Wachsende Zahl von Streiks in Russland

In den vergangenen Monaten kam es in Russland verstärkt zu Streiks und Protesten von Arbeitern.

Laut dem gewerkschaftsnahen Zentrum für soziale und Arbeitsrechte, das seit 2008 die Streikaktivität von Arbeitern aufzeichnet, gab es im April dieses Jahres 35 Arbeitsproteste. Das sind fast ein Drittel mehr als im April des Jahres 2009, als die Wirtschaftskrise in Russland ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht hatte.

Insgesamt kam es innerhalb der ersten vier Monate des Jahres 2012 gegenüber dem Vorjahr zu einem 30-prozentigen Anstieg von Arbeitsprotesten. Außer den Angaben des Zentrums für soziale und Arbeitsrechte gibt es keine Anhaltspunkte für die Entwicklung von Streiks, da die Regierung seit Jahren keine Daten mehr zur Verfügung stellt.

Einer der bedeutendsten Streiks der vergangenen Wochen war die Arbeitsniederlegung von 180 Leiharbeiterinnen in Omsk beim Speiseeishersteller Inmarko, der dem Großunternehmen Unilever angehört. Die Arbeiterinnen streikten vom 12. bis zum 15. Mai für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Laut Gewerkschaftsangaben verdienen sie im Durchschnitt 8.000 bis 11.000 Rubel im Monat (190 bis 260 Euro).

Solche Gehälter sind in Russland nicht ungewöhnlich. Davon lässt sich kaum leben, geschweige denn eine Familie ernähren. Hinzu kommt, dass Leiharbeiter gegenüber ihrem Arbeitgeber praktisch keine Rechte und auch keinen Anspruch auf Sozialzahlungen haben. Streikende Arbeiterinnen beschwerten sich in russischen Medien, dieses System sei „reine Abzocke“.

Leiharbeit wird in den letzten Jahren von russischen Unternehmen vor allem in der Industrieproduktion verstärkt eingesetzt, um den Arbeitsmarkt „flexibler“ zu gestalten und die Löhne der Arbeiter zu drücken. Aufgrund der zunehmenden sozialen und finanziellen Unsicherheit sehen sich immer mehr Arbeiter gezwungen, in solche ungesicherten Arbeitsverhältnisse zu treten. Die Zahl von Leiharbeitern in Russland wird zurzeit auf rund 100.000 geschätzt, Tendenz steigend.

Laut dem Leiharbeitsunternehmen Kelly Services, das auch für Inmarko gearbeitet hat, ist es vor dem Streik in Omsk bisher noch nie zu einem Streik von Leiharbeitern gekommen.

Mit der Zunahme der Streiks zeigt sich immer deutlicher, dass die Gewerkschaften diese in eine Sackgasse führen.

In einem recht typischen Verlauf wurde der Streik in Omsk schließlich durch die „Arbeitskonföderation Russlands“ (KTR) beendet. Die Arbeiterinnen hatten den Streik unabhängig von den Gewerkschaften begonnen und anfangs auch keinerlei Unterstützung erhalten. Am 14. Mai wurde jedoch offenbar eine unabhängige Gewerkschaftszelle aufgebaut, die sich gleich am nächsten Tag der International Union of Food Workers (IUF) anschloss, die mit der KTR in Russland zusammenarbeitet.

Daraufhin handelte die Gewerkschaft mit dem Unternehmen einen Deal aus, der den Streik beendete und eine Lohnerhöhung von lächerlichen 4 Prozent vorsah. Damit kann gerade einmal die Inflationsrate ausgeglichen werden, die im April 2012 bei knapp vier Prozent lag. Selbst das Wirtschaftsmagazin Expert, das die Intervention der IUF begrüßt hat, musste zugegeben, dass man den Streik „kaum als erfolgreich bezeichnen“ könne.

Eine Sprecherin von Inmarko hat inzwischen angekündigt, dass das Unternehmen versuchen wird, den Streik vor Gericht auf der Grundlage des reaktionären Streikrechts in Russland für „illegal“ erklären zu lassen. Zeitweise hatte die Unternehmensführung den streikenden Arbeiterinnen auch mit der Entlassung gedroht.

Zur Verhinderung oder Unterbindung von Streiks greifen Unternehmer mit Rückendeckung des Staates regelmäßig auf massive Repressionen und die Einschüchterung von Arbeitern und Gewerkschaftsaktivisten zurück. Das Streikrecht in Russland ist im Jahr 2002 mit Unterstützung der Föderation Unabhängiger Gewerkschaften Russlands (FNPR) drastisch eingeschränkt worden.

Die FNPR war 1990 aus dem Gewerkschaftsverband der Sowjet-Bürokratie hervorgegangen. Weit davon entfernt, eine Interessenvertretung der Arbeiter zu sein, handelt es sich bei der FNPR de facto um eine Organisation des Staates, die eng mit der Regierungspartei „Einiges Russland“ und Präsident Wladimir Putin zusammenarbeitet.

Die KTR, die beim Inmarko-Streik intervenierte und der auch die wichtigste Autogewerkschaft MPRA angehört, stellt eine Art „linken Flügel“ der FNPR dar. Sie arbeitet mit der stalinistischen Kommunistischen Partei und der sozialdemokratischen Partei „Gerechtes Russland“ zusammen. Sie bemüht sich darum, Arbeitskonflikte in Zusammenarbeit mit den Unternehmen möglichst schnell und reibungslos am Verhandlungstisch zu lösen.

Der MPRA kommt angesichts ihrer Rolle in der Autoindustrie, wo es häufiger als in anderen Wirtschaftszweigen zu Streiks kommt, eine besondere Bedeutung zu. Sie wird von Alexey Etmanov geführt, der die Gewerkschaft gründete, nachdem er im Jahr 2006 mit einer Gruppe von Gesinnungsgenossen wegen „extremistischer Aktivitäten“ aus der FNPR ausgeschlossen worden war.

Die MPRA ist unter anderem mit der UAW in Amerika verbunden und verkauft Streiks der Arbeiter regelmäßig aus, wenn sie sie nicht von vornherein verhindert. Etmanov sitzt als Abgeordneter der Partei „Gerechtes Russland“ in der Gesetzesversammlung der Leningrader Region und unterhält enge Beziehungen zum Staatsapparat.

Im April hatte die MPRA Streiks im Benteler-Werk und im Fauressia-Werk in der Leningrader Region ausverkauft (Siehe: „Streiks in der russischen Autoindustrie“). Der Benteler-Streik, den die Gewerkschaft bis heute als großen Erfolg feiert, wurde abgebrochen, als sich das Unternehmen zu Verhandlungen mit der Gewerkschaft bereit erklärte. Nun müssen die Arbeiter müssen weiter für Armutslöhne von 18.000 Rubel (430 Euro) im Monat arbeiten und haben keinerlei Verbesserung der Arbeitsbedingungen erzielt.

Ende Mai blies die MPRA kurzfristig einen bereits angekündigten Streik am Ford-Werk in der Nähe von Leningrad ab. Dort war es 2007 zu einem der bedeutendsten und langwierigsten Streiks der letzten zehn Jahre in Russland gekommen. Die Absage des Streiks begründete die Gewerkschaft mit der „Verhandlungsbereitschaft“ des Unternehmens, obwohl sie eingestehen musste, dass die Zugeständnisse der Unternehmensleitung „weit hinter unseren anfänglichen Forderungen und Erwartungen zurückgeblieben sind“.

Auch einen Streik im Nissan-Werk, das sich in derselben Region befindet, versucht die Gewerkschaft seit Wochen zu verhindern.

Die Weltwirtschaftskrise hat Russland schwer getroffen. Von dem massiven Einbruch der Wirtschaftsleistung von 8 Prozent im Jahr 2009 konnte es sich nicht mehr erholen. Inzwischen mehren sich vor allem aufgrund der Eurokrise die Rezessionstendenzen.

Eine vor kurzem veröffentlichte Studie der russischen Sberbank und der Bank of America Merrill Lynch gelangt zum Schluss, dass ein Auseinanderbrechen der Eurozone in Russland zu einem starken Anstieg der Arbeitslosigkeit, zur Stagnation der Löhne, zur Schwächung des Rubels und zu einem Fall der Ölpreise auf 60 US-Dollar pro Barrel auf dem Weltmarkt führen würde. Das russische Staatsbudget hängt zu rund 50 Prozent von den Einnahmen aus Öl- und Gasexporten ab und benötigt laut Analysten im Jahr 2012 einen Ölpreis von rund 120 US-Dollar pro Barrel, um ausgeglichen zu sein.

Die Regierung nutzt die Wirtschaftskrise, um die systematische Untergrabung der sozialen und wirtschaftlichen Rechte der Arbeiterklasse, die mit der kapitalistischen Restauration einsetzte, weiter voranzutreiben.

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