Perspektive

Europa-Gipfel bereitet soziale Angriffe vor

In das europäische Gipfeltreffen, das am Donnerstagabend in Brüssel begann, werden einmal mehr große Erwartungen gesetzt. Glaubt man der Zeit, so handelt es sich um einen „europäischen Schicksalstag“. Es gehe um nichts Geringeres als „um die Zukunft Europas“, schreibt die Wochenzeitung.

Der Gipfel findet am Ende eines Jahres statt, in dem jede Maßnahme zur Stabilisierung des Euro von einer neuen Attacke der Finanzmärkte beantwortet wurde. Selbst große Länder wie Spanien und Italien können inzwischen ihre Schulden kaum mehr refinanzieren. Die Ratingagentur Standard & Poors’s hat den Druck auf die Gipfelteilnehmer zusätzlich erhöht, indem sie mit der Herabstufung der Kreditwürdigkeit sämtlicher Mitglieder der Eurozone drohte. Viele Ökonomen und Politiker schließen inzwischen ein Scheitern des Euro mit katastrophalen wirtschaftlichen und politischen Folgen nicht mehr aus.

Bundeskanzlerin Angela Merkel und Präsident Nicolas Sarkozy haben gelobt, auf diesem Gipfel Maßnahmen zu beschließen, die die Finanzmärkte befriedigen werden. Die hohen Erwartungen der Märkte dürften nicht durch „faule Kompromisse“ enttäuscht werden, ließ Merkel einen Sprecher verkünden. Es dürfe auf dem Gipfel weder die „typischen Brüsseler Tricksereien“ noch faule Kompromisse geben.

Der französische Finanzminister Francois Baroin versicherte, weder Merkel noch Sarkozy würden „den Verhandlungstisch bei diesem Gipfel verlassen, ohne dass es ein kraftvolles Ergebnis gibt“. Notfalls werde auch am Samstag und Sonntag weiter verhandelt oder vor Weihnachten ein weiterer Gipfel einberufen.

Merkel und Sarkozy wollen durch eine Änderung der europäischen Verträge alle Mitglieder der Eurozone zu eisernen Sparmaßnahmen zwingen. Sie sollen vertraglich verpflichtet werden, eine Schuldenbremse nach deutschem Vorbild in die Verfassung aufzunehmen, die der Neuverschuldung strikte Grenzen setzt. Wer die Defizitobergrenze von 3 Prozent überschreitet, soll außerdem automatisch bestraft werden. Über die Einhaltung dieser Regeln soll der Europäische Gerichtshof wachen.

Es gibt heftige Konflikte über diesen deutsch-französischen Vorschlag, die leicht zum Scheitern des Gipfels führen könnten. So will der britische Premier David Cameron keiner Vertragsänderung zustimmen, die die Interessen der britischen Finanzindustrie beeinträchtigt. „Bei all diesen Debatten ist es meine Aufgabe, die nationalen britischen Interessen zu verteidigen und zu schützen“, betonte er in einem Beitrag für die Londoner Times.

Einige kleinere Länder sowie Ratspräsident Herman van Rompuy und Kommissionspräsident José Manuel Barroso warnen vor einer Änderung der Europäischen Verträge, weil sie an nationalen Parlamenten oder Volksabstimmungen scheitern könnte. Sie wollen lediglich einzelne Verordnungen ändern, was die deutsche Regierung mit den Worten ablehnt: „Wir haben den Eindruck, dass einzelne Akteure den Ernst der Lage noch immer nicht verstanden haben.“

Auch über die Rolle der Europäischen Zentralbank gibt es scharfe Differenzen. Während die meisten Länder fordern, dass sie notleidende Länder mit Krediten unterstützt, lehnt Deutschland dies kategorisch ab.

Doch ungeachtet dieser Konflikte sind sich alle Gipfelteilnehmer einig, dass kein Weg an strikten Sparmaßnahmen vorbeiführt. Auf Kritik, ihre rigide Haltung in der Schuldenfrage gefährde das internationale Wirtschaftswachstum, erwiderte die deutsche Regierung, solide Staatsfinanzen seien kein „deutsches Steckenpferd“, sondern Voraussetzung für die Überwindung der Glaubwürdigkeitsprobleme der Euro-Zone.

Der italienische Regierungschef Mario Monti, der die deutsch-französischen Vorschläge unterstützt, hat schon Anfang der Woche ein mörderisches Sparpaket vorgelegt, das Millionen alter Menschen zu Armut verdammt.

Auch die amerikanische, die britische und einige südeuropäische Regierungen, die darauf drängen, dass die Europäische Zentralbank die Märkte mit neuem Geld überflutet, verbinden dies mit der Forderung nach Haushaltskürzungen. So unterstützte der britische Premier Cameron in seinem Times-Artikel ausdrücklich das deutsche Eintreten „für eine viel strengere Haushaltsdisziplin“. Das Geld der EZB soll nicht für Infrastrukturprojekte, Arbeitsbeschaffungsprogramme und andere gesellschaftlich sinnvolle Aufgaben verwendet werden, sondern direkt auf die Konten der Banken und Spekulanten fließen.

Die Lage in Europa erinnert immer stärker an jene Deutschlands in den 1930er Jahren. Damals hatte Reichskanzler Heinrich Brüning durch rigorose Sparmaßnahmen eine Rezessionsspirale in Gang gesetzt, die Millionen ihren Arbeitsplatz, ihr Einkommen und ihre Ersparnisse kostete und schließlich Hitler an die Macht verhalf. Auch heute haben die europäischen Regierungen nichts mehr zu bieten außer Austerität, Rezession und Zerfall.

Als vor drei Jahren die Pleite der US-Bank Lehman Brothers das internationale Finanzsystem an den Rand des Zusammenbruchs trieb, hatten amerikanische und europäische Finanzexperten und Politiker noch beteuert, sie hätten aus den 1930er Jahren gelernt – und damit die Unterstützung der Banken mit Billionen an öffentlichen Geldern gerechtfertigt! Jetzt, wo dieselben Banken gegen die Staaten spekulieren, die sich für ihre Rettung hoch verschuldet haben, gehen sie den gleichen Weg wie Brüning.

Motiviert ist diese Politik durch Klasseninteressen. Eine superreiche Finanzoligarchie hat in den vergangenen Jahrzehnten gewaltige Reichtümer angehäuft und gibt nun keine Ruhe, bis alle sozialen Errungenschaften zerstört sind, die sich die europäische Arbeiterbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg erkämpft hat. Staatliche Ausgaben für Erziehung, Bildung, Gesundheit, Renten öffentliche Dienstleistungen und Infrastruktur sind in ihren Augen ebenso eine illegitime Einschränkung ihres Reichtums wie Tariflöhne und Arbeiterrechte.

Der Sinn und Zweck der Vorschläge von Merkel und Sarkozy besteht darin, diese Errungenschaften zu zerschlagen. Schuldenbremse und automatische Sanktionen nehmen den Regierungen jeden finanzpolitischen Spielraum, auf soziale Proteste zu reagieren. Sie sind dem Diktat der Finanzmärkte völlig ausgeliefert, denen sie schon jetzt zu Füßen liegen.

Die Argumente, mit denen sie ihre Sparpolitik begründen, sind ebenso verlogen wie falsch. Kein Land könne über seine Verhältnisse leben, heißt es. Niemand, auch kein Staat, könne auf Dauer mehr ausgeben als er einnehme.

Doch wenn jemand über seine Verhältnisse lebt, dann nicht die Arbeiter und Rentner Griechenlands, Irlands, Italiens oder Deutschlands, sondern die Mitglieder der Finanzoligarchie. Das Gesamtvermögen aller europäischen Millionäre (inzwischen sind es rund 3 Millionen) wächst schneller als die Summe aller europäischen Staatsschulden. Es hat sich in den letzten 13 Jahren verdoppelt, während die Staatsschulden dazu 15 Jahre brauchten. Mit einem Wert von rund 10 Billionen Dollar würde dieses Vermögen ausreichen, die Schulden fast aller europäischen Staaten auf einen Schlag zu begleichen.

Allein in Deutschland besitzen 830.000 Millionäre ein Finanzvermögen von 2,2 Billionen Euro – mehr als sämtliche Schulden von Bund, Ländern und Gemeinden zusammen genommen. Sie verdanken das Anwachsen ihrer Vermögen in erster Linie den Steuersenkungen für Unternehmen und Spitzenverdiener. Die Staatsquote (der Anteil des Staats an der wirtschaftlichen Gesamtleistung) ist deshalb in zehn Jahren um 5 Prozent gefallen. Würden diese Steuersenkungen rückgängig gemacht, befänden sich rund 100 Milliarden Euro mehr in der Staatskasse.

Doch die Gelder der Finanzoligarchie sind für alle europäischen Regierungen tabu. Keine – ob sozialdemokratisch, liberal oder konservativ – wagt es, sie anzutasten, aus Angst, die Finanzmärkte zu erzürnen. Die soziale Polarisierung hat wieder ein Ausmaß erreicht, bei dem sich das kapitalistische System nicht mehr reformieren lässt. Europa steuert, wie in den 1930er Jahren, auf gewaltige Klassenkämpfe zu.

Diese Klassenkämpfe müssen vorbereitet werden. Die alten reformistischen Organisationen – Sozialdemokraten, Ex-Stalinisten und Gewerkschaften – haben sich völlig der Finanzoligarchie verschrieben und führen deren Spardiktat durch. Sie lassen sich auch durch Druck von der Straße nicht zu einer anderen Politik bewegen. Um sie herum bewegen sich zahlreiche pseudolinke Organisationen, die alles tun, um einen Bruch mit ihnen zu verhindern.

Die dringendste Aufgabe ist jetzt der Aufbau einer neuen Partei, die die Arbeiterklasse aller Länder auf der Grundlage eines sozialistischen Programms vereint. Dafür treten die Partei für Soziale Gleichheit und das Internationale Komitee der Vierten Internationale ein.

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