Perspektive

Nach dem Nato-Gipfel: Gemetzel in Afghanistan geht weiter

Die offizielle Erklärung des Nato-Gipfels zum Thema Afghanistan, die am Montag in Chicago verlesen wurde, nennt Afghanistan ein Land, das „auf dem Weg zu Selbstständigkeit, Sicherheit, verbesserter Regierung, wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung ist,“ in dem sich „das Leben der afghanischen Männer, Frauen und Kinder“ nach zehn Jahren Besatzung durch die USA und die Nato „deutlich verbessert hat.“

Sie verspricht einen „unumkehrbaren Übergang“ von dem Krieg unter amerikanischer Führung hin zu einer Lage, in der bis Mitte nächsten Jahres „die afghanischen Truppen landesweit die Verantwortung für die Sicherheit übernehmen können.“ Sie beschreibt das Entstehen eines „friedlichen, stabilen und wohlhabenden Afghanistans“, das „zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in der ganzen Region beitragen wird.“

Wem die Diktion solcher Nato-Dokumente nicht vertraut ist, dem ist es zu verzeihen, wenn er sich jetzt verwundert die Augen reibt. Von welchem Land ist hier die Rede?

Die Behauptung, Afghanistan entwickle sich zu einem wohlhabenden und stabilen Land, ist so anmaßend, wie die Vorstellung, die afghanische Regierung sorge für verbesserte Sicherheit, Regierbarkeit und Entwicklung.

Es geht hier um ein Land, in dem die Hälfte der Bevölkerung unter der offiziellen Armutsgrenze lebt und jedes Jahr 30.000 Kinder an Unterernährung sterben. In Umfragen gilt Afghanistan immer noch als eines der zehn ärmsten Länder der Welt, und angesichts der hohen Mütter- und Kindersterblichkeit als das weltweit schlimmste Land für Mütter. Die Arbeitslosenquote liegt seit der amerikanischen Invasion im Oktober 2001 konstant bei etwa 40 Prozent. Die stark angestiegene Auswanderung hat die gesellschaftlichen Bedingungen noch weiter verschärft – im Jahr 2011 sind dreimal so viele Afghanen aus ihrem Land geflohen wie vier Jahre zuvor.

Was die „verbesserte Regierungsführung“ der amerikanischen Marionette Hamid Karzai angeht, so gilt seine Regierung als eine der korruptesten der Welt: Eine winzige Schicht von Warlords, Verbrechern und kapitalistischen Kumpanen steckt Milliarden von Dollars an Hilfsgeldern ein. Diese offene und schamlose Kriminalität hat Karzais Regime den Hass der afghanischen Bevölkerung eingebracht, und den Rückhalt für Widerstandskämpfer gegen die ausländische Besatzungsmacht gestärkt, die ihn an der Macht hält.

Nach einer Reihe von gut geplanten Anschlägen im Zentrum der Hauptstadt wird sogar die alte Charakterisierung Karzais als „Bürgermeister von Kabul“ infrage gestellt. Durch die Verdreifachung der US-Truppen in Afghanistan unter Obama hat sich der „robuste“ Aufstand im ganzen Land nur noch weiter ausgebreitet.

Was die afghanischen Marionettentruppen angeht, die ab Juni 2013 die Verantwortung übernehmen sollen, so hat erst im Februar der stellvertretende Oberbefehlshaber der US-Truppen in Afghanistan, Generalleutnant Curtis Scaparotti, zugegeben, dass nur ein Prozent der afghanischen Soldaten und Polizisten fähig sind, selbstständig zu operieren. Und selbst diese winzige Handvoll Einheiten ist von den Geheimdienstinformationen und der Logistik, sowie Gefechtsunterstützung durch US-Truppen abhängig. Das afghanische Militär besitzt weder eine Luftwaffe noch Artillerie.

Die rosige Erklärung, die in Chicago herausgegeben wurde, erwähnt nirgendwo die zunehmenden „green on blue“-Morde – die Ermordung von amerikanischen- und Nato-Soldaten durch ihre angeblichen afghanischen Verbündeten, die die Moral der Besatzungstruppen empfindlich getroffen haben. Genauso wenig werden die endlosen Gräueltaten der Besatzungstruppen erwähnt, wie das Massaker eines US-Soldaten an siebzehn Zivilisten; amerikanische Soldaten, die auf die Leichen von Afghanen urinieren und sie schänden; oder Luftangriffe und nächtliche Überfälle der Spezialkräfte, bei denen ganze Familien sterben.

Das Gerede über einen „unumkehrbaren Übergang,“ auf den „ein Jahrzehnt der Umwandlung“ folgen wird, das angeblich 2014 beginnt, soll die europäische und amerikanische Öffentlichkeit – von der nur knapp ein Viertel den Krieg unterstützt – davon überzeugen, dass, wie Obama es ausdrückt, „der Krieg in Afghanistan, wie wir ihn verstehen, vorbei ist.“

Aus dieser dreisten Lüge kann man schließen, dass eine neue Phase des Krieges gerade erst beginnt. Einen Vorgeschmack auf den Charakter dieser neuen Phase lieferte General John Allen, der amerikanische Oberbefehlshaber in Afghanistan. Er betonte, dass amerikanische- und Nato-Truppen das ganze nächste Jahr über, und im Jahr 2014 einen Feldzug gegen den Widerstand der Bevölkerung durchführen, der die Ausmaße eines Völkermordes annehmen könnte.

Vor dem Gipfel in Chicago erschien ein Bericht des Center for National Policy, das zuvor vom heutigen Verteidigungsminister Leon Panetta geführte wurde. Darin wird beschrieben, was kommen soll. Der Bericht fordert ein dauerhaftes Bleiben in Afghanistan – auf jeden Fall für die zehn Jahre, die Obama und Karzai Anfang des Monats in ihrem Abkommen über eine strategische Partnerschaft ausgehandelt haben. Dabei ist von 30.000 Soldaten die Rede, drei Viertel davon Amerikaner, und unter dem Kommando der Spezialkräfte. Sie werden außerdem durch „Artillerie- und Luftkräfte“ unterstützt. Zusammen mit der CIA werden sie die „direkten Aktionen “ gegen Aufständische in Afghanistan und Pakistan fortsetzen.

Diese Truppe soll in drei strategischen Basen stationiert sein – Kandahar Air Field, Camp Bastion/Leatherneck in der Provinz Helmand und Bagram Air Field.

Mit anderen Worten, der „Übergang“ läuft auf weitere Morde in Afghanistan und Pakistan hinaus, auf weitere Bombenangriffe, weitere nächtliche Überfälle und weitere Drohnenangriffe. Das Ziel ist es, im „Zeitalter der Austerität“, wie die Nato-Führer es nennen, das Gemetzel billiger zu machen, weil alleine die USA zehn Milliarden Dollar im Monat für den Krieg ausgeben.

Obama verfolgt die gleichen strategischen Ziele wie sein Vorgänger George W. Bush. Unter dem Deckmantel des „weltweiten Kriegs gegen den Terror“ strebt der US-Imperialismus danach, permanente Stützpunkte in einem Land zu unterhalten, das sowohl an China als auch an den Iran und die ölreiche Region Zentralasien angrenzt. Das Land gilt in den herrschenden Kreisen als strategischer Startblock für neue, blutigere imperialistische Kriege.

Seit Obama 2009 an die Macht kam – hauptsächlich aufgrund des Widerstandes in der Bevölkerung gegen die Kriegspolitik der Bush-Regierung – wurden 1.350 Soldaten und Marines getötet, dazu unzählige tausend afghanische und pakistanische Zivilisten jeden Alters und Geschlechts. Hunderte Milliarden Dollar wurden in fast elf Jahren Krieg verschwendet.

Der Nato-Gipfel in Chicago zeigt, dass die amerikanische Arbeiterklasse nur durch die Mobilisierung ihrer unabhängigen politischen Stärke gegen die Obama-Regierung und das ganze Zweiparteiensystem gegen den Krieg kämpfen kann. Ein solcher Kampf muss mit einem sozialistischen Programm ausgestattet sein, dessen Perspektive es ist, den Kapitalismus abzuschaffen, der die Ursache für Krieg und Militarismus ist.

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