Die Inthronisierung Gaucks

Am Sonntag wählte die Bundesversammlung in Berlin den 72-jährigen Joachim Gauck zum neuen deutschen Bundespräsidenten. Gauck war der gemeinsame Kandidat einer beinahe All-Parteien-Koalition aus CDU, CSU, FDP, SPD und Grünen. Nur die Linkspartei hatte mit Beate Klarsfeld eine Gegenkandidatin aufgestellt und damit der Absprache aller einflussreichen Parteien ein scheindemokratisches Deckmäntelchen umgehängt.

Gauck erhielt 991 von 1.228 gültigen Stimmen, das entspricht einer Zustimmung von gut 80 Prozent. Jedoch verweigerten ihm mindestens 103 Delegierte aus dem eigenen Lager ihre Unterstützung. Seine Gegenkandidatin, die als Nazi-Jägerin bekanntgewordene 73-jährige Klarsfeld, erhielt 126 Delegiertenstimmen. Das waren drei Stimmen mehr als die 123 Delegierten der Linkspartei.

Die Wahl wurde von einer bizarren Kampagne in Politik und Medien begleitet. Nach der Übereinkunft aller fünf führenden Parteien war die Abstimmung der Bundesversammlung im Grunde nur noch eine Formalität. Trotzdem fieberte das politische Berlin diesem Ereignis entgegen, als handele es sich um die Inthronisierung eines Kaisers.

Gauck, der in der DDR Theologie studiert und sich als evangelischer Pastor in Rostock in den Tagen der Wende dem Neuen Forum anschlossen hatte, wurde zu einer Art politischem Messias aufgebaut. Die Berliner Zeitung titelte am Montag: „Gauck sei mit uns“. Heribert Prantl schrieb in der Süddeutschen Zeitung, der „Präsident Moses“ könne die mehrfach gespaltenen Nation vereinen und zum „Sprecher der Zivilgesellschaft“ werden.

Seit Tagen kennen die Talkshows und andere Sendungen nur noch ein Thema: Gauck. Am Mittwoch Anne Will, am Donnerstag Maybrit Illner, am Sonntag Jauch und am Montag noch mal Plasbergs „Hart aber fair“. Am Sonntagabend begründete Gunther Jauch die Gauck-Euphorie damit, dass er ein „Volks-Präsident“ sei.

Der Versuch, Joachim Gauck zu einem gesellschaftlichen Übervater zu stilisieren, der als Parteiloser über dem „politischen Tagesgezänk“ und über den gesellschaftlichen Klassen stehe und die Nation als Ganze repräsentiere, ist ein politischer Reflex auf die tiefe Zerrissenheit der Gesellschaft. Schon die Tatsache, dass sich alle einflussreichen Parteien auf einen Kandidaten geeinigt haben, ist außergewöhnlich und fast einmalig. Abgesehen von der Wiederwahl Richard von Weizsäckers im Wendejahr 1989 hatten SPD und CDU/CSU immer unterschiedliche Kandidaten aufgestellt.

Der All-Parteien-Präsident Gauck ist ein Ergebnis des Zusammenrückens aller Parteien vor dem Hintergrund wachsender sozialer Spannungen und einer tiefen Spaltung der Gesellschaft. Als Folge der Politik der Regierung Schröder (SPD und Grüne), der ersten Regierung Merkel (Union und SPD) und der zweiten Regierung Merkel (CDU/CSU und FDP) sind die Kluft zwischen Arm und Reich und das Heer der Billiglöhner, Prekär-Beschäftigten und Armen rapide angestiegen.

Mit der sozialen Spaltung zerbricht auch der ideologische Kitt, mit dem die Bundesrepublik in den Nachkriegsjahrzehnten zusammengehalten wurde. An die Stelle von Sozialpartnerschaft und sozialer Marktwirtschaft tritt nun Staatsräson im Namen von Schuldenabbau und Sozialkürzungen. Deshalb betonten die Medien, der neue Präsident müsse über den Parteien stehen und das Vertrauen in den Staat wieder herstellen. Sie begrüßten deshalb, dass Gauck keiner Partei angehöre, aber die Sparpolitik uneingeschränkt unterstütze und in vielen sozialen und politischen Fragen äußerst konservative und rechte Standpunkte vertrete.

In seiner kurzen Dankesrede vor der Bundesversammlung am Sonntag beschränkte sich Gauck auf einige allgemeine Floskeln über Demokratie und Freiheit. Er begann mit dem Hinweis darauf, dass der 18. März als Wahltag für seine Präsidentschaft mit Bedacht gewählt worden sei. Denn „heute vor genau 22 Jahren hatten wir gewählt. Wir, das waren Millionen Ostdeutsche, die nach 56-jähriger Herrschaft von Diktatoren endlich Bürger sein durften.“

Diese Gleichsetzung von Nazi-Herrschaft und DDR ist typisch für Gaucks Demagogie. Er schreibt und spricht über die DDR nur als Unrechtsstaat und Diktatur. Sein hysterischer Antikommunismus ist mit einer Verharmlosung der Verbrechen des Nationalsozialismus verbunden.

Dann folgte ein Absatz über das „Glück der Befreiung“ vor 22 Jahren. In diesem Zusammenhang zitierte er Dolf Sternberger, den er als deutschen Demokratielehrer bezeichnet. Der Journalist und Politikwissenschaftler Adolf Sternberger lehnte nicht den Nationalismus, aber die Hitlerdiktatur ab und strich daher das „A“ aus seinem Vornamen. Von ihm stammt der Begriff „Verfassungspatriotismus“, laut dem sich der deutsche Nationalstolz auf das Grundgesetz stützen soll.

Diese Argumentation diente schon in der Vergangenheit dazu, politische Gegner, allen voran Sozialisten, als Verfassungsfeinde zu verfolgen und zu unterdrücken. Darüber hinaus griff die rot-grüne Bundesregierung mit ihrem Außenminister Joschka Fischer auf diese Argumentation zurück, um Ende der neunziger Jahre den Nato-Krieg gegen Serbien und die deutsche Beteiligung daran zu rechtfertigen.

Gauck hat sich bereits mehrmals ausdrücklich für internationale Militäreinsätze der Bundeswehr stark gemacht. So erklärte er schon im Sommer 2010 in einer Rede im Deutschen Theater, er wünsche sich mehr öffentlichen Rückhalt für den Afghanistaneinsatz, der aus seiner Sicht „richtig und notwendig“ sei.

Während seiner erfolglosen Kandidatur für das Bundespräsidentenamt im Herbst 2010 und auch bei seinen Vorstellungsreisen in den vergangenen Wochen nahm Gauck kein Blatt vor den Mund, wenn es darum ging, die unsoziale Politik der Regierung zu rechtfertigen. Ähnlich wie die amerikanischen Republikaner vor einigen Jahren von „mitfühlendem Konservativismus“ sprachen, vertritt Gauck die „soziale Eigenverantwortung“ und liefert damit die Begleitmusik für die systematische Zerschlagung der Sozialsysteme.

Seine Forderung nach Freiheit und mehr Bürgerengagement entstammt den Auffassungen der Wirtschaftsliberalen der FDP und geht Hand in Hand mit der Denunziation der Solidarversicherung als staatliche Bevormundung und Unterdrückung der Eigeninitiative.

Im Oktober 2010 gab er der Süddeutschen Zeitung ein ausführliches Interview, das sich wie eine Propagandarede zur Rechtfertigung des gegenwärtigen Sozialabbaus liest. Unter der Überschrift „Die Leute müssen aus der Hängematte aufstehen“ verbindet Gauck darin Aufrufe zum Patriotismus mit Angriffen auf jede Form der staatlichen Fürsorge. „Die Leute müssen aus der Hängematte der Glückserwartung durch Genuss und Wohlstand aufstehen. Sie dürfen nicht erwarten, dass andere für sie agieren“, erklärt Gauck.

Unter Demokratie versteht er nicht die Verwirklichung des Mehrheitswillens der Bevölkerung, sondern die Durchsetzung der Interessen der Machthaber, die sich als Demokraten bezeichnen. Bei jeder Gelegenheit rühmt er Staatsmänner, die den Mut zu einer Politik haben, „die nicht dem Mehrheitswillen der Bevölkerung entspricht“. Ausdrücklich nennt er dabei die Arbeitsmarktreformen von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) und den Nato-Nachrüstungsbeschluss, den Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) zu Beginn der 1980er Jahre gegen den Widerstand der Friedensbewegung durchgesetzt hatte. Beide hatten deshalb ihr Amt verloren. Aber er ziehe Politiker vor, „die auch riskieren, nicht wiedergewählt zu werden“, sagte Gauck.

Während er dem rassistischen Hetzer Thilo Sarrazin Mut für seine Thesen attestiert und ihn öffentlich lobt, greift er Proteste gegen die Macht der Finanzmärkte heftig an. Im Herbst vergangenen Jahres bezeichnete er auf einer Veranstaltung der Zeit die Occupy-Bewegung als „unsäglich albern“.

Mit der Wahl von Gauck zum Bundespräsidenten stehen nun zwei Ostdeutsche an der Spitze des deutschen Staats. Beide, die Pastorentochter und Physikerin Angela Merkel und der Pastor aus Rostock Joachim Gauck, lebten in der DDR weitgehend unauffällig und angepasst. Sie wurden erst durch die Wiedereinführung kapitalistischer Ausbeutung politisch mobilisiert. Ihre Forderung nach Demokratie und Freiheit war von Antikommunismus durchtränkt und richtete sich gegen all das, was an sozialen Reformen und Errungenschaften in der DDR trotz des stalinistischen Regimes bestand.

Mit Gaucks Einzug im Schloss Bellevue soll die Offensive gegen die Arbeiterklasse intensiviert werden. Dass er von einer All-Parteien-Koalition gewählt wurde, muss als Warnung verstanden werden. Es leitet ein neues Stadium heftiger sozialer und politischer Auseinandersetzungen ein.

Loading