Mehring Verlag veröffentlicht Standardwerk zur Oktoberrevolution 1917

1976 erschien die englischsprachige Originalausgabe von The Bolsheviks Come To Power: The Revolution of 1917 in Petrograd. Nun liegt dieses Standardwerk des amerikanischen Historikers Alexander Rabinowitch endlich auch in deutscher Sprache vor. Der Mehring Verlag hat es unter dem Titel Die Sowjetmacht. Die Revolution der Bolschewiki 1917 in einer hervorragenden Übersetzung herausgebracht.

Das Buch ist, wie Prof. Hermann Weber (Mannheim) auf dem Umschlag schreibt, „keineswegs veraltet“, sondern „trotz oder gerade wegen der vielen Diskussionen über die bolschewistische Oktoberrevolution von 1917 und ihr Schicksal im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts“ hochaktuell. „Das hängt damit zusammen, dass Rabinowitch die komplexen Sachverhalte differenziert bewertet, aber zugleich immer die großen historischen Entwicklungslinien zeigt.“

Wir veröffentlichen hier das Vorwort, das der Autor für die deutsche Ausgabe geschrieben hat. Sie geht auf den Werdegang des Historikers, die Diskussion über sein Buch und den jüngsten Forschungsstand zu dem Thema ein. Das Buch kann über den Buchhandel oder beim Mehring Verlag bezogen werden.

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Vorwort zur deutschen Ausgabe

Aus dem Blickwinkel eines zeitlichen Abstands von nunmehr fast einhundert Jahren stellt sich die Oktoberrevolution von 1917 als Schlussphase eines ebenso komplexen wie dynamischen politischen und gesellschaftlichen Prozesses dar, der durch die zutiefst ungerechten Zustände im zaristischen Russland hervorgerufen und durch dessen absehbare Niederlage im Ersten Weltkrieg beschleunigt worden war. Der Beginn dieser Phase datiert kurz nach der Februarrevolution von 1917, die zum Sturz von Zar Nikolaus II. geführt hatte und in erster Linie auf die Enttäuschung der Bevölkerung über die unschlüssige Innen- und Außenpolitik der neugebildeten Provisorischen Regierung zurückzuführen war. Ihren abschließenden Höhepunkt fand sie nach acht Monaten stürmischer Ereignisse in der Machtübernahme durch Lenin, Trotzki und die Bolschewiki (die sich ab März 1918 Kommunistische Partei nannten). Der Sieg der Bolschewiki im erbitterten Kampf um die Macht 1917 und im anschließenden dreijährigen, grausamen Bürgerkrieg wiederum mündete in die Festigung des sowjetischen Einparteienregimes, das die gesamte russische Politik und Gesellschaft beherrschte und über weite Strecken des letzten Jahrhunderts die Weltpolitik maßgeblich prägte. Unter Stalin entwickelte sich dieses Regime zu einer äußerst repressiven, allgewaltigen Diktatur. Und doch war die Machtübernahme der Bolschewiki auch der Aufbruch in einen egalitären Sozialismus – ein kolossales Experiment mit Auswirkungen auf alle Länder, das bis heute weltweit Interesse auf sich zieht. Die Oktoberrevolution ist, soviel steht fest, eine herausragende, wenn nicht die bedeutsamste historische Begebenheit des zwanzigsten Jahrhunderts überhaupt.

Besonders tiefgreifende Auswirkungen hatte die Oktoberrevolution in Deutschland, wo sie unter anderem den Verlauf der revolutionären Aufstände nach dem Ersten Weltkrieg und deren gewaltsame Niederschlagung stark beeinflusste. Die anhaltende „rote Gefahr“ war ein wesentlicher Faktor für die Machtübernahme Hitlers, der mit seinem Versprechen, die Sowjetunion und den Bolschewismus endgültig zu vernichten, den Weg zum Zweiten Weltkrieg und zur späteren Teilung Deutschlands in West und Ost vorzeichnete. Umgekehrt besaß auch Deutschland für Russland große historische Bedeutung, besagte doch eines von Lenins Hauptargumenten zugunsten der Machtübernahme 1917, dass die Flammen eines radikalen Umsturzes in Russland die schwelende Revolution im deutschen Kaiserreich endlich entfachen würden und dass der Sieg sozialistischer Revolutionen im Westen, insbesondere in Deutschland, eine unabdingbare Voraussetzung für das Überleben der Revolution in Russland sei. Wegen dieses eminent wichtigen, oftmals übersehenen Zusammenhangs zwischen der Revolution in Russland und Deutschland sowie in Anbetracht dessen, dass man die eine Revolution schwerlich ohne die andere verstehen kann, bereitet es mir besondere Genugtuung, dass The Bolsheviks Come to Power: The Revolution of 1917 in Petrograd nun in einer sorgfältig bearbeiteten Ausgabe auch in deutscher Sprache erscheint.

Einleitend möchte ich schildern, welche Einflüsse meine Vorstellungen über die Bolschewiki und die Oktoberrevolution von 1917 in Russland geformt hatten, bevor ich begann, mich wissenschaftlich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. An erster Stelle steht sicherlich, dass ich in einer russischen Emigrantenfamilie aufwuchs, die sich als liberal und demokratisch verstand. Meine Eltern hatten 1932 geheiratet. Meine Mutter, die aus Kiew stammte, war Schauspielerin an einem russischen Theater, mein Vater Eugene Rabinowitch, gebürtig in Petersburg, war ein bekannter Chemiker und Biophysiker. Wie unzählige junge Russen war auch mein Vater im Jahr 1921 nach Westeuropa geflohen und durfte dank der Bemühungen des führenden Sozialdemokraten Eduard Bernstein an einer deutschen Universität studieren. Zum Ende des Zweiten Weltkriegs gelang es ihm, am chemischen Institut des Massachusetts Institute of Technology (MIT) eine feste Anstellung zu bekommen.

Und so verbrachte ich die prägenden Jahre meiner Kindheit und Jugend in einer Familie, die fest in der rührigen russischen Emigrantengemeinde an der Ostküste der USA verankert war. Unsere Sommerferien verbrachten wir in der üppigen Natur der Berge von Vermont. Das Ferienhaus, das mein Vater dort gekauft hatte, lag in der Nähe des Sommersitzes des berühmten Harvard-Historikers Michail Karpowitsch, der sich 1917 zu den gemäßigten Sozialisten bekannt hatte. Einige meiner lebhaftesten Erinnerungen aus jener Zeit kreisen um Mittags- und Abendmahlzeiten, auf denen sehr bekannte Russen, von Nabokow bis Kerenski, die damals in den USA lebten, über Themen der Geschichte, Literatur und aktuellen Politik Russlands diskutierten. Zwar kam es dabei bisweilen zu lebhaften Auseinandersetzungen, doch über gewisse Dinge herrschte offenbar Einvernehmen: Die Oktoberrevolution, die zu einem Bruch im Leben dieser Menschen geführt hatte, war ein Militärputsch einer verschworenen Gruppe revolutionärer Fanatiker unter der Führung Lenins und Trotzkis. Sie war von den Deutschen finanziert worden und hatte in der Bevölkerung wenig Unterstützung gefunden. Hervorgebracht hatte sie nichts als Scheußlichkeiten und Gefahren für die ganze Welt. Diese Ansichten entsprachen natürlich den vorherrschenden Meinungen der meisten westlichen Historiker über die Oktoberrevolution und ihre Folgen. Und so kam es, dass das aus meiner familiären Herkunft rührende Interesse an der russischen Kultur und Geschichte, das mich mein Leben lang begleitet hat, ursprünglich mit einem zutiefst negativen Bild der Bolschewiki, der Oktoberrevolution, ja der gesamten historischen Erfahrung der Sowjetunion verbunden war.

Mein Hochschulstudium der russischen Geschichte begann ich bei Leopold Haimson an der University of Chicago und bei John M. Thompson an der Indiana University. Haimson, der mittlerweile verstorben ist, leistete damals Pionierarbeit auf dem Gebiet der Sozialgeschichte des revolutionären Russlands; Thompson war ein anerkannter Experte für die Geschichte der Diplomatie. Zusammen weckten sie mein Interesse an der russischen Revolution als politisches und gesellschaftliches Phänomen von herausragender Bedeutung, das eine genauere Erforschung verdiente. Als es an der Zeit war, ein Thema für meine Doktorarbeit zu wählen, hatten sich meine grundlegenden Ansichten über die Sowjetunion und ihre Entstehung allerdings noch nicht geändert. Ursprünglich wollte ich eine Biografie Irakli Zeretelis verfassen, jenes bekannten georgischen Menschewiken und unversöhnlichen Gegners des Bolschewismus, den ich einst in Vermont kennengelernt hatte. Als sich aber herausstellte, dass eine umfassende Lebensgeschichte Zeretelis Kenntnisse des Georgischen voraussetzte, beschloss ich, mich auf den Abschnitt seines Lebens zu konzentrieren, der in die Zeit nach dem gescheiterten Aufstand vom Juli 1917 fiel. Als Kabinettsmitglied und de facto Führer der gemäßigten sozialistischen Sowjetführung auf nationaler Ebene war er damals maßgebend daran beteiligt, die Provisorische Regierung zu stützen und die Bolschewiki zu kriminalisieren.

Wie kam es, dass sich mein Interesse von der Rolle, die Zereteli Mitte 1917 gespielt hatte, immer mehr auf die Bolschewiki verlagerte? Und was führte, um vorauszugreifen, später zu meinem Bruch mit der im Westen vorherrschenden Ansicht über die bolschewistische Partei und die Revolution, die sie an die Macht trug? Die Antwort auf diese Fragen, die mir oft gestellt wurden, ist eigentlich recht einfach. Durch die Arbeit mit Haimson und Thompson hatte ich neben einer bleibenden Leidenschaft für das Sammeln historischer Quellen auch die Überzeugung erworben, dass diese möglichst unvoreingenommen und redlich interpretiert werden müssen. Und so stellte ich bald fest, dass die weithin akzeptierte Einschätzung Zeretelis, wonach der Juli-Aufstand lediglich ein gescheiterter Putschversuch Lenins war, im Widerspruch zu dem Bild stand, das sich unabweisbar aus den verhältnismäßig spärlichen Primärquellen ergab, die mir damals zur Verfügung standen. Noch bevor ich mir selbst darüber Rechenschaft ablegte, hatte sich mein vorrangiges Forschungsinteresse von Zereteli im Jahr 1917 auf die Bolschewiki und ihre Rolle im Juli-Aufstand verlagert. Im Jahr 1968 veröffentlichte ich meine erste Studie über die russische Revolution von 1917, Prelude to Revolution: The Petrograd Bolsheviks and the July 1917 Uprising.1

Vor dem Erscheinen dieses Buches war der gescheiterte Aufstand vom Juli 1917 (die „Julitage“) von sowjetischen Historikern als spontane Massendemonstration gegen die unpopuläre Politik der Provisorischen Regierung gewertet worden, die im Zaum zu halten die Bolschewiki sich ehrlich bemühten. Für westliche Historiker stellte sie einen ersten Versuch Lenins dar, die Macht zu erobern („Generalprobe für den Roten Oktober“). Obwohl beide Seiten den Juli-Ereignissen große Bedeutung beimaßen, blieben sie eines der ungelösten Rätsel des Jahres 1917. Daher wollte ich sie genauer untersuchen.

Durch meine Teilnahme an einem der ersten akademischen Austauschprogramme zwischen jungen amerikanischen und sowjetischen Wissenschaftlern im Studienjahr 1963–1964 konnte ich einschlägige, bis dahin kaum zu Forschungszwecken herangezogene Zeitungen sowie veröffentlichte Dokumente und Memoiren aus der Anfangszeit der Sowjetunion gründlich auswerten. Ein erheblicher Teil dieser Materialien war nur in großen Moskauer und Leningrader Bibliotheken verfügbar (selbst für die meisten sowjetischen Historiker war es damals unmöglich, Zugang zu russischen historischen Archiven zu erhalten). Vor und nach dieser Arbeit in der Sowjetunion recherchierte ich monatelang in bedeutenden westlichen Sammlungen russischer Quellen, z. B. in der Slawistik-Abteilung der New York Public Library und der Hoover Institution in Stanford, Kalifornien.

Frühere westliche und auch sowjetische Einschätzungen der Julitage drehten sich hauptsächlich um die Politik auf oberster Ebene. Mein Ansatz dagegen bestand darin, anhand des verfügbaren Quellenmaterials die historische Bedeutung der Petrograder Massen als unabhängige politische Kraft zu rekonstruieren. Ich kam zu dem Schluss, dass sich sowohl bedeutsame Einzelereignisse wie die Julitage als auch der allgemeine Verlauf der russischen Revolution im Jahr 1917 nur erschließen, wenn man eine breite Schicht von Führern auf mittlerer Ebene und von Institutionen mittlerer Bedeutung und vor allem auch die Bestrebungen und politischen Stimmungen der einfachen Leute in die Analyse einbezieht – der Arbeiter in den Fabriken und der Bauern auf den Feldern, der Soldaten in der kriegsgeplagten Petrograder Garnison und der Matrosen des nahegelegenen Marinestützpunkts Kronstadt. Und ich bemühte mich nach besten Kräften, das politische Handeln des auf seine Unabhängigkeit bedachten bolschewistischen Petersburger Komitees sowie der bolschewistischen Militärischen Organisation und auch das Verhalten der Parteibasis zu verstehen, ohne darüber die entscheidende Rolle führender Figuren des bolschewistischen Zentralkomitees wie Lenin, Trotzki oder Kamenew – der eigentliche Kopf des einflussreichen gemäßigten Flügels der Partei – aus den Augen zu verlieren. Nachdem mir klar geworden war, dass die Beziehung zwischen der Entwicklung der bolschewistischen Politik auf allen Ebenen und den sich ständig wandelnden Einstellungen und politischen Sympathien der revolutionären Petrograder Massen von größter Bedeutung war, ging ich daran, diese Beziehung genauer zu ergründen.

Im Zuge einer detaillierten Untersuchung der politischen und gesellschaftlichen Umstände konnte ich schließlich nachweisen, dass die Julitage zwar ein authentischer Ausdruck des Volkszorns über die mageren Ergebnisse der Februarrevolution waren, dass aber zugleich radikale Teile des bolschewistischen Petersburger Komitees und der Militärischen Organisation der Partei auf den Druck ihrer militanten Anhängerschaft in den Fabriken und Garnisonen Petrograds hin den Aufstand aktiv vorantrieben – entgegen dem ausdrücklichen Willen Lenins und des Zentralkomitees der Partei. Das Zentralkomitee, so stellte sich heraus, hatte bewaffneten Aktionen gegen die Regierung eine eindeutige Absage erteilt. Der Grund könnte die berechtigte Sorge gewesen sein, dass ein einseitiger Aufstand zu diesem Zeitpunkt auf den Widerstand regierungstreuer Truppenteile der nahegelegenen Nordfront treffen würde, oder auch das Bestreben (des gemäßigten Flügels), die Bildung eines möglichst starken Bündnisses gegen die Regierung aus linken sozialistischen Parteien und Gruppierungen nicht zu konterkarieren.

Zeitgleich mit der Erstveröffentlichung von Prelude to Revolution verordnete die Kreml-Führung nach dem Sturz von Chruschtschow neo-stalinistische Geschichtsdeutungen. Wie zu Zeiten Stalins wurden jetzt sowjetische Historiker damit beauftragt, westliche Historiker der Oktoberrevolution als „bürgerliche Geschichtsfälscher“ zu „entlarven“. Bezeichnend für die Feindseligkeit, die mir in jener Zeit entgegenschlug, war die Rezension „Die Ereignisse im Juli 1917 in der heutigen bürgerlichen Geschichtsschreibung“ des Moskauer Historikers N. W. Romanowski. Romanowski bestritt kategorisch die Verlässlichkeit meiner Quellen. Er wies alle meine Befunde über die Ursachen und den Charakter der Juli-Ereignisse in Bausch und Bogen zurück. Besonders empörend fand er meine Ausführungen über die tiefe Gespaltenheit der bolschewistischen Partei 1917, insbesondere im Zusammenhang mit der wichtigen unabhängigen Rolle ultraradikaler Bolschewiki im Petersburger Komitee und der Militärischen Organisation sowie im Hinblick auf deren Differenzen mit Lenin und den Gemäßigten in der Partei im Vorfeld und zu Beginn des Juli-Aufstandes. „Eine richtige Herangehensweise an Meinungsverschiedenheiten in der Partei“, dozierte Romanowski, „sollte sich auf die Tatsache stützen, dass sie zu keiner Zeit die programmatische oder organisatorische Einheit der bolschewistischen Partei verletzten oder sie vom Kurs Lenins abbrachten.“2

Rezensenten im Westen waren zum Glück konzilianter als ihre sowjetischen Kollegen. Die meisten äußerten sich positiv über mein Buch, weil es eine einleuchtende und fundiert dokumentierte Erklärung der zuvor unklaren Rolle der Bolschewiki bei den Juli-Ereignissen lieferte. Marc Ferro, ein führender französischer Historiker der russischen Revolution, schrieb in Annales, ich hätte „den Schutzwall durchbrochen, der die Geschichte der Kommunistischen Partei während der Revolution von 1917 umgeben hatte“. „In detektivischer Kleinarbeit“, fuhr Ferro fort, hätte ich „Unerwartetes entdeckt und nachgewiesen – dass die bolschewistische Partei im Juli 1917 nicht nur in strategischen und theoretischen Fragen uneins war, sondern auch, bedingt durch die Existenz relativ selbständiger Parteizellen, innere Spaltungen aufwies.“3

Der bekannte israelische Historiker Israel Getzler kam zu dem Ergebnis, dass Prelude to Revolution den Juli-Aufstand „als ungeplanten Höhepunkt unkoordinierter und widersprüchlicher bolschewistischer Politik und Aktionen verständlich macht“; einer der Doyens der amerikanischen Historiker für das neuzeitliche Russland, Nicholas W. Riazanovsky, lobte das Buch zur selben Zeit für seine „Objektivität, Unvoreingenommenheit und den souveränen Umgang mit dem Material“.4 Der britische Historiker John L. H. Keep meinte mit Bezug auf die Julikrise als ein wichtiger Wendepunkt der Revolution und über die Gründlichkeit und Ausgewogenheit meiner Forschungsarbeit, dass meine Darstellung der Entwicklungen auf Regiments- und Fabrikebene bei freiem Zugang zu Archiven wohl noch ausführlicher ausgefallen wäre. Es sei jedoch „zweifelhaft, dass es unbekannte Parteidokumente gibt, deren Kenntnis zu wesentlich anderen Schlussfolgerungen geführt hätte“.5 Keeps amerikanischer Kollege Theodore H. Von Laue äußerte sich ähnlich: Prelude to Revolution zeige, dass die „fundierte wissenschaftliche Erforschung wichtiger Momente und Themen des Jahres 1917 selbst bei dürftiger Quellenlage möglich und lohnend“ sei.6

Trotz der harschen öffentlichen Kritik sowjetischer Historiker an Prelude to Revolution und neuer Einschränkungen für historische Forschungen während der Breschnew-Ära hatte ich relativ ungehinderten Zugang zu der äußerst ergiebigen Fundgrube an zeitgenössischen Zeitungen und den wenigen veröffentlichten Dokumenten und Memoiren, auf die ich angewiesen war, wenn ich meine Forschungen für mein nächstes Projekt über die Oktoberrevolution selbst, The Bolsheviks Come to Power, zum Abschluss bringen wollte.7 Bei diesen Recherchen stützte ich mich auf die Ergebnisse meiner Analyse, die viel zur Klärung des Juli-Aufstandes beigetragen hatten: Charakter, Struktur und Modus operandi der bolschewistischen Partei und deren Beziehung zum politischen Verhalten der Bevölkerung. Den Großteil meiner Forschungen führte ich in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren in großen Moskauer und Leningrader Bibliotheken durch. Ein Jahr als Gastwissenschaftler und Stipendiat an der Abteilung School of Historical Studies des Institute for Advanced Studies in Princeton verschaffte mir genügend Zeit, um das Buch abzuschließen.

Meine Vorgehensweise in The Bolsheviks Come to Power ist, wie bereits in Prelude to Revolution, im Wesentlichen empirisch. Ich räume gern ein, dass jede Beschreibung der Vergangenheit unvermeidlich subjektiv und ungenau ist. Dennoch halte ich es für nötig, wesentliche Prozesse und Ereignisse so vollständig wie möglich zu rekonstruieren, bevor verlässliche Schlussfolgerungen gezogen, abstrakte Theorien sinnvoll angewendet oder vergleichende Analysen vorgenommen werden können. Auch habe ich mich bemüht, die Geschehnisse lebendig zu schildern und zugleich ihre Bedeutung aufzuzeigen. Und ich wollte nicht nur das Fachpublikum ansprechen, sondern auch den nicht vorgebildeten Leser, der neue Einsichten in wichtige Momente der Weltgeschichte gewinnen oder auch nur ein „gutes Buch“ genießen will. The Bolsheviks Come to Power erschien erstmals 1976 in den USA und seither in mehreren Auflagen in Englisch und anderen Sprachen.

Der Leser wird feststellen, dass die Ergebnisse meiner Nachforschungen in The Bolsheviks Come to Power im Gegensatz zu früheren westlichen Auffassungen der Oktoberrevolution stehen, denen zufolge die Oktoberrevolution ein klassischer Militärputsch unter der Führung Lenins und Trotzkis war, der von einer kleinen Bande revolutionärer Fanatiker ohne nennenswerte Unterstützung durch die Bevölkerung verübt wurde. In meiner Darstellung hingegen war die Oktoberrevolution das Ergebnis einer überbordenden Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der konservativen, wenn nicht offen konterrevolutionären Politik der Provisorischen Regierung. Diese Unzufriedenheit verband sich mit der enormen und stetig wachsenden Anziehungskraft des politischen Programms der Bolschewiki (sofortiger Friedensschluss, Beseitigung der Lebensmittelknappheit, umfassende Bodenreformen und baldige Einberufung einer gewählten und repräsentativen Konstituierenden Versammlung, welche die gesamte Regierungsgewalt auf demokratische Mehrparteiensowjets übertragen sollte). Obwohl meine Darstellung also den gängigen Auffassungen widersprach, konnte sie die meisten nicht-sowjetischen Kritiker überzeugen. Die meisten westlichen Rezensenten teilten auch meine bereits in Prelude to Revolution angedeutete Auffassung, dass die bolschewistische Partei 1917 eine Massenpartei mit relativ demokratischen Strukturen und eine demokratische politische Organisation war, die enge Verbindungen zu Arbeitern, Soldaten und Matrosen unterhielt und in ihren Führungsgremien abweichende Meinungen durchaus akzeptierte. Auch überzeugte sie meine Darstellung des „Roten Oktober“: kein klassischer bewaffneter Aufstand oder Staatsstreich mit Lenin als Kopf und Trotzki als Anführer – wenngleich, wie gesagt, ihre Führung in kritischen Situationen natürlich von ausschlaggebender Bedeutung war –, sondern der Erfolg einer klugen politischen und militärisch eng begrenzten Operation, die zum Sieg führte, weil sie der vorherrschenden Stimmung im Volk und dem Kräfteverhältnis entsprach.

Paul Avrich, eine Autorität auf dem Gebiet anarchistischer Bewegungen in den USA und Russland, beurteilte in einer der ersten Rezensionen The Bolsheviks Come to Power als die wohl „vollständigste und verlässlichste Darstellung der bolschewistischen Machtergreifung in englischer Sprache … bemerkenswert wegen ihrer begründeten Einschätzungen, der Klarheit ihrer Darstellung und der Fülle an erhellenden Einzelheiten“. „Unser Verständnis der Ereignisse von 1917“, fuhr er fort, „hat durch die sorgfältige Untersuchung von Rabinowitch deutlich gewonnen.“8 Der angesehene Literatur- und Sozialkritiker Irvin Howe schrieb über The Bolsheviks Come to Power: „Was das Buch so wertvoll macht, ist, dass es sowohl sattsam bekannten Klischees eine Absage erteilt – der Leninismus trage die ›Wahrheit‹ in sich und weise den einzigen Weg zum Sieg der Revolution, oder der Leninismus sei zwangsläufig autoritär und führe geradewegs in die Diktatur.“9 Robert Rosenstone, der bekannte Schriftsteller, Filmemacher und Experte für das Verhältnis von Film und Geschichte, wies in seiner Rezension von The Bolsheviks Come to Power für The New Republic auf die anschauliche Erzählweise hin: „Rabinowitch schildert sehr detailliert das Innenleben der bolschewistischen Partei … Wir treten ein in den Raum, in dem das Zentralkomitee heftig über unterschiedliche Standpunkte diskutiert, wir erleben Parteimitglieder in anderen Situationen, in örtlichen Sowjets, in Fabriken, in Sitzungen der Duma, bei verschiedenen Zusammenkünften politischer Gruppierungen … Der Gesamteindruck ist spannend, bewegend, und es wird deutlich, dass die Revolution mehr war als nur ein bewaffneter Kampf. Diese Schlacht wurde mit Worten, Ideen und Überzeugungen ausgetragen.“10

Der bekannte amerikanische Politikwissenschaftler und Historiker Stephen F. Cohen charakterisierte The Bolsheviks Come to Power als „revisionistische Wissenschaft im besten und eigentlichen Sinne“. „Es ist Politik- und Sozialgeschichte in einem, vertieft unser Wissen über die turbulenten Ereignisse von 1917 und bereichert und revidiert unser Verständnis der bolschewistischen Partei und der gesellschaftlichen Faktoren, die sie an die Macht trugen.“11 Allan Wildman, der im Hinblick auf die Rolle der russischen Armee in der Revolution unter westlichen Historikern eine Führungsrolle einnimmt, schrieb am Schluss einer Besprechung von The Bolsheviks Come to Power: „Meiner Ansicht nach hat Rabinowitch geleistet, was längst überfällig war: Er hat unsere Wahrnehmung des Bolschewismus im Jahr 1917 dauerhaft und durchgreifend verändert.“12 In einer Besprechung in der Zeitschrift The Economist hieß es: „Rabinowitch hatte sich zum Ziel gesetzt, herauszuarbeiten, was im Einzelnen geschah … und das ist ihm wahrhaftig gelungen.“13

In einem Brief an mich vom 9. November 1976, also kurz nach dem Erscheinen von The Bolsheviks Come to Power, schrieb der anerkannte Diplomat und Historiker George F. Kennan, das Buch sei „sicher die beste und umfassendste Geschichte der Novemberrevolution und ihrer Hintergründe, die je in irgendeiner Sprache erschienen ist“, und äußerte sich zuversichtlich, dass „es eines Tages in Russland einen nachhaltigen und wohltuenden Eindruck hinterlassen wird“. „Es ist schon bemerkenswert, dass Russen, die etwas über die Anfangszeit der Sowjetmacht in ihrem Land erfahren möchten, in Zukunft Werke heranziehen müssen, die Amerikaner verfasst haben – Sie, Steve Cohen, Moshe Lewin und andere.“14 Im Anschluss an die Auflösung der Sowjetunion ein Vierteljahrhundert später sollten sich die Worte Kennans bewahrheiten. Bis dahin aber waren in der Sowjetunion nur feindselige Reaktionen auf meine Arbeit auszumachen; noch heftigere Attacken löste dann das Erscheinen von The Bolsheviks Come to Power aus.

Erst als die fast zwei Jahrzehnte währende „Stagnationsperiode „ unter Breschnew zu Ende ging, trafen mutige und fortschrittliche jüngere sowjetische Historiker in Moskau und Leningrad schließlich eine klare Unterscheidung zwischen westlichen Historikern, die hinsichtlich der Oktoberrevolution den herkömmlichen Klischees des Kalten Kriegs verhaftet blieben, und der erstarkenden Gruppe „revisionistischer“ Historiker wie mir, die in ihren Augen ernsthaft um gründliche und unvoreingenommene Forschungen bemüht waren. Von der vorherrschenden Interpretation abweichende Deutungen der Revolution, lange Zeit nur zurückhaltend und begrenzt als legitim betrachtet, erfreuten sich im Zuge der Perestroika unter Michail Gorbatschow einer deutlich erhöhten Akzeptanz. Im Oktober 1989 kam The Bolsheviks Come to Power in der Sowjetunion heraus. Es war die erste wissenschaftliche Untersuchung der Oktoberrevolution westlichen Ursprungs, die in der Sowjetunion erscheinen durfte.

Der Tag, an dem die russische Erstauflage meines Buches im Progress-Verlag in Moskau vor einem großen Publikum vorgestellt wurde, ist mir als einer der glücklichsten meines Lebens in Erinnerung geblieben. Unter den Anwesenden waren einige der überlebenden alten Bolschewiki mit ihren Familien, darunter die Ehefrau und die Kinder von Nikolai Bucharin, eine kleine Zahl von Dissidenten und Journalisten sowie zahlreiche sowjetische Historiker. Früher hatte ich einige Exemplare meiner Bücher in braune Umschläge gepackt und sie ganz unten in meinem Koffer verstaut in der Hoffnung, sie an den Grenzkontrollen vorbei russischen Kollegen zukommen zu lassen. Der Erfolg dieser Bemühungen war bescheiden. Doch nun kamen 100 000 Bücher in der Sowjetunion in den Verkauf – für die Leserschaft, die ich mir vor allem wünschte. Später erfuhr ich, dass die russische Erstausgabe von The Bolsheviks Come to Power binnen weniger Wochen vergriffen war. In den vergangenen Jahren haben mir Kollegen in Russland öfter berichtet, dass The Bolsheviks Come to Power bei russischen Intellektuellen, die ein ernsthaftes Interesse an der Geschichte der Revolution haben, zur Pflichtlektüre gehört.15

Ein weiterer denkwürdiger Augenblick meines Berufslebens ereignete sich im Juni 1991. Was ich in meinen kühnsten Träumen nicht für möglich gehalten hatte, trat ein: Völlig überraschend wurde mir erlaubt, in historischen sowjetischen Archiven zu arbeiten. Dies kam mir umso gelegener, als meine Arbeit an dem neuen Buch, mit der ich seit dem Erscheinen von The Bolsheviks Come to Power beschäftigt war – eine Untersuchung der ersten Anfänge des autoritären, von der Einparteienherrschaft geprägten sowjetischen politischen Systems – zu diesem Zeitpunkt ins Stocken geraten war. Einem zufriedenstellenden Abschluss stand im Wege, dass die Vielfalt an veröffentlichten Quellen, die für meine Arbeit über das Jahr 1917 sehr wichtig gewesen waren, für das Jahr 1918 schlicht und einfach nicht verfügbar war. Abgesehen davon, dass außer den offiziell zugelassenen und streng kontrollierten Publikationen der Sowjets und der Kommunistischen Partei 1918 praktisch keine Zeitungen mehr erscheinen durften, war diese Zeit für die regierenden Kommunisten derart schwierig und niederdrückend, dass nur wenige Memoiren oder Schilderungen der Ereignisse darüber verfasst, geschweige denn veröffentlicht wurden. Hinzu kam, dass gegen Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre einige ehrgeizige und sehr wichtige Publikationsprojekte für Archivmaterialien, die Mitte der 1920er Jahre eingeleitet worden waren, vorzeitig abgebrochen wurden.

Die Möglichkeit, in historischen sowjetischen Archiven zu arbeiten, war also ein Geschenk des Himmels! Jetzt stand mir eine Fülle an Primärquellen zur Verfügung, darunter interne Protokolle von Regierung, Partei, Geheimpolizei, Roter Armee und Flotte, Gewerkschaften und Fabriken. Diese neuen, unvorhergesehenen Möglichkeiten stellten mich aber auch vor ein Dilemma. Sollte ich meine Forschungen über die Entstehung des sowjetischen politischen Systems zunächst zurückstellen, um mein Buch über die Oktoberrevolution auf der Grundlage der unversehens zugänglichen Archivquellen auf den neuesten Stand zu bringen? Wie John Keep in seiner Besprechung von Prelude to Revolution prophezeit hatte, gelangte ich nach Sichtung einer repräsentativen Auswahl von Archivquellen zu dem Schluss, dass diese zwar bislang unbekannte Einzelheiten bargen, meine grundlegenden Ergebnisse aber nicht wesentlich verändern würden. Ich wandte mich also wieder der Periode nach der Oktoberrevolution zu. Das erste Ergebnis dieser Forschungen, The Bolsheviks in Power: The First Year of Soviet Rule in Petrograd, erschien 2007 zeitgleich in den USA und Russland. Die deutsche Ausgabe, Die Sowjetmacht. Das Erste Jahr, erschien 2010 im Mehring Verlag.

Eine ausführliche Bibliografie der Quellen, auf die sich Die Sowjetmacht. Die Revolution der Bolschewiki 1917 stützt, findet sich am Ende des Buches. Seit der Erstveröffentlichung der englischen Originalfassung, The Bolsheviks Come to Power, hat die westliche und sowjetische/russische Forschung unser Wissen über die bedeutsamen Ereignisse im Russland von 1917 enorm erweitert. Zu den wichtigen wissenschaftlichen Werken, die seitdem erschienen, zählen Untersuchungen über Fabrikarbeiter von S. A. Smith, David Mandel, Rex Wade und Diane Koenker,16 über Soldaten an der Front von Allan Wildman und über Matrosen der Baltischen Flotte von Evan Mawdsley und Israel Getzler;17 über die wissenschaftlich gebildete Schicht, die Intelligenzija, von O. N. Snamenski;18 über die Revolution außerhalb von Petrograd von Donald J. Raleigh, Orlando Figes, Peter Holquist, Sarah Badcock und Aaron Retish;19 über die nicht-bolschewistischen Parteien und Gruppen von Lutz Hafner, Ziva Galili, S. V. Tjutjukin, und Michael Melancon20; und über wichtige Persönlichkeiten wie Leo Trotzki von Pierre Broué, Baruch Knei Paz und Irving Howe; über Alexander Kerenski von Richard Abraham und V. P. Fedjuk; und über den General Lawr Kornilow von G. S. Joffe.21 Zu den interessanten Werken, die sich der Revolutionszeit unter kulturwissenschaftlichen Aspekten nähern, zählen die gemeinsam von Richard Stites, Frederick C. Corney, Orlando Figes und Boris Kolonizki sowie die von Boris Kolonizki allein veröffentlichten Schriften.22 Besonders wertvolle historiografische, bibliografische und allgemeine Untersuchungen haben Edward Acton, Jonathan D. Smele, W. I. Starzew, Rex Wade, Manfred Hildermeier und V. P. Buldakov verfasst.23 Zu den wertvollsten Werken über 1917, die seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion in Russland erschienen, zählen umfangreiche, detailliert kommentierte Zusammenstellungen von Dokumenten und nützliche Nachschlagewerke.24 Eine aufschlussreiche Sammlung von Dokumenten über das Jahr 1917 für interessierte Laien ist Voices of Revolution, 1917 von Mark D. Steinberg.25

Die Öffnung der sowjetischen Archive seit 1990 und das Ende der Sowjetunion Ende 1991 schürten Erwartungen, dass nun eine Vielzahl aufschlussreicher, origineller wissenschaftlicher Studien über die Oktoberrevolution von russischen Historikern erscheinen würde, beflügelt von der unverhofften Möglichkeit, ohne ideologische Scheuklappen neue grundlegende Forschungen zu betreiben, ermutigt und angeregt durch konstruktive Zusammenarbeit mit Kollegen aus dem Westen. Ein vielversprechender erster Schritt in diese Richtung war die Einberufung einer großen Konferenz von Wissenschaftlern im Januar 1993 in St. Petersburg über wichtige Streitfragen der Februar- und Oktoberrevolution im Russland von 1917. An dieser bemerkenswerten Zusammenkunft nahmen führende etablierte und jüngere russische Experten für die Revolution teil, insgesamt etwa 61 Personen, sowie 18 ihrer Kollegen aus den Vereinigten Staaten, Großbritannien, Frankreich, Italien und Finnland. Aus den veröffentlichten Konferenzprotokollen geht hervor, dass auf allen Sitzungen eine freie und lebhafte Diskussion stattfand.26

Ein wichtiges Nebenprodukt der auf der Konferenz geknüpften Kontakte war die Vorbereitung des bahnbrechenden Critical Companion to the Russian Revolution, 1914–1921.27 Dieser Band lehnt sich an das Kritische Wörterbuch der Französischen Revolution von Francois Furet und Mona Ozouf28 an. Er enthält 65 Einzeldarstellungen über wichtige Aspekte der russischen Revolutionszeit, verfasst von 47 bedeutenden Wissenschaftlern aus Russland, den Vereinigten Staaten, Großbritannien, Italien, Kanada und Schottland, von denen viele 1993 an der Konferenz in St. Petersburg teilgenommen hatten. Die Petersburger Konferenz und der Critical Companion to the Russian Revolution gaben den Anstoß zu vielen gemeinsamen internationalen Konferenzen und Kolloquien, gemeinschaftlichen Publikationsprojekten und zu engen persönlichen und fruchtbaren beruflichen Banden, die bis heute fortbestehen. Ohne Übertreibung kann man sagen, dass sich die Beziehungen zwischen ausländischen und russischen Wissenschaftlern mittlerweile normalisiert haben. Auch die ungeheure wissenschaftliche Bedeutung und Leistung, die in den erwähnten Dokumenten und Nachschlagewerken steckt, kann nicht hoch genug geschätzt werden.

Doch die Erwartung, dass der Zugang zu den Archiven und das Ende der Sowjetära eine Lawine an relevanten wissenschaftlichen Forschungen und Schriften russischer Historiker über die Revolution auslösen würde, erfüllte sich, von wenigen wichtigen Ausnahmen abgesehen, nicht. Stattdessen wurde die grundlegende Forschungsarbeit im postsowjetischen Russland dadurch beeinträchtigt, dass dieses Thema nach wie vor in hohem Maße mit politischen Interessen behaftet ist. Dem russischen Publikum wurden im Großen und Ganzen keine neuen wissenschaftlichen Forschungen geschenkt, sondern es wurde mit halb-fiktionalen, sensationsheischenden „Enthüllungen“ über bolschewistische Führer und den Bolschewismus aus der Feder von Journalisten und Trivialliteratur-Autoren traktiert.

Konservativen westlichen Historikern wie Richard Pipes diente der Bankrott des Sowjetsystems gleichzeitig als Beleg dafür, dass es von Anfang an der Legitimation entbehrt hätte. 1976 schrieb Pipes in einem Essay für die New York Times, in dem er auch The Bolsheviks Come to Power streifte (dem er bis dahin noch keine besondere Bedeutung beigemessen hatte), es sei „ein wissenschaftliches Werk, das sich auf sorgfältige Forschung stützt“. „Der Autor kommt zu dem Schluss (zu Recht, wie ich meine), dass ein Hauptgrund für den Erfolg der Bolschewiki in ihrer politischen Flexibilität lag, dank derer sie auf schnelle Veränderungen in der Stimmung der Massen reagieren konnten.“ Pipes fügte hinzu, „das Buch bietet eine außerordentlich umfassende Darstellung von Strategie und Taktik der Bolschewiki in der Hauptstadt zwischen Juli und Oktober, gleichzeitig nimmt es aber keine bedeutenden Korrekturen an der im Westen vorherrschenden Meinung darüber vor, wie die Machteroberung bewerkstelligt wurde und weshalb sie erfolgreich war.“29 Doch 25 Jahre später, mitten im amerikanischen Triumphgeschrei über das Ende der Sowjetunion, beeilte sich Pipes, in einem Artikel mit dem Titel „1917 and the Revisionists“, mit Historikern wie mir abzurechnen. Dieser Artikel erschien neben anderen in einer Sondernummer des konservativen Magazins The National Interest über die „Sünden der Wissenschaftler“, die eine „Autopsie“ des „merkwürdig zu Tode gekommenen sowjetischen Kommunismus“ versprachen. Der Essay nannte mich den „Häuptling der Revisionisten“, und revisionistische Werke wie The Bolsheviks Come to Power waren ihm zufolge „nur ein Aufguss der Interpretationen, die die Kommunistische Partei der Zunft der sowjetischen Historiker aufzwang“.30 Doch die allgemeine Triumphstimmung führte nicht, wie Pipes zuversichtlich gehofft hatte, zur Ablehnung des „Revisionismus“ oder zu neuen Forschungen in den Archiven, um den traditionellen „Konsens“ zu stützen. Von wenigen wichtigen Ausnahmen abgesehen, die allerdings keine Zurückweisung der „Revisionisten“ beinhalteten, wandten sich westliche Russland-Historiker der Erforschung wichtiger „weißer Flecken“ wie der Stalin-Ära zu, die nun zum ersten Mal fundiert erforscht werden konnten.

Als die erste Auflage von The Bolsheviks Come to Power erschien, war das Schicksal vieler Petrograder Bolschewiki, die in meinem Buch eine bedeutende Rolle spielen, noch ungeklärt. Dies ist nicht länger der Fall. Einige starben im Kampf ums Überleben während des Bürgerkriegs. Zu ihnen gehören W. Wolodarski und M. Urizki (beide Opfer von Terroranschlägen in Petrograd), A. I. Sluzki, W. K. Sluzkaja, J. A. Rachia und S. G. Roschal. Viele, die den Bürgerkrieg überlebten, verloren ihr Leben im Großen Terror Stalins. So erging es den meisten Mitgliedern, die auf dem Sechsten Parteitag Ende Juli 1917 ins Zentralkomitee gewählt worden waren und Anfang der 1930er Jahre noch lebten, Stalin selbst natürlich ausgenommen. Unter den Opfern der Säuberungen waren T. Smilga, L. B. Kamenew, G. E. Sinowjew, A. S. Bubnow, N. N. Krestinski, J. A. Bersin, W. P. Miljutin, A. I. Rykow, N. I. Bucharin und Leo Trotzki (der von einem Agenten Stalins in Mexiko ermordet wurde). Zu den prominenten Opfern der Säuberungen unter den Mitgliedern des bolschewistischen Petersburger Komitees zählten A. G. Schljapnikow, P. A. Saluzki, M. J. Lazis, I. N. Stukow, G. E. Jewdokimow, W. A. Antonow-Owsejenko, G. I. Boki, S. M. Gessen, M. A. Saweljew, J. N. Jegorowa, S. K. Ordschonikidse und M. P. Tomski (die beiden Letztgenannten entgingen ihrer Hinrichtung durch Selbstmord). Folgende Mitglieder der bolschewistischen Militärischen Organisation wurden ermordet: W. I. Newski, N. W. Krylenko, M. S. Kedrow, K. A. Mechanoschin, A. F. Iljin-Schenewski und F. P. Chaustow; zwei prominente Kronstädter Bolschewiki, F. F. Raskolnikow und A. M. Ljubowitsch fielen Stalin auch zum Opfer. Zu den prominenten Petrograder Bolschewiki, die sowohl den Bürgerkrieg wie auch Stalins Terror überlebten, gehörten W. M. Molotow, M. I. Kalinin, Jelena Stasowa, Alexandra Kollontai und N. I. Podwoiski.

Ich stehe bei mehreren Menschen tief in der Schuld, die diese deutsche Erstauflage von The Bolsheviks Come to Power möglich gemacht haben. Großer Dank gebührt David North, dem Vorsitzenden der Socialist Equality Party in den Vereinigten Staaten, und Ulrich Rippert, dem Vorsitzenden der Partei für Soziale Gleichheit in Deutschland, die den Anstoß dazu gaben. Zutiefst dankbar bin ich außerdem Wolfgang Weber als Lektor des Mehring Verlags. Er hat meine Arbeit durchgängig mit Begeisterung unterstützt und sich tatkräftig und unermüdlich dafür eingesetzt, meine Leserschaft in Europa zu vergrößern. Wie David North und Ulrich Rippert ist er zu einem geschätzten Kollegen und Freund geworden, trotz oder vielleicht auch wegen meiner ideologischen Distanz. Besonderer Dank gebührt auch Wolfgang Zimmermann, dem Geschäftsführer des Mehring Verlags; er hat sich dieses Projekts angenommen und für seine effiziente und zügige Durchführung gesorgt. Höchste Wertschätzung spreche ich meiner Übersetzerin Andrea Rietmann (der ich inzwischen freundschaftlich verbunden bin) und ihrem engagierten Team aus. Sie haben alles in ihrer Macht Stehende getan für eine gewissenhafte, präzise und gelungene Übersetzung. Ein größeres Geschenk hätten sie mir nicht bereiten können.

Alexander Rabinowitch

Indiana University

Bloomington, Indiana

15. Januar 2012

* * *

Anmerkungen

1. Alexander Rabinowitch, Prelude to Revolution: The Petrograd Bolsheviks and the July 1917 Uprising (Bloomington 1968).

2. N. V. Romanovskij, „Ijul’skie sobytija v sovremennoj bur‌uaznoj istoriografii „, Istorija SSSR, Nr. 3, 1971, S. 220–221. Siehe auch die Kritik von G. L. Sobelev, Oktjabr’skaja revoljucija v amerikanskoj istoriografii. 1917–1970-e gody (Leningrad 1979), S. 199–203.

3. Annales, Nr. 4, Juli-August 1979, S. 898–899.

4. Soviet Studies, Oktober 1969, S. 255–257 Political Science Quarterly, März 1969, S. 125–127.

5. Slavonic Review, Juli 1970, S. 464–466.

6. American Historical Review, Jg. 74, Nr. 1 (Oktober 1968), S. 234–235.

7. Alexander Rabinowitch, The Bolsheviks Come to Power: The Revolution of 1917 in Petrograd (New York 1976).

8. The Russian Review, Juli 1977, S. 361–362.

9. Brief von Howe an meinen Lektor bei W. W. Norton, James L. Mairs.

10. Robert Rosenstone, The New Republic, 18. Juni 1977, S. 35–36.

11. Brief von Cohen an meinen Lektor bei W. W. Norton, James L. Mairs.

12. Russian History, Jg. 4, 1977, S. 86–88.

13. The Economist, 27. Oktober 1979, S. 120.

14. Stephen F. Cohen ist der Autor der klassischen Biografie N. I. Bucharins, Bukharin and the Bolshevik Revolution (New York 1973). Bezüglich Robert C. Tucker meinte Kennan wohl den vor relativ kurzer Zeit erschienenen ersten Band seiner weithin gelobten Stalin-Biografie, Stalin as Revolutionary (New York 1973), bezüglich Moshe Lewin dessen wichtige Bücher Russian Peasants and Soviet Power (Evanston 1968), Lenin’s Last Struggle (New York 1968; dt.: Lenins letzter Kampf, Hamburg 1970) , und Political Currents in Soviet Economic Debates: From Bukharin to the Modern Reformers (Princeton 1974).

15. Boris Kolonickij, der heute führende Petersburger Historiker der russischen Revolutionen von 1917, schrieb in einer Besprechung von The Bolsheviks in Power: „Wer (heute) die Geschichte der Revolution studieren will, muss einfach Prelude to Revolution und The Bolsheviks Come to Power lesen.“ Siehe Kolonickijs Rezension in Rossijskaja istorija, Nr. 4, 2009, S. 193–195.

16. Siehe S. A. Smith, Red Petrograd: Revolution in the Factories (Cambridge 1984); David Mandel, Petrograd Workers and the Fall of the Old Regime: From the February Revolution to the July Days 1917 (London 1983) und The Petrograd Workers and the Seizure of Power: From the July Days 1917 to July 1918 (London 1984); Rex Wade, Red Guards and Worker’s Militias in the Russian Revolution (Stanford 1984); und Diane Koenker, Moscow Workers and the 1917 Revolution (Princeton 1981).

17. Allan Wildman, The End of the Russian Imperial Army: The Old Army and the Soldiers’ Revolt (Princeton 1980) und The End of the Russian Imperial Army: The Road to October and Peace (Princeton 1987); Evan Mawdsley, The Russian Revolution: War and Politics, February 1917-April 1918 (London 1978); und Israel Getzler, Kronstadt, 1917–1921: The Fate of a Soviet Democracy (Cambridge 1983).

18. O. N. Znamenskij, Intelligencija nakanune Velikogo Oktjabr’ja (Fevral’–Oktjabr’ 1917 g.) (Leningrad 1988).

19. Donald J. Raleigh, Revolution on the Volga: 1917 in Saratov (Ithaca 1986); Orlando Figes, Peasant Russia, Civil War: The Volga Countryside in the Revolution, 1917–1921 (Oxford 1989); Peter Holquist, Making War, Forging Revolution: Russia’s Continuum of Crisis, 1914–1921 (Cambridge 2002); Sarah Badcock, Politics and the People in Revolutionary Russia: A Provincial History (Cambridge 2007); und Aaron Retish, Russia’s Peasants in Revolution and Civil War: Citizenship, Identity, and the Creation of the Soviet State (1914–1922) (Cambridge 2008).

20. Lutz Hafner, Die Partei der linken Sozialrevolutionäre in der Russischen Revolution von 1917–1918 (Köln 1994); Ziva Galili, The Menshevik Leaders in the Russian Revolution: Social Realities and Political Strategies (Princeton 1989); S. V. Tjutjukin, Men’ševizm: Stranicy istorii (Moskau 2002); und Michael Melancon, The Social Revolutionaries and the Anti-War Movement, 1914–1917 (Columbus 1990).

21. Pierre Broué, Trotsky (Paris 1988; dt.: Pierre Broué, Trotzki, Köln 2003); Baruch Knei-Paz, The Social and Political Thought of Leon Trotsky (Oxford 1979); Irving Howe, Leon Trotsky (New York 1978), Richard Abraham, Alexander Kerensky: The First Love of the Revolution (New York 1987); V. P. Fedjuk, Kerenskij (Moskau 2009); G. Z. Ioffe, Beloe delo. General Kornilov (Moskau 1989).

22. Richard Stites, Revolutionary Dreams: Utopian Visions and Experimental Life in the Russian Revolution (New York and Oxford 1989); Frederick C. Corney, Telling October: Memory and the Making of the Bolshevik Revolution (Ithaca 2004); Orlando Figes und Boris Kolonickij, Interpreting the Russian Revolution: The Language and Symbols of 1917 (New Haven and London 1999); und B. I. Kolonickij, Pogony i bor’ba za vlast’ v 1917 godu (St. Petersburg 2001) und Tragi&;eskaja erotica“: Obrazy imperatorskoj sem’i v gody Pervoj mirovoj voiny (Moskau 2010).

23. Edward Acton, Rethinking the Russian Revolution (London 1990); Jonathan D. Smele, Hrsg., The Russian Revolution and Civil War, 1917–1921: An Annotated Bibliography (London and New York 2003); V. I. Starcev, Krach Kerenš&;iny (Leningrad 1982); Rex Wade, The Russian Revolution, 1917 (Cambridge 2005); Manfred Hildermeier, Die russische Revolution 1905–1921 (Frankfurt am Main 1989); und Vladimir P. Buldakov, Krasnaja smuta, (Moskau 1997).

24. Die wichtigsten dieser dokumentarischen Werke sind erschöpfende Dokumentensammlungen über die wichtigen nicht-bolschewistischen Parteien in der revolutionären Ära; bisher sind 44 Bände erschienen: Politi&;eskie partii Rossii. Konec XIX – pervaja tret’ XX veka: Dokumental’noe nasledie, published by Rosspen (Moskau 1996-). Besonders wichtig für das Thema von Die Sowjetmacht. Die Revolution der Bolschewiki 1917 sind B. D. Galperina, O. N. Znamenskij, und V. I. Starcev, Hrsg., Petrogradskij sovet rabo&;ych i soldatskich deputatov v 1917 godu, Bd. 1–4 (Leningrad und Moskau 1991–2003), und eine von T. A. Abrosimova, T. P. Bondarevskaja, E. T. Lejkin, und V. J. &;ernjaev, Hrsg. zusammengestellte Sammlung, Peterburgskij komitet RSDRP (b) v 1917 godu: Protokoly i materialy zasedanii (St. Petersburg 2003). Abgesehen vom letztgenannten Werk sind wichtige Dokumente über die bolschewistische Partei nicht neu veröffentlicht worden, obwohl allgemein anerkannt ist, dass entsprechende Dokumentensammlungen aus der Zeit der Sowjetunion manipuliert wurden und unvollständig sind. Zwei besonders nützliche Nachschlagewerke sind P. V. Volobuev, A. S. Velidov, E. G. Gimpelson, V. P. Danilov, V. V. ‌uravlev, V. I. Miller, A. P. Nenarokov, A. I. Razgon, J. J. Figatner, M. N. Chitrov, und L. K. Škarenikov, Hrsg., Politi&;eskie dejateli Rossii 1917: Bibliografi&;eskij slovar’ (Moskau 1993), und V. V. Šelokhaev, V. P. Buldakov, N. D. Erofeev, O. A. Zumarin, S. V. Kule&;ev, V. V. Kriven’skij, A. J. Morozova, I. S. Rosental’, und A. K. Sorokin, Hrsg., Politi&;eskie partii Rossii. Konec XIX – pervaja tret’ XX veka. Encyklopedija. (Moskau 1996).

25. Mark D. Steinberg, (Hrsg.), Voices of Revolution (New Haven und London 2001).

26. Siehe V. J. &;ernjaev, Z. Galili, L. Haimson, B. I. Kolonickij, S. I. Potolov, und J. Šerrer, (Hrsg.), Anatomija revoljucii. 1917 god v Rossii: massy, partii, vlast’ (St. Petersburg 1994).

27. Edward Acton, Vladimir J. &;ernjaev, William G. Rosenberg, (Hrsg.), Critical Companion to the Russian Revolution, 1914–1921 (Bloomington 1997).

28. Francois Furet und Mona Ozouf, Kritisches Wörterbuch der Französischen Revolution (Frankfurt am Main 1996).

29. New York Times, 12. Dezember 1976, Book Review, S. 1.

30. Richard Pipes, „1917 and the Revisionists“, The National Interest, Frühjahr 1993, S. 68–79.

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