die Bühne der Geschichte und griffen in das politische Geschehen ein. Das ermunterte auf der ganzen Welt breite, vor allem junge Arbeiterschichten zu Protesten und bestärkte sie im Kampf gegen die soziale Ungleichheit. Das hat auch einen frischen Wind ins Geistesleben gebracht. Leo Trotzki, der Theoretiker der sozialistischen Weltrevolution und Führer revolutionärer Massen, kann nicht mehr durch Geschichtsfälschungen, Verleumdungen und das Schüren rassistischer Ressentiments unterdrückt werden.

Der Brief der 14 Wissenschaftler an den Suhrkamp Verlag hat das Tor für eine ehrliche und sorgfältige Auseinandersetzung mit der Rolle Leo Trotzkis und dem Aufstieg und Niedergang der Sowjetmacht aufgestoßen. Für die Jugend und die Arbeiterklasse ist eine solche Auseinandersetzung von entscheidender Bedeutung. Das Verständnis der Vergangenheit ist die Grundlage für eine Orientierung in der Gegenwart und eine fortschrittliche Gestaltung der Zukunft.

Wir appellieren an den Suhrkamp Verlag, seine Pläne zur Veröffentlichung des Buchs von Robert Service ganz aufzugeben, und laden alle Wissenschaftler und Studenten ein, sich dem Brief der 14 Geschichts- und Politikwissenschaftler anzuschließen. Entsprechende Stellungnahmen und Briefe zur Weiterleitung an den Suhrkamp Verlag bitte an die Adresse psg@gleichheit.de.

Anmerkungen

1) Siehe: David North, Verteidigung Leo Trotzkis, Mehring Verlag 2010

2) Jörg Baberowski, Die Entdeckung des Unbekannten – Russland und das Ende Osteuropas; in: Geschichte ist immer Gegenwart, Stuttgart 2001; S. 10f. und Jörg Baberowski, Der Sinn der Geschichte; München 2005; S. 28 und 30

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