Eine weitere Antwort zu Thomas Kuhn

Der folgende Beitrag von William Whitlow ergänzt eine Diskussion, die vergangenen Herbst begann, als sein Artikel „Thomas S. Kuhn, Postmodernismus und Materialistische Dialektik“ erschien und mit einem freundschaftlichen Kommentar von Philip Guelpa auf William Whitlows Bemerkungen zu Thomas Kuhn beantwortet wurde.

 

Lieber Philip,

Ich danke Ihnen für Ihre Antwort auf meinen Artikel über Thomas Kuhn, mit welchem ich dem Kuhn-Unterstützer D. L. entgegnete. Es freut mich, dieses Thema vertiefen zu können. Ihre Opposition gegen den Postmodernismus sowie gegen Kuhns Angriffe auf die Objektivität ist gleichfalls willkommen.

Ich bin verwundert, dass Sie glauben, ich wollte “das Kind der wissenschaftlichen Revolutionen mit dem Kuhnschen Badewasser“ ausschütten. Ich habe versucht, kurz die Herangehensweise der Materialistischen Dialektik an die Naturwissenschaften zu erläutern, habe diese dem Irrationalismus Thomas Kuhns gegenübergestellt und einige Artikel von Leo Trotzki empfohlen, in denen er auf diese Fragen eingeht.[1]

Die dialektische Philosophie, zuerst von Georg Wilhelm Hegel in idealistischer Form vollständig entwickelt, wurde vom russischen Revolutionär Alexander Herzen treffend die „Algebra der Revolution“ genannt.[2] Hegel und andere Denker seiner Zeit wurden zur Dialektik getrieben, teils durch die unüberwindbaren Probleme, die frühere Philosophen wie Kant aufwarfen, teils durch die großen revolutionären Entwicklungen der Epoche in der sie lebten: die Französische wie die Amerikanische Revolution und ebenso die industrielle Revolution verlangten nach einer dialektischen philosophischen Antwort der am weitesten fortgeschrittenen Denker dieser Tage. Sie wurden mit revolutionären Fortschritten in den Naturwissenschaften konfrontiert; die Elektrizität, die Chemie und die Geologie entwickelten sich rasant. Die Wissenschaft beschritt Gebiete, auf denen die mechanistische materialistische Philosophie im Verbund mit den französischen philosophes der Aufklärung nicht mehr länger zufriedenstellend war. Ideen, auf die Diderot, Rousseau und Vico lediglich hindeuteten, mussten exakt erforscht werden. Das dialektische Denken dieser Persönlichkeiten der Aufklärung sollte später von Marx in einer materialistischen Form weiterentwickelt und zur uneingeschränkten Philosophie der sozialen als auch naturwissenschaftlichen Revolution werden.

Ohne darauf herumhacken zu wollen, könnte man zahllose Beispiele aus den Schriften von Marx, Engels, Lenin und Trotzki aufzeigen, welche deren umfassendes Interesse an den wissenschaftlichen Revolutionen ihrer Zeit belegen. Sie zogen aus diesen Revolutionen Schlüsse für ihre philosophische Perspektive, aber ebenso – und hier muss man besonders an Engels‘ Dialektik der Natur und Lenins Materialismus und Empiriokritizismus denken – kritisierten sie die Philosophen und Wissenschaftler, die idealistische oder gar mystifizierende Schlussfolgerungen aus den jeweiligen wissenschaftlichen Revolutionen zogen.

Wenn Sie die Handvoll von mir empfohlenen Artikel Trotzkis lesen, finden Sie Bemerkungen zur Bedeutung wissenschaftlicher Revolutionen: zu jener, die in der Biologie mit Charles Darwin assoziiert wird, zu Mendelejews Einführung des Periodensystems in der Chemie, zur Entdeckung der Radioaktivität und der Transformation chemischer Elemente, und sogar zu Entwicklungen in der Psychologie, welche auf die sehr verschiedenen Ansätze von Freud und Pawlow zurückgehen. Im zuletzt aufgezählten Artikel geht Trotzki auf die Revolution ein, die zur Zeit der Niederschrift in der Physik stattfand – heute als Quantenmechanik bekannt – und erwartet die Nutzbarmachung der „gewaltigen verborgenen Energie“ des Atoms.

Wenn wir die großen revolutionären Entwicklungen in der Wissenschaft des 20. Jahrhunderts erörtern wollen, etwa jene in der Geologie und der Biologie, auf welche Sie sich beziehen, ist es deshalb angebracht, dies in der dialektischen Tradition von Hegel und Marx zu tun und nicht in der von Kuhn repräsentierten antimarxistischen des Neukantianismus. Dies ist der einzige Weg, die neue Generation von Wissenschaftlern und jene, die an der Wissenschaft interessiert sind, in der marxistischen Philosophie, zu unterrichten. Hätte Thomas Kuhn, trotz seiner Unkenntnis der reichhaltigen Geschichte der hegelianischen und marxistischen Philosophie, etwas Bedeutendes zu einer marxistischen Anschauung geliefert, dann könnte man die Lektüre seiner Schrift empfehlen. Da er aber grundsätzlich eine Sicht vertritt, die der materialistischen Dialektik diametral entgegensteht, ist es natürlich unverantwortlich, ihn – wie Sie es offenbar möchten – zu befürworten. Studenten der Sozial- und Geisteswissenschaften werden seinem Werk zweifellos während ihres Studiums begegnen; es ist nicht unsere Aufgabe als Revolutionäre dem offiziellen Lehrplan der Institutionen, die sie besuchen, beizupflichten. Unsere Aufgabe besteht darin, ihnen die Augen für ein weiteres Feld des Wissens und menschlichen Strebens zu öffnen.

Betrachten wir noch einmal die philosophische Konzeption des “Paradigmenwechsels” wissenschaftlicher Erkenntnis, die im Mittelpunkt von Kuhns Ansatz steht. Ich wies bereits darauf hin, dass Kuhn oft mehrdeutige Formulierungen verwendet und weit davon entfernt ist, deutlich zu machen, was er tatsächlich meint. Deshalb beziehe ich mich auf die sehr gründliche Darstellung seiner Philosophie, die Paul Hoyningen-Huene bietet[3]. Er erklärt, dass Kuhn sich gegen „die naive realistische Interpretation der Wissenschaft“ wendet und „die verfeinerte realistische Wissenschaftsphilosophie“ zurückweisen möchte, „die den Prozess der Wissenschaft als ein fortschreitendes ‚sich Annähern an die Wahrheit‘ betrachtet…“ (Ich sollte betonen, dass Kuhn Hoyningen-Huenes Buch las und ihm zustimmte.) Wie ich schon erklärte, kann dies nur als Opposition gegen die marxistische materialistische Methode verstanden werden.

Ich sehe nicht, besonders angesichts der Unklarheit der Kuhnschen Sprache, wie es möglich sein könnte, Einzelnes aus seinen Schriften auszuwählen, – „einige der Grundmuster, die er beschreibt,“ wie Sie es nennen – mit dem wir uns auf gewisser deskriptiver Ebene einverstanden erklären können, und dieses aus seiner Gesamtphilosophie zu trennen. Kuhns Hauptbeschäftigung war letzten Endes die Philosophie und nicht die empirische Geschichte. Seine Schriften werden regelmäßig von postmodernistischen Akademikern zur Rechtfertigung ihrer Positionen herangezogen. Er arbeitete in der Tradition des Neukantianismus, der eine philosophische Auffassung von Geschichte darstellt, die häufig irreführend ist. Auf der Ebene historischer Beschreibung oft sehr ansprechend, ist sie doch, wie Lukács aufzeigt und die Neokantianer selbst eingestehen, in vielen Fällen bewusst gegen den Marxismus gerichtet.

Wenn man wie Kuhn über “wachsende Widersprüche zwischen Theorie und Forschungsergebnissen, Krise und revolutionäre Lösung” schreibt, dann bedeutet dies keine Übereinstimmung mit der Dialektik im marxistischen (oder eigentlich hegelianischen) Verständnis. Kuhn lehnt jede Kontinuität zwischen Auffassungen und Theorien ab, die vor einer wissenschaftlichen Revolution angewandt wurden und solchen, die nach einer Revolution Anwendung finden. Dies ist die von ihm gemeinte „Inkommensurabilität“. Dies bedeutet, dass es keine Entwicklung oder Evolution der wissenschaftlichen Erkenntnis geben kann, keine Annäherung an die Wirklichkeit.

Die dialektische Philosophie des Marxismus betrachtet alles materielle Sein als kontinuierlich dem Wandel und der Entwicklung durch Gegensätze unterworfen. Da das Denken nicht unabhängig von der Materie existiert, sondern vielmehr das höchste Produkt der materiellen Welt darstellt, folgt daraus, dass unsere Auffassungen und Theorien ebenso einer dialektischen Entwicklung unterworfen sein müssen.

Gemäß dieser Anschauung werden die Gegensätze einer wissenschaftlichen Auffassung oder Theorie, wenn diese einen revolutionären Wandel erfährt, nicht zunichte gemacht, sondern führen zu einer höheren Entwicklungsstufe: in Hegels Terminologie ist das eine „bestimmte Negation.“ Hegel gebraucht auch das Wort „aufheben“ für solche Prozesse. Es kann nur schwer in andere Sprachen übersetzt werden: Es hat die doppelte Bedeutung von bewahren und erhalten sowie von beenden. Es steht im Mittelpunkt von Hegels und Marx‘ revolutionärer Auffassung der Welt, eingeschlossen selbstverständlich die Weise, in der gesellschaftlicher Wandel stattfindet.

In Einklang mit diesem Verständnis der dialektischen Entwicklung sagte ich, dass „Newtons Theorie eine Annäherung an Einsteins Theorie darstellt, wobei letztere an deren Stelle trat, diese aber auf einer höheren Stufe bewahrt hat.“ Dies ist nicht Kuhns Position. Wenn Sie Kuhns Struktur wissenschaftlicher Revolutionen lesen, werden Sie erkennen, dass er argumentiert, die in der Relativitätstheorie benutzten Vorstellungen – Energie, Masse, Raum, Zeit – seien in keiner Weise eine Fortsetzung der zuvor in der Newtonschen Mechanik gebrauchten Vorstellungen. Dies schlägt der Ansicht der meisten Wissenschaftler ins Gesicht, unter ihnen Einstein selbst, der, wenn auch unbewusst, sich der materialistischen Dialektik zuneigte.

Ich kann die marxistische Anschauung hier nur in groben Umrissen zeichnen. Sie erfordert ein ernsthaftes Studium der klassischen Texte von Marx und nicht weniger der entscheidenden Schriften Hegels. Ein dialektischer Standpunkt gibt, verglichen mit den Spielarten bürgerlicher Philosophien, einen viel überlegeneren Standpunkt, von welchem aus die Welt und die wissenschaftlichen Wandel verstanden werden können, aber er stellt keinen Universalschlüssel dar, der für jeden Fall verwendet werden kann. Jede Wissenschaft verlangt unermüdliche harte Arbeit zur Beherrschung ihrer Traditionen, ihrer theoretischen Errungenschaften und des empirischen Materials.

Die dialektische Wissenschaftsentwicklung muss als ein objektiver Prozess verstanden werden, der sich, wie im Falle von Einsteins Theorie, aus einer Reihe von Widersprüchen herauskristallisierte, die sich sowohl auf der empirischen Basis der Physik ergaben – die beobachtete Konstanz der Lichtgeschwindigkeit usw. – als auch in der Theorie: prinzipiell zwischen Newtons Mechanik und der von James Clerk Maxwell begründeten Theorie des Elektromagnetismus.

Dabei betont die marxistische materialistische Methode in den Naturwissenschaften – und hierin unterscheidet sie sich von der früheren hegelschen Dialektik –, dass eine Theorie sich nur unter beständiger Auswertung empirischer Fakten und der Erprobung in praktischen Anwendungen entwickeln kann. Ein Hauptanliegen meines ursprünglichen Artikels zum NASA-Experiment GP-B war, zu demonstrieren, in welcher Weise dies in Bezug auf Einsteins Theorien geschah.

Eine ernsthafte Untersuchung der empirischen Befunde ist nicht dasselbe wie Empirismus. Marxisten treten dem Empirismus entgegen, der die Sicht vertritt, dass uns Fakten irgendwie direkt wissenschaftliche Wahrheit verschaffen können ohne dass es notwendig wäre, sich ernsthaft Gedanken über die Ausarbeitung theoretischer Konzepte oder über Auswirkungen auf philosophische Fragen zu machen. Engels machte sich über die Wissenschaftler lustig, die „Fakten“ über Geistererscheinungen akzeptierten und bemerkte: „Und so straft sich die empirische Verachtung der Dialektik dadurch, dass sie einzelne der nüchternsten Empiriker in den ödesten aller Aberglauben, in den modernen Spiritismus führt.“[4]

An dieser Stelle muss ich Ihre Haltung bezüglich Fakten hinterfragen. Sie schreiben, dass hinsichtlich der Archäologie „ein signifikanter Teil dessen, was vormals zu den gesicherten Tatsachen zählte, unbrauchbar wird oder zumindest beträchtlicher Neubearbeitung bedarf,“ dass „viele von den unter dem alten Paradigma zusammengetragen ‚Tatsachen‘ unter dem neuen Paradigma in großen Ausmaßen unbrauchbar oder doch zumindest nur noch beschränkt verwendungsfähig wurden,“ und dass „wissenschaftliche Forschung (…) durch übergreifende theoretische Formulierungen eingeengt ist, die in hoher Weise beeinflussen, welche Forschungsfragen gültig sind und sogar was als ‘Tatsache‘ gilt.“

Diese Bemerkungen, die sehr im Kuhnschen Genre gehalten sind, könnten leicht dahingehend interpretiert werden, dass es eine bestimmte Auswahl an Tatsachen oder Daten entsprechend der gewählten Theorie geben könnte – eine absolut subjektive und relativistische Position. Dies würde beispielsweise die Leugner des Klimawandels rechtfertigen, wenn sie behaupten, die Wissenschaftler hätten aufgrund ihrer Umweltschutztheorien („Paradigmata“) die Daten zur globalen Temperatur falsch interpretiert, indem sie bestimmte Daten auswählten und andere, die ihren Ideen zuwiderlaufen, ausließen. In Kuhnschen Augen ist das die Art und Weise in der Wissenschaft immer fortschreitet.

Überdies, falls die Entdeckung neuer oder die Berichtigung alter Fakten und sogar, wie Sie andeuten, das Auslassen alter Tatsachen und Daten, dazu genutzt werden, die Einführung eines neuen „Paradigmas“ zu rechtfertigen, dann handelt es sich nicht um die Entwicklung einer Wissenschaftstheorie. Dies kann nur als Empirismus betrachtet werden. In der Archäologie trat die Situation ein, dass infolge einer auf besserem Verständnis des radioaktiven Zerfalls fußenden Technik die Daten neu bearbeitet werden mussten und gleichfalls eine Reihe neuer Daten vorlag aufgrund neuer von der Physik, Chemie und Biologie bereitgestellten Anwendungsmöglichkeiten, die für das bereits vorliegende Ausgrabungsmaterial genutzt wurden. Aber ich erkenne nicht, wie selbst eine große Menge neuen faktischen Materials dazu dienen könnte, die älteren Theorien und Anschauungen einfach auf den Müllhaufen zu werfen, außer man gehört zur rohesten Sorte der Empiristen.

Dies führt uns zum Thema “Neue Archäologie” oder Prozessuale Archäologie, wie sie jetzt genannt wird. Sie behaupten, der Postmodernismus hätte das Gebiet der Archäologie nicht so sehr befallen wie die Anthropologie und andere Bereiche der Sozialwissenschaften. Es ist sehr gut möglich, dass viele Archäologen sich lediglich auf ihre empirische Arbeit konzentrieren und damit einfach ihren Lebensunterhalt bestreiten. Auf theoretischer Ebene kommen mir allerdings nach dem Studium der Literatur starke Zweifel, dass der Einfluss des Postmodernismus irgendwie geringer sei als auf anderen Gebieten. Postprozessuale Archäologie, wie sie bezeichnet wird, scheint all die Tendenzen aufzuweisen, die die Human- und Geisteswissenschaften im Allgemeinen befallen haben: Kritische Theorie, Hermeneutik, Postkolonialismus, Poststrukturalismus und endlos so weiter. Es scheint mir außerdem, dass Sie viel zu unkritisch gegenüber den theoretischen Auffassungen sind, welche die Archäologen in den 1960er Jahren aufgriffen. Sie schreiben:

„Kultur wurde jetzt als ein dynamisches, interaktives System betrachtet, auf das die Einzelteile einwirken, die selbst ebenso durch andere Einzelteile beeinflusst werden. Obwohl die Mehrzahl der Archäologen noch nicht den nächsten Schritt ging und dies als dialektischen Prozess auffasste, zeigte die Aneignung der Systemtheorie durch viele Forscher auf, dass sie in dieser Richtung suchten.“

Hier, denke ich, gehen Sie fehl, wenn Sie der Systemtheorie einen wissenschaftlichen Stellenwert beimessen. Wenngleich dies eine gebräuchliche Methode innerhalb der Betriebswirtschaft, der Volkswirtschaftlehre und der Finanzwissenschaft ist, so wurde sie doch niemals erfolgreich innerhalb der Sozialwissenschaften, hierzu zählt auch die Archäologie, angewandt um sozialen Wandel und Entwicklung zu verstehen, geschweige denn vorherzusagen. Wie einer ihrer Befürworter in der Archäologie, Lewis Bindford, es ausdrückte:

“Sobald eine These erweitert wurde, unabhängig davon, wie dies geschah, ist die nächste Aufgabe, eine Reihe von überprüfbaren Hypothesen abzuleiten, die, sobald sie an unabhängigen empirischen Daten verifiziert wurden, dazu neigen würden, die These zu verifizieren (...) Bei unserer Suche nach Erklärungen für Unterschiede und Ähnlichkeiten im archäologischen Material besteht unser endgültiges Ziel in der Formulierung von Gesetzen kultureller Dynamik.“[5]

Binfords philosophische Auffassung war ein extremer Empirismus oder Positivismus. Es spielte keine Rolle, wie die Theorien gewonnen wurden – sie wurden statistisch anhand der Daten getestet und auf dieser Grundlage entweder akzeptiert oder verworfen. Es ist keine Überraschung, dass keine „Gesetze kultureller Dynamik“ entdeckt wurden. Es kam lediglich eine Vielzahl von ad-hoc-Theorien heraus, die niemals allgemeine Zustimmung unter den Archäologen fanden oder sich zu ernsthaften wissenschaftlichen Gesetzen der sozialen Entwicklung herausbildeten.

Weil man alle vorherigen Auffassungen und Theorien kurzerhand fortwarf, bediente man sich Kuhns Ansatzes des “Paradigmenwechsels” um dieses Vorgehen als Wissenschaft rechtfertigen zu können. Sie erwähnen das Werk des australischen Archäologen V. Gordon Childe, der ein Marxist war, in dem Sinne als hätte dieser die Systemtheorie der 1960er Jahre beeinflusst. Ich kenne keinen einzigen ernst zunehmenden Beleg dafür. Es scheint viel wahrscheinlicher zu sein, dass die Prozessuale Archäologie eine so große Unterstützung fand, besonders in den Vereinigten Staaten, weil sie eine wissenschaftliche Alternative zum Marxismus darzustellen schien. Tatsächlich werden auf der Liste der Theorien der Kulturgeschichte aus der Zeit vor den sechziger Jahren, die Sie „Schmetterlingssammeln“ nennen, wahrscheinlich Theorien zu finden sein, die oft Childes Theorien enthalten. Ganz zu schweigen vom Werk Lewis Henry Morgans, dessen Sicht, auf die stufenweise gesellschaftliche Entwicklung in einem breiteren anthropologischen Kontext von Friedrich Engels im Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats befürwortet wird.

Demensprechend wird Childe als Bestandteil der Kulturgeschichte betrachtet; wie der folgende Kommentar[6] belegt, in für ihn sehr günstiger Weise:

“Childes große Leistung bestand darin, den gewaltigen Umfang an archäologischen Zeugnissen, welche in Europa zum Vorschein kamen – speziell für die Prähistorie – in einen großartigen erklärenden Rahmen einzuschließen. Seine gewaltige publizistische Tätigkeit und ihr Einfluss auf eine Vielzahl von Studenten über das Gebiet der Archäologie hinaus, die ein gemeinsames Interesse am Marxismus hatten, begründeten den Status der prähistorischen Archäologie als angesehene akademische Disziplin.“

Als junger Mann studierte Childe die Werke von Marx und Hegel und entwickelte eine historisch-materialistische Auffassung der Frühgeschichte des Nahen Ostens und Europas. Er wurde in den 1930er Jahren Unterstützer der Sowjetunion, doch er akzeptierte niemals die primitiven Versionen des Marxismus, die von der stalinistischen Bürokratie in die Welt gesetzt wurden.

Er schrieb beispielsweise:

“(…) Gesellschaften beruhten in jeder Phase sozialer Entwicklung auf bestimmten Produktivkräften, die ihr Leben bestimmten, die aber zu gegebener Zeit das Erscheinen neuer Produktivkräfte und neuer Perioden sozialer Evolution erzwangen.“[7]

Es gibt keinen Zweifel daran, dass seit Childes Zeit wichtige Beiträge zur Erweiterung und Zuordnung des empirischen Materials geleistet wurden[8]. Aber gewiss kann eine wissenschaftliche Theorie früherer Gesellschaften nur entwickelt („negiert“) werden, indem Childes kreative Anwendung des historischen Materialismus erweitert wird. Ich bekenne offen, nicht überzeugt zu sein, wenn Sie unter Berufung auf Kuhn behaupten, die „Neue Archäologie“ oder Prozessuale Archäologie hätte eine wissenschaftliche Grundlage. Ganz sicher darf das nicht mit Marxismus verwechselt werden.

[1] Das ABC der materialistischen Dialektik, in: Leo Trotzki: Verteidigung des Marxismus, Essen 2006, S. 59-63; Kultur und Sozialismus, in: Leo Trotzki: Fragen des Alltagslebens, Essen 2001, S. 186-210; Dialektischer Materialismus und Wissenschaft in: Leo Trotzki: Denkzettel. Politische Erfahrungen im Zeitalter der permanenten Revolution, Frankfurt am Main, S.398-408; Radio, Wissenschaft, Technik und Gesellschaft, im Auszug als Radioaktivität und Materialismus in: Leo Trotzki: Denkzettel. Politische Erfahrungen im Zeitalter der permanenten Revolution, Frankfurt am Main 1981, S.408-412, vollständig auf Englisch: https://www.marxists.org/archive/trotsky/1926/03/science.htm

[2] Wladimir Lenin: Dem Gedächtnis Herzens, in: Werke Bd.18, Berlin 1962, S.10; vgl. auch Alexander Herzen: Aus dem Leben eines Russen: Im Staatsgefängnis und in Sibirien, Hamburg 1856, S.23

[3] Paul Hoyningen-Huene, Thomas Kuhn’s Philosophy of Science, University of Chicago Press, Chicago and London, 1993. (hier im Weiteren aus dem Englischen übersetzt)

[4] Friedrich Engels: Dialektik der Natur, in: MEW Bd.20, Berlin 1962, S.346

[5] Zitiert nach: Kevin Greene: Archaeology: An Introduction, Vierte Auflage, Routledge, London 2002, S 245. (aus dem Englischen.)

[6] Kevin Greene, op.cit. S.239. (aus dem Englischen)

[7] Vere Gordon Childe: What Happened in History, Penguin, London, 1964, S 8. (aus dem Englischen.)

[8] Vgl. beispielsweise http://www.wsws.org/de/2003/mai2003/pln-m29.shtml; http://www.wsws.org/articles/2008/oct2008/book-o09.shtml

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