Perspektive

Japan:

Atomkraftwerke gehen wieder ans Netz

Die Eile, mit der die japanische Regierung die Atomreaktoren des Landes wieder anwirft, unterstreicht die Bedrohung, die das kapitalistische System für die Sicherheit, die Gesundheit und das Leben der Weltbevölkerung darstellt.

Wenig mehr als ein Jahr nach der Nuklearkatastrophe in Fukushima im März 2011 – der zweitschlimmsten der Welt – hat Premierminister Yoshihiko Nodas Regierung die Wiedereröffnung von zwei Reaktoren in Oi an Japans Westküste angeordnet.

Die Entscheidung wurde eindeutig von den Forderungen des Finanzkapitals und der Energiekonglomerate beeinflusst, die sich über öffentlichen Widerstand und grundlegende Sicherheitsbedenken hinwegsetzen. Weitere Reaktoren warten bereits darauf, ebenfalls wieder angeworfen zu werden, darunter auch die, die von der Tokyo Electric Power Company (TEPCO) betrieben werden, die für die Fukushima-Katastrophe verantwortlich ist.

Das Erdbeben und der Tsunami vom vergangenen Jahr führten schnell zur Überschwemmung der Fukushima-Anlage, dem Ausfall seiner Notfallsysteme und einer teilweisen Schmelze in drei seiner sechs Reaktoren. Etwa 87.000 Einwohner waren gezwungen, die umliegenden Gebiete zu verlassen, die – möglicherweise auf Jahrzehnte - unbewohnbar geworden sind. Auf dem Höhepunkt der Katastrophe wurde um die Sicherheit der 35 Millionen Einwohner von Tokio und Umgebung gebangt.

Die Bedenken innerhalb der Bevölkerung waren so groß, dass im Mai 2011 alle fünfzig japanischen Atomreaktoren abgeschaltet wurden. Viele wurden nur für Wartungszwecke oder Sicherheitsüberprüfungen abgeschaltet, konnten aber wegen des weit verbreiteten Misstrauens gegenüber den Energiefirmen und der Regierung nicht wieder ans Netz genommen werden. Eine jüngst vom Sender NHK vorgenommene Umfrage ergab, dass 80 Prozent der Menschen in Gegenden nahe Oi überzeugt sind, dass der Atomanlage ein Fukushima-artiger Unfall drohen könnte.

Die beiden Reaktoren liegen an der Bucht von Wakasa. Die Region, die als Japans „Nukleargasse“ bekannt ist, beherbergt 13 Reaktoren. Größere Städte wie Kyoto und Osaka liegen in der Nähe. Dennoch gibt es keine grundlegenden Sicherheits- oder Notfallvorkehrungen. Eine Mauer zum Schutz der Reaktoren vor Tsunamis wird erst im nächsten Jahr fertig, eine Notfallwarte wird es nicht vor 2016 geben und Entlüftungsanlagen mit Filtern, die Strahlungslecks eingrenzen könnten, werden frühestens in drei Jahren fertig gestellt.

Viele Städte innerhalb der 30-Kilometer-Evakuierungszone der Anlage in Oi haben noch immer kein Überwachungssystem, keine medizinischen Vorräte zum Strahlenschutz und keine sicheren Evakuierungswege. „Wenn eine weitere Krise jetzt eintritt, dann können wir nichts anderes tun als fliehen“, sagte Kaoru Tsuchiya, Angestellter des lokalen Katastrophenschutzes, gegenüber Associated Press. Landesweit besteht in 135 Städten mit einer Bevölkerung von fünf Millionen Einwohnern eine ähnliche Situation. Lokale Behörden warten noch immer auf einen nationalen Katastrophenplan, der für dieses Jahr versprochen wurde.

Eine vorgeschlagene neue Nukleare Regulierungsbehörde muss noch eingerichtet, Sicherheitsrichtlinien müssen noch entworfen werden. Die geplante Behörde soll die diskreditierte Atomare und Industrielle Sicherheitsagentur (NISA) ersetzen, deren enge Beziehungen zu Tepco während des Desasters enthüllt wurden. NISA und die Regierung überließen Tepco die Leitung des Noteinsatzes von Fukushima trotz ihrer jahrzehntelangen Bilanz von Sicherheitsübertretungen, Verschleierungen und der Verfolgung von Informanten.

Tepcos Umgang mit der Krise zeigte in typischer Weise die systematische Unterordnung der Sicherheit und des Wohlergehens arbeitender Menschen unter die Interessen der Finanz- und Konzernelite. Der Elektrizitätsriese ignorierte die Warnungen von Wissenschaftlern vor der Gefahr eines massiven Tsunamis und spielte danach mehrfach das Ausmaß der Zerstörung herunter, um deren Auswirkungen auf ihre Aktienpreise und Profite zu minimieren.

Statt dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden, ist Tepco von der Regierung mit mehr als einer Billion Yen (ca. zehn Mrd. Euro) ausgestattet worden, um das Unternehmen gegen Entschädigungsforderungen abzusichern und finanziell für die Wiederinbetriebnahme der Reaktoren zu rüsten. Diese Woche zeigte Tepco, dass sich nicht viel geändert hat. Das Unternehmen gab einen Bericht heraus, der es von jeder Schuld freispricht und abstreitet, dass es während der Fukushima-Krise Informationen zurückgehalten habe und behauptet, dass keine Firma das Erdbeben der Stärke neun und die darauffolgende Flutwelle hätte voraussagen oder sich gar darauf hätte vorbereiten können.

Die herrschende Klasse Japans hat Tepco und den anderen Atomstromerzeugern des Landes seit langem den Rücken freigehalten, weil sie sich vor vier Jahrzehnten auf der Suche nach „Energiesicherheit“ zur Abschüttelung ihrer Abhängigkeit von Ölimporten der Atomenergie zugewandt hat. Das hieß, Dutzende von Atomreaktoren entlang einer der am stärksten erdbebengefährdeten Störungszonen der Erde zu bauen. Darüber hinaus sehen militaristische Teile des japanischen Establishments die Nukleartechnologie als wichtig für die Fähigkeit zur Herstellung von Atomwaffen an.

Diese zugrundeliegenden Faktoren – Konzernprofite und geostrategisches Kalkül, das der Einteilung der Welt in Nationalstaaten entspringt – sind keinesfalls auf Japan beschränkt. Trotz der Gefahren, die das Fukushima-Desaster deutlich gemacht hat, befindet sich die Atomindustrie weltweit weiter auf Expansionskurs, und das bei zunehmenden internationalen Spannungen über Atomenergie und andere Energievorräte. Der Weltatombehörde zufolge werden derzeit 61 Reaktoren gebaut und weitere geplant, unter anderem in den USA, Großbritannien, der Türkei, Saudi-Arabien, Südkorea und den Vereinigten Arabischen Emiraten, wie auch in China, Indien und Russland.

Die Atomenergie selber ist nicht das Problem, sondern die soziale und wirtschaftliche Ordnung, unter der sie entwickelt wird. Niemand sollte den Behauptungen der Atomkonzerne glauben, ihr einziges Interesse bestünde darin, in Zukunft „grüne Energie“ zu liefern. Atomkraft mag ein beträchtliches Potential als ergiebige und verlässliche Elektrizitätsquelle haben, die keine Treibhausgase ausstößt und billiger ist als viele erneuerbare Alternativen. Aber sie bringt schwierige und potenziell katastrophale Sicherheitskomplikationen und militärische Anwendungsmöglichkeiten mit sich, die die Menschheit auf keinen Fall in den Händen von Wirtschaftseliten oder nationalen Eliten belassen darf.

Nur innerhalb einer rational geplanten sozialistischen Weltwirtschaft wäre die sichere Entwicklung und Zügelung der Atomenergie denkbar. Dann könnte das Potential der Atomtechnologie auf der Grundlage der langfristigen Interessen der Weltbevölkerung und der globalen Umwelt erforscht werden. Arbeitende Menschen würden ihre Anwendung einer breiten und demokratischen Diskussion unterwerfen und die sorgfältigen Einschätzungen von Wissenschaftlern und Energieexperten zurate ziehen.

Die erbarmungslose und unverantwortliche Hast, mit der Atomreaktoren in der ganzen Welt ungeachtet der durch die Fukushima-Katastrophe enthüllten immensen Gefahren reaktiviert und gebaut werden, ist eine flammende Anklage des Kapitalismus. Er muss durch die internationale Arbeiterklasse gestürzt werden, um den Weg freizugeben für die harmonische Entwicklung der Ressourcen der Erde, und das riesige Potenzial wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts ausschöpfen, und zwar im Besitz und unter der demokratischen Kontrolle der arbeitenden Bevölkerung.  

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