Deutschland: Heftige Kontroverse über Bankenunion

Der EU-Gipfel vom 28. und 29. Juni hat in Deutschland eine heftige Kontroverse ausgelöst. Über 200 Wirtschaftswissenschaftler haben einen Aufruf unterzeichnet, der Bundeskanzlerin Angela Merkel scharf kritisiert. „Die Entscheidungen, zu denen sich die Kanzlerin auf dem Gipfeltreffen der EU-Länder gezwungen sah, waren falsch“, lautet sein erster Satz.

Die Wirtschaftswissenschaftler verurteilen insbesondere die Entscheidung des Gipfels, eine europäische Bankenunion zu bilden, weil diese „eine kollektive Haftung für die Schulden der Banken des Eurosystems“ bedeute. Das lehnen sie aus nationalistischen Gründen ab.

Die „soliden Länder Europas“ dürften nicht für die Absicherung der Bankenschulden der „Krisenländer“ in Haftung genommen werden, heißt es in dem Aufruf. Eine „Vergemeinschaftung der Haftung für die Bankschulden“ werde die „soliden Länder“ immer wieder „Pressionen“ der Schuldnerländer aussetzen, solange diese „über die strukturelle Mehrheit im Euroraum verfügen“. Außerdem stärke eine solche Haftung weder den Euro noch den europäischen Gedanken, sondern helfe „statt dessen der Wall Street und der City of London“.

In weiteren Interviews und Artikeln schlagen die beiden Initiatoren des Aufrufs, der Leiter des Münchner Ifo-Instituts Hans-Werner Sinn und der Dortmunder Statistikprofessor Walter Krämer, noch deutlichere nationalistische Töne an. So wirft Sinn im Handelblatt den Ländern mit Schuldenproblemen vor, sie hätten „ein Kesseltreiben veranstaltet“: „Um an unser Geld zu kommen, hat man Deutschland imperiale Gelüste vorgeworfen und uns den Hass der Völker prophezeit.“

Auch in einem gemeinsamen Beitrag für die F.A.Z. beschuldigen Sinn und Krämer andere Länder, Deutschland zu erpressen: „Der Ablauf ist immer der gleiche: Erst werden wir mit dem Placebo der politischen Schranken und Verhaltensmaßregeln bewogen, das Portemonnaie zu zücken, und wenn das Portemonnaie erst einmal auf dem Tisch liegt, werden wir bedrängt, auf die politischen Schranken zu verzichten.“

Der Aufruf der Ökonomen greift Standpunkte auf, wie sie bisher der ehemalige BDI-Vorsitzende Hans-Olaf Henkel, der SPD-Politiker Thilo Sarrazin sowie vereinzelte Vertreter der Regierungsparteien CDU, CSU und FDP vertreten haben. Diese lehnen aus deutschem Eigeninteresse jede finanzielle Unterstützung für Länder mit Schuldenproblemen ab und wollen teilweise sogar den Euro aufgeben. Handelte es sich dabei bisher um exzentrische Einzelmeinungen, hat nun zum ersten Mal eine größere Zahl von Akademikern einen solchen Aufruf unterzeichnet.

Wie Henkel und Sarrazin verbinden auch die Ökonomen ihren Aufruf mit populistischer Demagogie. Sie wenden sich nicht an Regierung und Politik, sondern an die „lieben Mitbürger“, die sie auffordern, Druck auf die Abgeordneten ihres Wahlkreises auszuüben: „Unsere Volksvertreter sollen wissen, welche Gefahren unserer Wirtschaft drohen“.

Obwohl es sich bei den Unterzeichnern um entschiedene Verteidiger von kapitalistischem Eigentum und Marktwirtschaft handelt, teilen sie demagogische Seitenhiebe gegen die Banken aus. Sie lehnen eine „Sozialisierung der Schulden“ ab und fordern: „Banken müssen scheitern dürfen.“ Die Lasten eines Bankrotts müssten die Gläubiger tragen, „denn sie sind das Investitionsrisiko bewusst eingegangen und nur sie verfügen über das notwendige Vermögen“.

Der Aufruf der Wirtschaftswissenschaftler ist bei der Regierung, den Unternehmerverbänden, den Gewerkschaften sowie der SPD und den Grünen auf scharfe Ablehnung gestoßen. Sie stehen hinter dem Kurs von Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Rettungsfonds, Bankenunion und ähnlichen Maßnahmen zur Verteidigung des Euro unterstützt und diese an strikte Sparauflagen auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung knüpft.

Merkel selbst warf den Verfassern vor, die hätten die Beschlüsse des EU-Gipfels nicht richtig gelesen, was diese in einem gemeinsamen Artikel in der F.A.Z. empört zurückwiesen. Finanzminister Wolfgang Schäuble bezeichnete die Kritik als „unverantwortlich“ und beschuldigte die Unterzeichner, sie betrieben eine Verwirrung der Öffentlichkeit. CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe sprach von „Panikmache“ und beanstandete: „Der Aufruf schürt lediglich Ängste und zeigt keinen einzigen Weg zur Lösung der Probleme auf.“

Arbeitgeberchef Dieter Hundt versicherte dem Handelsblatt, er „bewundere, wie die Bundeskanzlerin ihre Positionen in Europa einbringt und durchsetzt“, und zolle ihr „größten Respekt“. BMW-Chef Norbert Reithofer bezeichnete in derselben Zeitung die EU-Gipfelbeschlüsse als „Teil der Lösung“.

Der gewerkschaftsnahe Ökonom und Wirtschaftsweise Peter Bofinger sagte SpiegelOnline, der Aufruf schade „dem öffentlichen Ansehen der deutschen Wirtschaftswissenschaft“. Michael Hüther, Direktor des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft, bezeichnete den Aufruf als „pure Stimmungsmache“. Gustav Horn, Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), sprach von „nationalistisch angehauchter Demagogie“.

Eine Gruppe von Ökonomen um den Berliner Professor Frank Heinemann veröffentlichte einen Gegenaufruf, der die Beschlüsse des EU-Gipfels und die angestrebte Bankenunion ausdrücklich begrüßt. Er wurde inzwischen ebenfalls von etwa 150 Ökonomen unterzeichnet, wobei mindestens neun Professoren beide Aufrufe unterzeichnet haben, obwohl sie sich offensichtlich widersprechen.

Unterstützung hat der von Sinn und Krämer verfasste Aufruf dagegen von zwei Seiten erhalten, die sich sonst scheinbar unversöhnlich gegenüberstehen: Vom rechten Rand der Union und von der Linkspartei.

CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt lobte den Aufruf als „mahnenden Beitrag, dass die Umsetzung der viel zu weit interpretierbaren Gipfelbeschlüsse nicht in die falsche Richtung gehen darf“. Und die stellvertretende Vorsitzende der Linkspartei, Sahra Wagenknecht, begrüßte ihn mit den Worten: „Wo sie recht haben, haben sie recht.“

Wagenknechts Unterstützung für den Aufruf der Ökonomen sagt viel über den Charakter der Linkspartei und deren sogenannten „linken“ Flügel um Wagenknecht und Oskar Lafontaine, die inzwischen auch persönlich liiert sind.

Wagenknecht gebärdet sich in der Regel als heftige Kritikerin von Regierung, Banken und Europäischer Union. Ende Juni bezeichnete sie die Regierung Merkel in der Bundestagsdebatte über den europäischen Fiskalpakt als Marionette der Banken. Sie warf ihr vor, die Bürgerinnen und Bürger über den Tisch zu ziehen, „um die Vermögen der Reichsten zu retten und das Spielkasino Finanzmarkt am Laufen zu halten“. Merkels Europa sei „ein Projekt der Zerstörung von Demokratie und sozialer Gerechtigkeit, ein Projekt zur Zerschlagung von Arbeitnehmerrechten und zur Senkung von Löhnen und Renten, ein Projekt von Deutscher Bank, Goldman Sachs und Morgan Stanley zur Ausplünderung der europäischen Steuerzahler“.

Doch Wagenknecht trifft keine Unterscheidung zwischen linker und rechter Opposition gegen den Kurs der Regierung und der Europäischen Union. Oder genauer: Trotz ihrer antikapitalistischen Rhetorik schließt sie sich den rechten Gegnern der Regierung an, die Merkels Europakurs im Namen eines gesteigerten deutschen Nationalismus bekämpfen.

Wagenknechts Nähe zu Hans-Werner Sinn, dem Autor des Ökonomenaufrufs, ist nicht neu. Schon vor drei Jahren hatte Die Zeit ein gemeinsames Interview mit den beiden veröffentlicht. Und im September 2010 erschien Sinn zu einer Podiumsdiskussion mit Wagenknecht in Frankfurt, zu der die Linkspartei eingeladen hatte.

Was die beiden trotz vieler Meinungsverschiedenheiten vereint, ist das gemeinsame Bekenntnis zum sogenannten Ordoliberalismus, den ökonomischen Lehren von Walter Eucken und Alfred Müller-Armack, auf die sich die Nachkriegsbundeskanzler Konrad Adenauer und Ludwig Erhard (beide CDU) berufen hatten. Diese spezifisch deutsche Form des Liberalismus verbindet den freien Markt mit einem starken Staat, der dem Markt einen Ordnungsrahmen setzt.

In ihrem 2011 erschienen Buch „Freiheit statt Kapitalismus“ hat sich Wagenknecht von ihren früheren Lippenbekenntnissen zu Marx verabschiedet und sich ausdrücklich zu Ludwig Erhard bekannt. Wenn man „die originären marktwirtschaftlichen Ideen zu Ende“ denke, gelange man „direkt in den Sozialismus“, behauptet sie darin. (Siehe: „Sahra Wagenknechts Loblied auf Markt und Leistungsgesellschaft“) Das brachte ihr zahlreiche Unterstützer im rechten bürgerlichen Lager ein.

Kein geringerer als Peter Gauweiler, der selbst in der notorisch rechten CSU als rechter Exzentriker gilt, widmete der kürzlich erschienen zweiten Auflage in der Süddeutschen Zeitung eine lobende Kritik. „Das eigentlich Sensationelle an diesem Buch“, schrieb er, „ist der radikale Bruch der früheren Vorsitzenden der Kommunistischen Plattform mit der negativen Sicht auf die frühe Bundesrepublik, was ja über Jahrzehnte zum Pflichtprogramm aller Linken in Deutschland gehörte.“

Gauweiler erschien im Mai dieses Jahres auch gemeinsam mit Wagenknecht zu einer Vorstellung des Buches in der Berliner Kulturbrauerei. Als dritter saß F.A.Z.-Herausgeber Frank Schirrmacher auf dem Podium, der das Buch im Flaggschiff der konservativen deutschen Presse vorabgedruckt hatte. Schirrmacher versicherte Wagenknecht, die mittelständischen Leser der F.A.Z. hätten begeistert darauf reagiert.

Der Aufruf der Wirtschaftswissenschaftler und die Kontroverse, die sich darüber entwickelt hat, sind Symptome tiefgreifender politischer Veränderungen in Deutschland. Während die Regierung Merkel im Namen der „Rettung des Euro“ die soziale Konterrevolution in Europa vorantreibt, entwerfen ihre rechten Kritiker eine Politik für den Fall eines Scheiterns des Euro und der Europäischen Union, das sich immer deutlicher abzeichnet.

Seit ihrer Gründung war die Politik der Bundesrepublik durch die Westorientierung und die europäische Integration geprägt. Sie ermöglichten es der deutschen Wirtschaft, ohne Einsatz militärischer Mittel wieder Weltgeltung zu erlangen und im Innern den sozialen Frieden zu erhalten. Zerbrechen diese Rahmenbedingungen, sind heftige gesellschaftliche Erschütterungen sowie das Anwachsen von Nationalismus und Militarismus die unausweichliche Folge.

In einer solchen Situation wird der Linkspartei eine wichtige Rolle zufallen, die Arbeiterklasse zu verwirren und zu unterdrücken. Sie verbindet einen bedenkenlosen Nationalismus mit dem Ruf nach dem starken Staat. Wagenknecht hat ihre frühere Begeisterung für den stalinistischen Staat der DDR durch die Unterstützung des bürgerlichen Staats der Bundesrepublik ersetzt, den sie in Form der Erhard-Ära glorifiziert. Der Lafontaine-Wagenknecht-Flügel der Linkspartei hat zudem enge Verbindungen zur Gewerkschaftsbürokratie, die sich in Krisenzeiten stets als Brutstätte des Nationalismus erwiesen hat.

Eine linke, sozialistische Opposition gegen die Regierung Merkel und die Europäische Union ist der Politik der Linkspartei diametral entgegengesetzt. Sie ist uneingeschränkt internationalistisch und setzt auf die Mobilisierung der Arbeiterklasse. Sie vereint die europäischen Arbeiter gegen das Diktat der Europäischen Union und bricht sie von deren Handlangern in den Gewerkschaften und politischen Parteien. Sie kämpft für die Enteignung der großen Konzerne und Banken und für die Ablösung der kapitalistischen Marktwirtschaft durch eine geplante, sozialistische Wirtschaft, die den Bedürfnissen der Gesellschaft und nicht den Profitinteressen der Kapitalbesitzer dient. Sie strebt den Aufbau von Arbeiterregierungen und Vereinigter Sozialistischer Staaten von Europa an.

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