Perspektive

Die Debatte über den Anschlag in Bengasi dient als Ablenkung

Einen Monat nach dem Tod von US-Botschafter J. Christopher Stephens und drei anderen Amerikanern bei dem Anschlag auf das amerikanische Konsulat und eine CIA-Einrichtung in der ostlibyschen Stadt Bengasi ist der Fall zum Thema bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlen geworden.

Die Anhörung vor dem Kongress am Mittwoch über den Anschlag am 11. September war gekennzeichnet von hitzigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Parteien. Die Republikaner warfen der Obama-Regierung vor, nicht ausreichend für die Sicherheit von amerikanischem Personal in Libyen gesorgt zu haben. Die Demokraten erklärten daraufhin, die Republikaner versuchten die Tragödie zu politisieren, nachdem sie selbst Kürzungen bei den Sicherheitsausgaben der Botschaft durchgesetzt hatten.

Dass der Anschlag zuerst als spontane Handlung im Kontext von Demonstrationen gegen ein antiislamisches Video dargestellt wurde, war laut den Republikanern ein Versuch, einen Terroranschlag von Al Qaida zu verbergen. In einem Fernsehinterview am Mittwochabend wies Präsident Obama dieses Argument zurück und betonte, die ursprünglichen Berichte basierten auf den vorhandenen Informationen und wurden korrigiert sobald die Regierung ein „vollständigeres Bild“ hatte.

Der ehemalige Sicherheitschef in der amerikanischen Botschaft in Tripolis und der Kommandant eines sechzehnköpfigen militärischen Sicherheitsteams, das dorthin versetzt, dann aber abgezogen worden war, sagte aus, beide hätten darum gebeten, das Team dort zu belassen, wurden aber vom Außenministerium überstimmt.

Auffällig ist an dieser Debatte, wie sie vorsätzlich den grundlegenden politischen Fragen ausweicht. Wie sieht es in Libyen ein Jahr nach der grauenhaften Ermordung des ehemaligen Staatschefs Muammar Gaddafi aus, die den Sieg in dem Krieg der USA und der Nato zum Sturz seines Regimes bedeutete? Und wie konnte dieser Krieg, der angeblich geführt wurde, um Menschenleben zu schützen und die Demokratie zu fördern, eine Situation hervorrufen, in der Milizen mit Beziehungen zu Al Qaida ungestraft agieren können?

Nicht nur die Bürokraten des Außenministeriums wollten die militarisierten Sicherheitskräfte in amerikanischen Einrichtungen in Libyen abschaffen, sondern auch Botschafter Stevens selbst. Beide propagierten die Lüge, der amerikanische Krieg hätte das libysche Volk „befreit“ und eine neue „Demokratie“ in Nordafrika geschaffen.

Tatsächlich ist Libyen ein Jahr nach Gaddafis Ermordung geprägt vom Chaos und steht vor dem Bürgerkrieg; es gibt keine funktionierende Regierung, und hunderte von schwer bewaffneten Milizen kontrollieren einen Großteil des Landes. In offiziellen Kreisen wird Libyen zunehmend als „gescheiterter Staat“ und das „neue Afghanistan“ beschrieben.

Mit der Absetzung von Mustafa Abu Shagur – einem langjährigen CIA-Mitarbeiter, der am 12. September zum Premierminister gewählt worden war, hatte die Regierung in einem Monat vier Chefs, während erbitterte Kämpfe zwischen regionalen Fraktionen um die Aufteilung der Beute und der Posten das machtlose Regime lähmen.

Zeitgleich ist die Lage in Bani Walid das krasseste Beispiel für Libyens Zustand ein Jahr nach seiner „Befreiung“: Tausende von Milizionären, viele von ihnen aus Misrata, belagern die 70.000-Einwohner-Stadt Bani Walid; sie weigern sich, Nahrungsmittel, Medizin oder andere Güter in die Stadt zu lassen, oder ihre Bewohner flüchten zu lassen. Sie haben die Stadt mit Grad-Raketen und Panzerfeuer angegriffen und laut Ärzten in einem örtlichen Krankenhaus scheinbar Gasgranaten gegen Wohngebiete eingesetzt. Umliegende Dörfer, die den ehemaligen „Rebellen“ in die Hände gefallen sind, wurden geplündert und niedergebrannt.

Mindestens drei Menschen starben bei dem Bombardement, darunter ein Kind, andere wurden schwer verwundet und könnten ohne angemessene medizinische Versorgung sterben.

Diese Gräueltat wird offiziell vom Allgemeinen Nationalkongress abgesegnet, der die Anwendung von militärischer Gewalt erlaubte, wenn die lokale Führung von Bani Walid nicht Personen aushändigt, die angeblich für die Ermordung eines ehemaligen „Rebellen“ verantwortlich sind, der an der Jagd und der Ermordung von Gaddafi im letzten Jahr beteiligt war.

Bani Walid gehörte zu den letzten libyschen Städten, die von der Nato und ihren Stellvertretern, den Milizen, nach einem längeren Bombardement eingenommen wurden. Hunderte von Einwohnern wurden von Kräften, die von den USA unterstützt wurden, zusammengetrieben und verhaftet.

In Libyen befinden sich etwa 9.000 Menschen in Haft. In vielen Fällen leben sie seit mehr als einem Jahr in improvisierten Militärgefängnissen, in denen sie regelmäßig gefoltert werden. Das International Center for Prison Studies beschrieb Libyen vor kurzem als das Land mit dem größten Anteil an Gefangenen, die ohne Anklage oder Prozess eingesperrt sind. Fast fünfzehn Prozent von ihnen sind Ausländer, die überwältigende Mehrheit schwarzafrikanische Wanderarbeiter, die aufgrund ihrer Hautfarbe verhaftet wurden.

Das Libyan Observatory for Human Rights, das gegen das Gaddafi-Regime aktiv war, erklärte vor kurzem: „Die Menschenrechtslage in Libyen ist heute schlechter als unter dem ermordeten Diktator Gaddafi.“

Aus diesem albtraumhaften Szenario sind islamistische Milizen in Bengasi und im ganzen Land als stärkste Fraktion hervorgegangen. Viele von ihnen haben ihren Ursprung in der mit Al Qaida verbündeten Libyschen Islamischen Kampfgruppe, deren Führer von der CIA im Rahmen von Washingtons Krieg gegen den Terror gejagt worden waren.

Das ist kein Zufall. Washington hat genau diese Kräfte im Libyenkrieg unterstützt. In diesem Krieg ging es weder um Demokratie noch um Menschenrechte, sondern um das Streben des US-Imperialismus nach Hegemonie über den Nahen Osten und seine wertvollen Energieressourcen. Da es keine revolutionäre Massenbewegung von unten gab, bediente sich Washington für seine eigenen Ziele islamistischer Kräfte und stellte sie zynisch als Träger einer demokratischen Revolution dar.

Genau wie in Afghanistan, wo Washington Al Qaida und ähnliche Kräfte in einem Krieg gegen die von Moskau unterstützte Regierung und die Sowjetarmee unterstützte, beginnt der US-Imperialismus, in Bengasi die „Früchte“ seiner Intervention in Libyen zu ernten.

Der politische Druck auf die Obama-Regierung wächst, mit den libyschen Islamisten abzurechnen. Zuerst wurden sie als Terroristen gejagt, dann als Freiheitskämpfer gefeiert, und jetzt soll Obama sein Versprechen einlösen, die Mörder des Botschafters „ihrer gerechten Strafe“ zuzuführen. Sollte dies, wie vermutet wird, durch Raketenangriffe mit Drohnen oder Überfälle von Spezialeinheiten auf Bengasi erfolgen, wird es Libyens Desintegration beschleunigen und eine weitere Front in den endlosen weltweiten Kriegen des US-Imperialismus eröffnen.

Weder Demokraten noch Republikaner haben ein Interesse daran, die politischen Wurzeln des Anschlags in Bengasi zu diskutieren. Beide Parteien wollen das Abenteuer in Libyen auf weitaus gefährlicherem Niveau wiederholen, indem sie ähnliche islamistische Milizen in einem sektiererischen Bürgerkrieg unterstützen, um in Syrien Bashar al-Assad zu stürzen. Tatsächlich wurden etwa 3.500 libysche Milizionäre als Stoßtruppen nach Syrien geschickt.

Die wahre Lehre aus der Bengasi-Affäre, die keine Partei ansprechen wird, ist folgende: Der Krieg gegen den Terror und der wahre Charakter der libyschen „Revolution“ wie auch Washingtons „humanitäre“ Intervention wurden als Betrug enthüllt. Große Teile der kleinbürgerlichen Pseudolinken in den USA und der Welt haben sich enthusiastisch hinter diese Verbrechen gestellt.

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