Profit vor Gesundheit: Siemens steigt aus Krebstherapie-Projekt aus

Der Siemens-Konzern hat im September 2011 entschieden, die Partikeltherapie-Anlage am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Kiel nicht in Betrieb zu nehmen. Der Grund sind mangelnde Profitaussichten.

Bei der Partikeltherapie handelt es sich um eine Technologie, bei der Protonen oder Kohlenstoffionen in Beschleunigersystemen auf eine sehr hohe Geschwindigkeit (60 bis 70 Prozent der Lichtgeschwindigkeit) gebracht werden. In den sehr komplexen Anlagen können die Partikel mit Hilfe von Magneten und Scanning-Technik in den Steuerungssystemen punktgenau zum kranken Gewebe gelenkt werden. Im Gegensatz zu den in der konventionellen Strahlentherapie verwendeten Photonen entfalten Protonen und schwere Ionen erst am Ziel ihre Wirkung, den Kern der Tumorzellen zu zerstören. Dabei wird das umliegende gesunde Gewebe geschont.

Aufgrund der hohen Präzision eignet sich die Partikeltherapie besonders bei schwer zugänglichen Tumoren wie im Gehirn und am Auge, oder auch bei Kindern. Auch Tumore, die sich in der Nachbarschaft empfindlicher Organe befinden, und tief liegende Krebszellen können mit dieser Methode zerstört werden.

Zunächst in Forschungszentren und ab 1990 in wenigen klinischen Einrichtungen, vor allem in den USA, wurden seit etwa 50 Jahren bis Ende 2010 weltweit über 80.000 Patienten mit der Partikeltherapie behandelt und hatten hohe Heilungschancen für ihre Krebserkrankung. 2010 arbeiteten Partikeltherapie-Anlagen in dreizehn Ländern.

Ein extrem hoher technischer Aufwand für die Partikeltherapie war der Grund, dass diese Anlagen lange Zeit nur an wenigen Orten verfügbar waren. Erst durch neue technische Entwicklungen in verbesserter Bildgebung und Zielvolumendarstellung im Laufe der 1990er Jahre konnte ein Fortschritt bei noch bestehenden Problemen in der Partikeltherapie erzielt werden. Große Hoffnungen setzen Onkologen in die Schwerionentherapie, die hohe Präzision mit höherer biologischer Wirksamkeit verbindet und sich deshalb für die Behandlung besonders strahlenresistenter Tumore eignet.

Experten gehen davon aus, dass fünf bis zehn Prozent aller Strahlentherapie-Patienten für eine Partikeltherapie in Frage kommen. In Deutschland sind das 10.000 bis 20.000 pro Jahr.

Zurzeit sind in Deutschland drei Protonentherapieeinrichtungen in Betrieb. Das Ionenstrahllabor ISL des Helmholtz-Zentrums Berlin (bis 2008 das Hahn-Meitner-Institut) behandelte seit 1998 bis Ende 2010 über 1.600 Augentumor-Patienten. Das privat errichtete Rinecker Proton Therapy Center in München ist die erste klinisch betriebene Einrichtung in Europa mit über 400 Patienten von 2009 bis Ende 2010.

Von 1997 bis 2009 wurden bei der Gesellschaft für Schwerionenforschung GSI in Darmstadt über 400 Patienten mit Kohlenstoffionen therapiert. In der Nachfolgeeinrichtung der GSI, dem Heidelberger Ionenstrahl-Therapiezentrum (HIT) am Universitätsklinikum Heidelberg, wurden im Jahr 2010 etwa 400 Patienten mit Protonen und Kohlenstoffionen vorwiegend im Rahmen von klinischen Studien behandelt. An dieser Forschungsanlage in Heidelberg und an einer Forschungsanlage in Shanghai ist Siemens weiterhin beteiligt.

Wegen der guten Heilungsraten mit der Partikeltherapie, der relativ eingeschränkt verfügbaren Behandlungsmöglichkeiten in den drei existierenden Anlagen und technischer Fortschritte sahen Firmen wie Siemens die Chance, profitabel in das Geschäft einzusteigen.

Siemens beabsichtigte, mit höheren jährlichen Patientenzahlen als bei allen derartigen Anlagen, die bisher weltweit arbeiten, Geld zu verdienen. Im Siemens Geschäftsbericht 2011 heißt es: „Unser Sektor Healthcare hat sich zum Ziel gesetzt, Pionier für eine bezahlbare und personalisierte Gesundheitsversorgung zu sein.“ Das Ziel: „Wir streben danach, hohe Renditen zu erwirtschaften, indem wir unseren Kunden dabei helfen, Effizienzgewinne im Gesundheitswesen zu erzielen.“

Der Bau des Krebstherapiezentrums in Kiel wurde im August 2008 begonnen und ist fast fertig gestellt. Geplant war, mit dem neuen Präzisionsverfahren der Partikeltherapie im Kieler Zentrum Tumore bei 3.000 Patienten pro Jahr zu heilen. Patienten aus ganz Norddeutschland und der skandinavischen Länder sollten in Kiel behandelt werden.

Es hat sich jedoch herausgestellt, dass mit der Großanlage nur die Behandlung von 1.000 und nicht von 3.000 Patienten pro Jahr möglich ist. Mit dieser Patientenanzahl rechnet sich der Betrieb wirtschaftlich nicht für das Bieterkonsortium aus Siemens, Bilfinger Berger und HSG Technischer Service, welches das Partikeltherapiezentrum mit einem Investitionsvolumen von 250 Millionen Euro als Public Private Partnership-Projekt errichtet hat.

Offensichtlich erfordert die komplizierte Technologie höhere Investitionen, so dass Siemens im dritten Quartal des Geschäftsjahres 2011 für seinen Sektor Healthcare Belastungen in Höhe von 381 Millionen Euro in Zusammenhang mit einer Neubewertung der kommerziellen Umsetzbarkeit der Partikeltherapie aufführt. Aufgrund der „Neubewertung der kommerziellen Umsetzbarkeit der Partikeltherapie für die allgemeine Patientenbehandlung“ erwartet der Konzern auch in den kommenden Quartalen im Geschäftsbereich Healthcare höhere Belastungen.

Vor dem Rückzug aus der Anlage in Kiel hatte sich Siemens schon im Juli 2011 aus einem Projekt für eine ähnliche Partikeltherapie-Anlage in Marburg zurückgezogen. Anstatt es für die Krankenversorgung einzurichten, wurde das Projekt auf den reinen Forschungsbetrieb umgestellt. In einer gemeinsamen Presseinformation des schleswig-holsteinischen Ministeriums für Wissenschaft, Wirtschaft und Verkehr und der Siemens AG vom 14. September 2011 wird in Bezug auf Marburg festgestellt, dass „diese Technologie sich derzeit nicht für die medizinische Breitenversorgung eigne“.

In der Planungsphase und zu Baubeginn waren von den beteiligten Universitätskliniken und Landesregierungen an beiden Standorten große Hoffnungen in die neue Technik gesetzt und die Partikeltherapie-Anlagen als Leuchtturm-Projekte und Festigung des jeweiligen Wissenschafts- und Gesundheitsstandorts gefeiert worden. Nach dem Rückzug von Siemens soll das Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in dem neu erbauten Gebäude jetzt nur noch mit seiner Abteilung für die konventionelle Strahlentherapie und Brachytherapie untergebracht sein.

Zweifel, ob sich das Konsortium mit Siemens an den Vertrag mit dem Universitätsklinikum Schleswig-Holstein halten werde, waren schon Ende 2008 aufgetaucht. In einer Drucksache des Schleswig-Holsteinischen Landtages ging es um die Frage, welche Auswirkungen die Entscheidung von Siemens, künftig keine weiteren Partikeltherapie-Projekte durchzuführen, auf die Errichtung der Anlage in Kiel habe. Zu diesem Zeitpunkt hatte Siemens noch mündlich und schriftlich beteuert, die vielversprechende Technologie zu realisieren und weiter zu entwickeln.

Außer den von Siemens inzwischen gestoppten Anlagen in Marburg und Kiel wurden im letzten Jahrzehnt weitere Einrichtungen geplant und zum Teil auch errichtet, wie etwa in Essen, Dresden, Wien und der Schweiz. Die beteiligten Mediziner in Kiel würden die Anlage auch gerne für die Heilung von nur 1.000 Patienten nutzen. Ein Wissenschaftler, der an der Entwicklung der Therapie am GSI beteiligt ist, hält es für widersinnig, die fast fertige Anlage aus geschäftspolitischen Erwägungen abzubauen, da die medizinischen Ergebnisse hervorragend seien.

Das Problem besteht darin, dass nicht die Gesundheit der Menschen im Mittelpunkt steht, sondern der Profit des Konsortiums. Die Konsequenz eines nicht kostendeckenden Betriebs ist die Einstellung der Anlage, obwohl die Technologie medizinisch sinnvoll und oft die letzte Hoffnung für kranke Menschen ist. Die Errichtung und Betreibung solcher Therapieanlagen ist eine gesellschaftliche Aufgabe, die nicht den Profitinteressen von kapitalistischen Konzernen untergeordnet werden darf.

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