Isaak Babels Marija in Düsseldorf: Ein Anti-Revolutionsstück?

Die vielfach preisgekrönte Regisseurin Andrea Breth hat im Düsseldorfer Schauspielhaus ein großartiges, aber überaus selten gespieltes Theaterstück inszeniert: Isaak Babels Marija.

Die alte Gesellschaft: Hausdame Katarina (Imogen Kogge) und der ehemalige Fürst Golizyn (Christoph Luser) der mit Cellospielen sein Leben fristen muss. Bild: Bernd Uhlig Die alte Gesellschaft: Hausdame Katarina (Imogen Kogge) und der ehemalige Fürst Golizyn (Christoph Luser) der mit Cellospielen sein Leben fristen muss. Bild: Bernd Uhlig

Das Stück wurde 1933/34 geschrieben und 1935 gedruckt. Babel ahnte, dass er mit diesem Werk nicht gerade den Geschmack der Parteiführung traf. So schrieb er an seine Mutter und Schwester aus Sorrento, wo er sich bei seinem Förderer Maxim Gorki aufhielt: „Es kann sein, dass es Schwierigkeiten gibt, da es natürlich nicht mit der Generallinie der Partei übereinstimmt, aber jeder erkennt von ganzem Herzen seine künstlerischen Qualitäten an.“

Auch Gorki ahnte, dass das Stück vor der Kremlbürokratie keine Gnade finden würde. Er fand, dass sein Freund eine Vorliebe für „faulendes Fleisch“ habe und dass das Stück kalt und seine Bedeutung vage sei. Nach dieser Kritik überarbeitete Babel es noch einmal. Es ist nicht bekannt, ob Gorki es danach anders beurteilte.

Aber er hatte recht mit seiner pessimistischen Einschätzung. Zwar wollte das Wachtangow-Theater in Moskau Marija aufführen, es hatte sogar schon mit den Proben begonnen, und auch andere Theater interessierten sich dafür, aber die stalinistische Geheimpolizei NKWD verbot es.

Der Autor wurde 1939 im Rahmen der stalinistischen Säuberungsaktionen unter falschen Anklagen verhaftet, 1940 hingerichtet und in einem Massengrab verscharrt. Obwohl Babel bereits 1954 rehabilitiert worden war, wurde das Stück in der Sowjetunion nie aufgeführt. Die erste Aufführung in Russland fand erst 1994 statt.

Auch im deutschsprachigen Raum erlebte es nur wenige Aufführungen und ist im Druck bestenfalls antiquarisch zu erwerben. In der Literatur werden nur die Inszenierungen von Peter Palitzsch im Stuttgarter Staatsschauspiel von 1967, die von Jürgen Flimm 1975 in München und die von Dieter Giesing 2000 in Zürich erwähnt.

Die Gründe dafür liegen wohl sowohl in der Person des Autors und seinem Schicksal in der Sowjetunion als auch im Stück selbst. Es gehört ohne Zweifel zu den besten Theaterstücken der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Aber weder bei der stalinistischen Bürokratie mit ihrer Staatsdoktrin des „sozialistischen Realismus“, noch im Westen in der Atmosphäre des Kalten Krieges, noch in der Zeit des kapitalistischen Triumphgeheuls nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion konnte es genügend Befürworter finden, um aufgeführt zu werden.

„Düstere Ahnungen“

Warum Andrea Breth es gerade jetzt inszenierte, hat sie in mehreren Interviews erklärt.

So meinte sie in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dass sie das Stück schon seit 30 Jahren kenne, aber jetzt erst die Zeit dafür gekommen sei, „weil wir uns in einer nicht besonders beruhigenden Umbruchszeit befinden. Ich bin keine Expertin für die arabische Welt, aber man sieht dort überall junge Menschen, die nicht zu dem Leben kommen können, das sie sich wünschen und auf das sie auch ein Recht haben. Wir befinden uns zudem in einer undurchschaubaren wirtschaftlichen Situation. Ich habe ganz düstere Ahnungen: Ich habe das Gefühl, dass es so, wie es ist, nicht mehr weitergehen wird. Vielleicht nicht sofort in Deutschland, die Deutschen sind ja etwas zurückhaltend, wenn es um Revolutionen geht. Bei anderen Ländern bin ich mir da aber nicht so sicher.“

Es liege definitiv etwas in der Luft, meint Breth. Diese Empfindung ist sicher richtig und wird von vielen Menschen geteilt.

Weiter erklärt sie: „Und Babel zeigt in Marija exemplarisch, dass die Menschen in angsterfüllten Umbruchzeiten eben sehr merkwürdig reagieren. Er schafft es, das Stück spielt 1920, mit zweiundzwanzig Figuren und acht gar nicht langen Szenen eine gesamte Gesellschaft zu porträtieren – die übrigens auch viel mit dem heutigen Russland zu tun hat. Ich werde aber einen Teufel tun und das Stück auf heute trimmen. Es braucht seinen historischen Kontext – die Kälte, den Hunger, den Zwang für die Frauen, sich zu prostituieren. Anders geht es gar nicht, finde ich, auch wenn ich mir damit wieder einmal das Attribut ‚altmodisch‘ verdiene.“

Die starke Betonung von „Hunger, Kälte und Zwang zur Prostitution“ durch die Regisseurin deutet bereits darauf hin, wie sich diese Umbruchstimmung in der Inszenierung Breths ausdrückt und welche Schlussfolgerungen ihre Inszenierung nahe legt.

Sicher spielen diese negativen Begleiterscheinungen der Revolution bei Babel eine große Rolle, zumal das Stück in der Zeit ihrer größten Gefährdung durch Bürgerkrieg und Interventionsarmeen der Westmächte spielt. Aber bei Babel ist das nicht alles, Er rechnet nicht einfach ab mit der Revolution und trauert um die gute alte Zeit. Er sieht die negativen Erscheinungen vielmehr als heftigen Geburtsschmerz einer neuen besseren Zeit. Die Skepsis, die bei ihm anklingt, ist sicher auf seine unmittelbare Gegenwart, Anfang der 1930er Jahre, zurückzuführen, in der die stalinistische Bürokratie zunehmend ihren Griff über die sowjetische Gesellschaft und besonders die Kultur festigt.

Andrea Breth ist bekannt für die besondere Werktreue ihrer Inszenierungen. Sie lehnt es ab, Stücke gewaltsam zu aktualisieren. So beginnt auch die Düsseldorfer Inszenierung historisch sehr authentisch. Die Atmosphäre im nachrevolutionären Petersburg von 1920, mitten im Bürgerkrieg, kommt in den ersten Szenen ihrer Inszenierung beklemmend realistisch über die Rampe.

Die Lebensmittelversorgung ist katastrophal. Ehemals reiche und angesehene Familien sind verarmt. Der ehemalige General der zaristischen Armee Mukownin, seine Tochter Ludmilla, die Hausdame Katja und die alte Kinderfrau Njanja frieren und hungern. Die älteste Tochter des Generals Marija, ist im gesamten Stück abwesend. Sie nimmt als politische Kommissarin am Polenfeldzug teil. Auch wenn sie nie in Erscheinung tritt, ist sie alles andere als ein Phantom. Ständig ist von ihr die Rede. Sie repräsentiert die neue Gesellschaft, auch wenn ihr Brief, der bei Kerzenschein in der Generalswohnung verlesen wird, keineswegs unkritisch die Lage schildert und sie für den Vater voller Liebe und Mitgefühl ist.

Die Inszenierung der ersten Szenen, die im Hotelzimmer des Schiebers Dymschitz und seiner invaliden Helfershelfer und in der Wohnung der Familie des verarmten alten Generals Mukownin spielen, entspricht den präzisen Regieanweisungen Babels. Die Charaktere machen deutlich, wie verschiedene Schichten der Bevölkerung auf die völlige Umkehrung der gesellschaftlichen Verhältnisse reagieren: ihre Leiden oder ihre Skrupellosigkeit, mit der sie versuchen, das Beste für sich selbst herauszuholen.

Der alte General, der der Revolution keineswegs feindlich gesonnen ist, versucht sich nachdenklich mit der alten Gesellschaft auseinanderzusetzen, indem er an einem Buch über die Grausamkeiten der zaristischen Armee arbeitet und mit dem Gedanken spielt, seine militärischen Fähigkeiten der Roten Armee zur Verfügung zu stellen.

Die schauspielerische Leistung des Ensembles ist weitgehend hervorragend und trägt in hohem Maße dazu bei, die 22 Charaktere, die Babel exemplarisch für diese „Umbruchsituation“ geschaffen hat, lebendig werden zu lassen.

Besonders der Mukownin von Peter Jecklin, der verarmte cellospielende Fürst Golizyn von Christoph Luser und die Invaliden (Pierre Siegenthaler, Benno Iffland und Moritz Löwe) sind hervorragend getroffen. Aber eindrucksvoll ist auch die alte Kinderfrau von Bärbel Bolle. Weniger überzeugen Gerd Böckmann als Ex-Rittmeister Wiskowski und der jüdische Schieber Dymschitz des Klaus Schreiber, die etwas ins Chargieren verfallen, was vermutlich die Regie zu verantworten hat.

Die acht knappen, scharf wie Filmschnitte von Babel entworfenen Szenen folgen ohne Pause rasch aufeinander, nur getrennt durch kurze sirrende, schrille, kreischende, quietschende oder donnernde Musikstücke (Komposition Wolfgang Mitterer).

Das Verhör

Die Inszenierung kippt im sechsten Bild. Auf der Milizwache wird Ludmilla, die jüngere Tochter des Generals von einem Inspektor verhört. Sie hatte sich prostituiert und war von dem ehemaligen Rittmeister Wiskowskij – eine der unangenehmsten Figuren des Stücks – vergewaltigt und mit Gonorrhoe infiziert worden. Sie weigert ihren Namen zu sagen. Als der Inspektor ungeduldig wird und ihr erklärt, er habe fünf Tage und Nächte nicht geschlafen, nennt sie ihren Namen.

Diese relativ kurze Szene wird in der Inszenierung von Breth bedeutungsschwanger aufgeladen, indem sie einen ebenfalls anwesenden Milizionär willkürlich auf eine am Boden liegende Gestalt schießen lässt. Mit dieser Hinzufügung soll offenbar auf die drohenden stalinistischen Säuberungen verwiesen werden, denen Babel selbst einige Jahre nach der Abfassung des Stücks zum Opfer fällt.

Selbst, wenn man diese Abweichung vielleicht noch als Hinweis auf die Ängste und die Skepsis des Autors über seine Gegenwart akzeptieren könnte, so müssen wir sie doch im Zusammenhang mit der Interpretation des Schlusses durch die Regisseurin kritisch sehen.

Die Wohnung wird für die neuen Bewohner aus dem Keller hergerichtet: die Hausmeisterin Agasha (Elisabeth Orth), der Malermeister Andrej (Winfried Küppers)) und Kusma sein Geselle (Olver Reinhard). Bild: Bernd Uhlig Die Wohnung wird für die neuen Bewohner aus dem Keller hergerichtet: die Hausmeisterin Agasha (Elisabeth Orth), der Malermeister Andrej (Winfried Küppers) und Kusma sein Geselle (Olver Reinhard). Bild: Bernd Uhlig

Im achten, dem Schlussbild, wird nach dem Tod des Generals die Wohnung geräumt und frisch getüncht. Die vorher als Guckkasten verkleinerte, dunkle Bühne wird plötzlich groß und hell. Agasha, die Hausmeisterin verhindert, dass die herrschaftlichen Möbel verkauft werden, denn der Arbeiter Safonow und seine hochschwangere Frau Jelena sollen dort einziehen, „Leute, die bisher im Keller gewohnt haben“.

Jelena findet: die Wohnung zu groß, „zu gut für uns“. Aber der Maler und Agasha reden ihr gut zu: „Gewöhne dich an das Gute“, meint Agasha. Jelena soll morgen zur Entbindung in dem „Mutter und Kind“-Palast gehen, ein ehemaliges Palais der Zarin, das zur Entbindungsklinik umgebaut wurde.

In den Regieanweisungen Babels heißt es dann: „Jelena öffnet das Fenster, Sonne und Straßenlärm dringen ins Zimmer. Sie geht vorsichtig an den Wänden entlang, tastet sie ab, blickt in die Nebenzimmer, macht das Licht an und wieder aus. Njuschka, [die Putzfrau] kommt herein. Sie ist derb und rotbackig. Sie hat Eimer und Lappen bei sich, um die Fenster zu putzen. Sie stellt sich auf die Fensterbank, steckt den Rock über den Knien fest. Einer Statue gleich, die ein Gewölbe stützt, steht sie sonnenüberflutet vor dem Frühlingshimmel.“ Sie erhält von Jelena eine Einladung zur bescheidenen Einweihungsfeier. Dann stimmt sie ein Lied über die Rotarmisten an, womit das Stück bei Babel endet.

Dieser vom Autor doch recht bescheiden konzipierte Triumph des Proletariats läuft in Düsseldorf folgendermaßen ab: Agasha trägt einen Pelzmantel, den sie offenbar requiriert hat, und stolziert herum wie eine KZ-Aufseherin. Als der Arbeiter Safonow auftritt, brüllt er herum und schlägt seine schwangere Frau ins Gesicht, so dass sie zu Boden fällt. Mit dem Auftritt der Putzfrau erschallt dann laute Marschmusik und martialischer Gesang von draußen. Niuschka tanzt und stolziert dazu wild im Zimmer umher.

Der Tanz der Putzfrau Njuschka (Janina Sachau) vor der schwangeren Jelena (Mareike Hein). Bild: Bernd Uhlig Der Tanz der Putzfrau Njuschka (Janina Sachau) vor der schwangeren Jelena (Mareike Hein). Bild: Bernd Uhlig

Hier unterschiebt Breth Babel, eine alberne Verherrlichung der nachrevolutionären Situation, die sie dann auf groteske Weise noch karikiert. Zusammen mit der Milizszene wird damit dem Stück eine Interpretation aufgezwungen, die seinen Inhalt geradezu ins Gegenteil verkehrt. Breth kann Babels melancholisch-ironische und zugleich mitleidige Darstellung des Untergangs der alten Gesellschaft und ihrer Personen offenbar nachvollziehen, aber für sie mündet der Weg der Revolution unweigerlich in Schrecken und groteskem Chaos. Ihr Proletariat ist gewalttätig und dumm und seine Herrschaft grausam und lächerlich. Weitergedacht mündet alles unweigerlich in Diktatur und Terror.

Die beiden Hauptproben für Marija hatte Andrea Breth laut einem Bericht auf der Webseite der Rheinischen Post (7.1.2012) für Menschen mit geringem Einkommen geöffnet. Wollte sie diese davor warnen, ihr Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen und den sozialistischen Weg zur Abschaffung der sie unterdrückenden alten Gesellschaft einzuschlagen?

Babel zeigt zwar die sozialen Verwerfungen, die die Revolution und der Bürgerkrieg notwendig erzeugen mussten, er zeigt die Deklassierung der alten herrschenden Schichten, ihre moralische Korruption, den Opportunismus und die Skrupellosigkeit derer, die ihren Nutzen aus dem Chaos ziehen. Er leugnet und beschönigt die Schattenseiten der Revolution und die Rückständigkeit und Unzulänglichkeiten der zur Macht gelangten Unterdrückten nicht, aber er bejaht den gesellschaftlichen Umbruch.

Babels Werk muss im Kontext seiner Lebensgeschichte und seiner Zeit verstanden werden. Aber seine geniale Fähigkeit, gerade diese Zeit und seine Erfahrungen in ihr literarisch lebendig werden zu lassen, machen seine Prosa und seine Stücke auch für heutige Leser so anziehend.

Babels Prosa zeichnet sich dadurch aus, dass in ihr kein Wort zu viel ist. In der knappsten Form ist alles gesagt und wird ein Charakter, ein gesellschaftlicher Zustand plastisch dargestellt. Das zeugt von der äußerst harten, gewissenhaften Arbeit des Autos an seinen Texten, die er vielfach geändert und überarbeitet hat.

Diese Eigenschaften treffen aber nicht nur auf Babels Prosa, sondern in hohem Maße auch auf sein Theaterstück Marija zu. Die Düsseldorfer Inszenierung zeugt selbst dort noch von Babels außerordentlich starker, überzeugender Dichtkunst, wo Breth sie missinterpretiert.

„Wehe uns, wo ist die süße Revolution!“

Isaak Babel wurde 1894 in Odessa als Sohn eines jüdischen Kaufmanns geboren. Er besuchte eine Art Wirtschaftsgymnasium, wo insbesondere ein Französischlehrer seine Begeisterung für die Literatur weckte. Er las viel und versuchte als Autor französischer Kurzgeschichten seinem Vorbild Guy de Maupassant nachzueifern. Er gab dies aber bald auf und hielt sich ab 1915 in Petersburg auf. Dort versuchte er ein Jahr lang vergeblich, seine neuen Arbeiten in verschiedenen Redaktionen unterzubringen.

1916 wandte er sich an Maxim Gorki, der sein Talent erkannte und einige der Kurzgeschichten in seiner Zeitschrift Letopis veröffentlichte. Wegen Übertretung der Zensurvorschriften (Verstoß gegen die guten Sitten) wurde Babel angeklagt und ging auf Rat Gorkis für einige Jahre „unter die Menschen“, um die nötige Reife und Lebenserfahrung zu erlangen. In diese Zeit fielen die Februar- und die Oktoberrevolution.

Wie Babel in seinen Memoiren schreibt, war er in diesen sieben Jahren bis 1924 Soldat, arbeitete zeitweilig für die Tscheka, im Volkskommissariat für Volksbildung, 1918 in den Lebensmittelexpeditionen, kämpfte im Bürgerkrieg in der Nordarmee gegen die Truppen von Nikolai Judenitsch. Er war in der Ersten Reiterarmee, die unter dem Befehl Budjonnys stand, im Polenfeldzug dabei. Er war u. a. im Generalgouvernementskomitee in Odessa, als Redakteur in der Siebten Sowjetischen Druckerei in Odessa und als Reporter in Petersburg und Tiflis tätig. Nach seiner Demobilisierung begann er erneut zu schreiben.

Bekannt und international berühmt wurde Babel mit seiner Reiterarmee, in der er seine Tagebuchnotizen von 1920 aus dem Feldzug gegen Polen literarisch verarbeitete. In kurzen Episoden schildert er in einer dichten, bildhaften, sehr pointierten Sprache die Grausamkeiten aber auch zutiefst menschliche Begebenheiten dieses erfolglosen Krieges.

Als scharfer und neugieriger Beobachter hat er beide Seiten im Blick, die Kosaken und die verarmte, vom Krieg gebeutelte, großenteils jüdische Bevölkerung Galiziens. Die vielfach geschilderte Brutalität des Krieges entfaltet oft zugleich einen düsteren romantisch-poetischen Reiz oder geht einher mit bitterem Humor, wenn er die Rückständigkeit der Kämpfer oder der Bevölkerung aufs Korn nimmt. Wenn sich zum Beispiel die verdienten Veteranen gegen die unbarmherzigen Krankenschwestern wehren, die sie entkleiden und ins Bad stecken wollen, oder der Trödler Gedalje, der die Revolution begrüßen, aber den Sabbat nicht missen möchte, ausruft: „Wehe uns, wo ist die süße Revolution!“

Mit diesem Buch zog sich Babel sofort die unversöhnliche Feindschaft des Generals Budjonny und seines Politkommissars Josef Stalin sowie vieler ihrer Anhänger zu. Aber aus seiner Zeit in der Roten Armee hatte er gleichzeitig viele Freunde unter den hohen Offizieren. Beides sollte ihm später zum Verhängnis werden.

Seine Freunde aus dem Offizierscorps wurden bei der großen Säuberung des Militärs einer nach dem anderen verhaftet und hingerichtet. Seine Feinde aber ließen nicht nach, ihn als „kränklichen Intellektuellen“ zu schmähen und zu verleumden. Als der Dramatiker Wsewolod Wilschnewski ein von ihm als „Anti-Babel“ verfasstes Theaterstück an Gorki schickte, wies dieser ihn zurück mit dem Kommentar: „Die Reiterarmee kann man nicht von der Höhe eines Pferderückens kritisieren.“ (1)

Babels Freund, der angesehenste Literaturkritiker Alexander Konstaninowitsch Woronski, erkannte schon früh Babels Begabung und außerordentliche Fähigkeiten.

Woronski – Mitglied der bolschewistischen Fraktion der Sozialdemokratischen Partei Russlands seit 1904, seit 1923 ein Anhänger Trotzkis und führendes Mitglied der Linken Opposition – verteidigte in seinen Schriften und den von ihm herausgegebenen Zeitschriften wie Krasnaja now (Rotes Neuland) die sogenannten „Weggenossen“, Schriftsteller wie Gorki, Babel, Pilnjak oder Majakowski gegen die Vertreter des Proletkult, die in ihren Werken eine einseitige propagandistische Stellungnahme der Autoren für die bolschewistische Partei und die Arbeiterklasse über die literarische Qualität stellten. (2)

Woronski schrieb 1924 in einem Essay über Babel, er spiele „listige Spiele mit dem Leser, er ist nicht unser Chronist, sondern unser leidenschaftlicher Zeitgenosse. Babel festigt das Bindemittel zwischen der Literatur und der Sowjetrepublik und der Kommunistischen Partei. Er steht uns nahe und hat ein gutes Gespür dafür, was unser Leben und unsere Zeit ausmacht. Man kann ohne Übertreibung sagen, Babel ist ein neues Wegzeichen auf dem beschwerlichen und komplexen Weg der Gegenwartsliteratur zum Kommunismus. Obwohl viele Leute das nicht erkennen können, der Gehalt von Babels Werk ist absolut unmissverständlich.“ (3)

Woronski wurde 1928 aus der Partei ausgeschlossen, verhaftet und verbannt. Babel besuchte ihn im Exil in Lipesk. „Er ist krank, betrübt, unglücklich. Mein Kommen dorthin ist nötig.“ (4) Zwischendurch darf er nach Moskau zurückkehren, wird aber 1937 erneut verhaftet, abgeurteilt und sofort hingerichtet. Babel selbst war zwar kein Trotzkist, stand diesen aber wie zahlreiche andere Intellektuelle sehr nahe und teilte in zunehmendem Maße ihre politischen Ansichten. Dass Trotzki ihn in Mein Leben zum „begabtesten unter unseren jungen Schriftstellern“ erklärte, hat ihn sicher in den Augen seiner Feinde nicht gerade entlastet. (5)

Zahlreiche Freunde und Kollegen Babels und Woronskis werden in den kommenden Jahren verfolgt, verhaftet, hingerichtet oder begehen Selbstmord. Babel vermutete nach dem Tod von Maxim Gorki zu Recht, dass seine eigene Verhaftung unmittelbar bevorstehe.

Anlässlich des Sowjetischen Schriftstellerkongresses 1934, als die Doktrin des Sozialistischen Realismus als einzig zulässige Kunstform endgültig durchgesetzt wird, bezeichnet Babel sich als in seinem Genre „weiterhin erfolgreich – dem Schweigen“. 1935 kann Marija noch gedruckt erscheinen. Babel darf noch einmal ins Ausland reisen und auf Drängen der französischen Veranstalter auf dem Pariser Kongress zur Verteidigung der Kultur sprechen.

Seine Verhaftung erfolgte 1939. Wadim S. Rogowin schreibt in seinem Buch Die Partei der Hingerichteten über die Stalinschen Morde der Säuberungsperiode, wie klar Babel den Sinn der ablaufenden Ereignisse begriffen hatte. Er zitiert Babels Reaktion aus den Spitzelberichten und Verhörprotokollen seiner NKWD-Akte: „Die Menschen gewöhnen sich an Verhaftungen wie an schlechtes Wetter. Der Gehorsam der Parteimitglieder und der Intelligenzija angesichts des Gedankens sich hinter Gittern wiederzufinden, ist erschreckend. Das ist das typische Kennzeichen eines etatistischen Regimes.“ (6)

Eine andere Quelle berichtet, dass Babel von den Verhafteten gesagt habe: „Diese äußerst begabten Männer stehen haushoch über den mittelmäßigen Vertretern der jetzigen Führung. Sobald solche Männer den geringsten Kontakt zur Macht erlangen, erklärt die Führung gnadenlos: ‚Verhaften, erschießen!’“ (7) Babel wurde als „West-Spion“ und „Trotzkist“ angeklagt und im Januar 1940 im Moskauer Gefängnis erschossen. 1954 wurde Babel öffentlich von den gegen ihn erhobenen Anschuldigungen freigesprochen. Ein großer Teil seiner unveröffentlichten und von der stalinistischen Geheimpolizei beschlagnahmten Werke ist bis heute nicht auffindbar.

Isaak Babel war eine der herausragendsten Gestalten des äußerst fruchtbaren kulturellen Gärungsprozesses der zwanziger und frühen dreißiger Jahre in der Sowjetunion, bevor dieser von Stalin und seinen Helfershelfern brutal unterdrückt wurde. Eine Lektüre seines Werks lässt ahnen, was der Weltkultur dadurch verlorengegangen ist.

Anmerkungen

1) Peter Urban: Isaac Babels Reiterarmee, Berlin,1995, S. 16

2) Siehe: Alexander K. Woronski, Die Kunst, die Welt zu sehen, Ausgewählte Schriften 1911-1936, erschienen im Mehring Verlag

3) Aleksandr Voronski: Isaac Babel, in: Twenties Century Russian Literary Criticism, edited by V. Erlich Yale University Press, 1975) pp. 182-197. (übersetzt aus dem Englischen)

4) Peter Urban: a. a. O., S.14

5) Leo Trotzki: Mein Leben, Frankfurt, 1974, S. 313

6) Wadim Rogowin: Die Partei der Hingerichteten, Essen, 1999, S. 244-45

7) ebd. S. 245

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