Bielefeld: Historisches Quartett diskutiert Trotzki-Biografie von Robert Service

Die Trotzki-Biografie des britischen Historikers Robert Service und die Auseinandersetzung darüber waren am 5. November Thema der Veranstaltungsreihe „Das Historische Quartett“, die regelmäßig im Bielefelder Buchladen „Eulenspiegel“ stattfindet.

Gastgeberin Ingrid Gilcher-Holtey, Professorin für Zeitgeschichte an der Universität Bielefeld, hatte zwei Geschichtswissenschaftler aus Bielefeld, Malte Griesse und Stephan Isernhagen, den Privatdozenten Lutz Häfner (Göttingen) und Professor Mario Kessler (Potsdam) zur Podiumsdiskussion eingeladen.

Quartett Von links nach rechts: Stephan Isernhagen, Mario Kessler, Ingrid Gilcher-Holtey, Malte Griesse, Lutz Häfner

Ebenfalls eingeladen war David North, der Chefredakteur der World Socialist Web Site, der das Werk von Service in seinem Buch „Verteidigung Leo Trotzkis“ einer gründlichen Kritik unterzogen und ihm zahllose faktische Fehler, Fälle von Geschichtsfälschung und das Wiederaufwärmen von Lügen und Verleumdungen nachgewiesen hat, die ihren Ursprung in der Propaganda Stalins haben. North war aber aus Termingründen verhindert.

Der Suhrkamp Verlag hat die deutsche Übersetzung der Trotzki-Biografie von Robert Service im Sommer dieses Jahres auf den Markt gebracht, obwohl ihm vierzehn namhafte Historiker und Politikwissenschaftler aus dem deutschsprachigen Raum in einem Brief, der sich auf North‘ Kritik bezog, von einer Veröffentlichung abgeraten hatten. Die Unterzeichner des Briefs waren auf dem Podium durch Professor Mario Kessler und im Publikum durch den Historiker Bernhard Bayerlein vertreten, der sich ebenfalls zu Wort meldete.

In der Eröffnungsrunde unterstrichen die Podiumsteilnehmer den fatal negativen Eindruck, den das Buch von Service schon beim ersten Lesen auf sie gemacht habe.

Mario Kessler stellte fest, er habe nichts Positives bemerken können. Wenn Service die von ihm angeführte wissenschaftliche Literatur wirklich gelesen und verwertet hätte, dann hätte er wahrscheinlich nicht so viele Fehler gemacht. Der Leser erfahre aus dem Buch nichts oder viel Falsches über Trotzkis Ideen, über den Inhalt seiner Schriften und über den geschichtlichen Kontext seines Lebens und Wirkens.

„Das Buch ist von vorn bis hinten voll von Werturteilen, die Trotzki niedermachen“, sagte Kessler. „Diese abwertenden Urteile werden dem Leser vorgefasst serviert, regelrecht aufgenötigt. Man hat am Ende fast den Eindruck, dass das Buch mehr Einblick in den Autor als in seinen Gegenstand, Leo Trotzki, gewähre.“

Ingrid Gilcher-Holtey stimmte dem zu. Auch für sie sei es aus diesem Grunde unerträglich gewesen, das Buch zu lesen.

Malte Griesse meinte, bei ihm habe das Buch eher Ekelgefühle ausgelöst. Er ging auf die Behauptung von Service ein, er enthülle auf der Grundlage von Manuskripten und ursprünglichen Entwürfen, was Trotzki in Wirklichkeit gedacht, aber dem Leser in seinen publizierten Büchern verheimlicht habe. Wenn man das Buch dann sorgfältig lese, „sucht man vergebens nach einem dieser angeblichen Widersprüche. Man stößt einfach auf nichts Neues.“

Es werde heute Abend wohl wenig kontroverse Diskussion geben, da sich die Anwesenden in ihren Einschätzungen offensichtlich weitgehend einig seien, folgerte Griesse.

Doch da überraschte Lutz Häfner mit dem Bekenntnis, er habe das Buch von Robert Service mit dem größten Vergnügen gelesen, ja wie einen Roman geradezu verschlungen. Er sei von Suhrkamp im Sommer 2009 um ein Gutachten zu der Frage gebeten worden, ob dem Verlag die Herausgabe dieser Trotzki-Biografie auf Deutsch zu empfehlen sei.

Häfner las dann einige Kernpassagen aus seiner damaligen Stellungnahme vor, die in auffallendem Gegensatz zu den Befunden von David North und den 14 Unterzeichnern des Briefs an Suhrkamp stehen.

So schrieb Häfner, wie er sich selbst zitierte: „Wiederholt kontrastiert Service seine Analyse mit dem umfangreichen Werk Trotzkis, seinen Tagebüchern, autobiographischen Skizzen und zahlreichen Entwürfen. Dadurch gewinnt die Erzählung an Dynamik. Generell gelingt es Service – wie vielen englischsprachigen Historikern – in weiten Teilen des Buches einen Spannungsbogen aufzubauen und das Leben Trotzkis schwungvoll, zugleich literarisch anspruchsvoll und auch mit Sprachwitz zu erzählen.“

Auch auf erstaunte Nachfragen aus dem Publikum hielt Häfner ausdrücklich an dieser Einschätzung fest. „Die Narration ist Service gelungen“, behauptete er – gab aber gleichzeitig zu, dass das Buch „eine Ausgeburt von Schlamperei“ sei. Auch in dem Gutachten habe er eine ganze Reihe von Fehlern und Schwächen angeführt.

„Gleichwohl“, zitierte Häfner dann sein Gutachten, „dürfte sich eine deutsche Übersetzung der vorliegenden Biographie dieses überaus vielseitigen und schillernden Revolutionärs bestens verkaufen lassen. Das Buch ist sowohl thematisch als auch vom Sprachstil für weite Leserkreise geeignet, es richtet sich an den interessierten Laien wie an Studenten und Fachhistoriker, für letztere dürfte sich allerdings der Erkenntnisgewinn in Grenzen halten.“

Suhrkamp hatte das von Häfner verfasste Gutachten offenbar als „grünes Licht“ für ein lukratives Geschäft interpretiert und die Übersetzung in Auftrag gegeben. Die Verdrehung und Fälschung historischer Fakten störte den Verlag auch dann nicht weiter, als er zwei Jahre später durch die 14 Wissenschaftler explizit darauf aufmerksam wurde.

Lutz Häfner, der sich mit einer Arbeit über die Rolle der Partei der Sozialrevolutionäre in der Russischen Revolution habilitiert hat, bekannte im Laufe der Veranstaltung nicht nur wissenschaftliches Interesse, sondern auch politische Sympathien gegenüber den Positionen der Linken Sozialrevolutionäre. Das dürfte sein Urteil über die Service-Biografie beeinflusst haben.

Die Linken Sozialrevolutionäre hatten sich 1917 als selbstständige Partei formiert und ihre Anhängerschaft unter der zum Anarchismus neigenden städtischen Intelligenz und auch unter Teilen der Bauernschaft gefunden. Nach der Oktoberrevolution bildeten sie für kurze Zeit eine Regierungskoalition mit den Bolschewiki, stellten sich aber dann im Frühjahr 1918 gegen die sofortige Beendigung des Krieges mit Deutschland. Sie gingen zum offenen Kampf gegen die Sowjetregierung auch mit Mord- und Terroranschlägen über.

Häfner selbst bezeichnete die Oktoberrevolution als „illegalen Staatsstreich“ und warf den Bolschewiki vor, mit der sofortigen Beendigung des Krieges gegen Deutschland durch den Friedensvertrag von Brest-Litowsk die Interessen der russischen Arbeiterklasse verraten zu haben.

In der Diskussion warf ein Zuhörer die Frage auf, weshalb heute, fast hundert Jahre nach den Ereignissen, der antikommunistische Furor wieder solche Ausmaße annehme wie bei Service. Im Herbst 2009 habe dieser in London seine Trotzki-Biografie mit den Worten vorgestellt: „Da ihn der Eispickel (die Waffe von Trotzkis Mörder) nicht völlig erledigt hat, wird es hoffentlich mein Buch nun tun.“

Bernhard Bayerlein, Herausgeber des „Internationalen Newsletter zur Kommunismusforschung“, antwortete, dies könne nicht mit der politischen Feindschaft einer einzelnen Person erklärt werden. Er stellte die Veröffentlichung von Service’s Schmähschrift bei Wissenschaftsverlagen wie Harvard University Press und Suhrkamp sowie das positive Urteil oder die Gleichgültigkeit vieler Rezensenten in Zusammenhang mit dem sogenannten „Diskurs der Postmoderne“. Dieser habe in den letzten Jahrzehnten neben anderen Wissenschaften auch die Historiographie unterhöhlt und dort für eine Verwilderung der Sitten gesorgt.

„Es geht bei dem Buch von Service“, betonte er, „um grundlegende Fragen des wissenschaftlichen Handwerks, seiner Prinzipien und Methoden. Selbst sehr rechte oder sogar explizit antikommunistische Historiker des Kalten Krieges, wie Robert Conquest, Branko Lazitch oder Milorad M. Drachkovitch an der Hoover Institution der Stanford University, haben noch auf die Einhaltung gewisser Standards bei ihrer Arbeit geachtet. Sie sind nie so weit gegangen oder gefallen wie Robert Service.“

Die heutige Situation sei paradox und gleiche einem Albtraum, fuhr Bayerlein fort: „Als Studenten und junge Wissenschaftler haben wir die akribische, kritische Auswertung von Archivmaterial gelernt, das gewissenhafte Belegen von Thesen mit Dokumenten und historischen Fakten. Das war vor Jahrzehnten, als die Archive noch weitgehend verschlossen waren und die Quellenlage dürftig. Heute, wo so viele Archive wie nie zuvor offenstehen und unglaublich viele Dokumente eingesehen und geprüft werden könnten, wird im Namen des ‚postmodernen Diskurses‘ all dies über Bord geworfen. Ich halte diesen Angriff auf das wissenschaftliche Arbeiten für höchst gefährlich. Die Wissenschaft als Ganzes muss sich energisch dagegen wehren, will sie nicht untergehen. Deshalb habe ich den Brief an Suhrkamp unterschrieben.“

Vom Historiker-Quartett und den Besuchern wurde dies mit Beifall aufgenommen.

Der Autor dieses Berichts, der als Vertreter des Mehring Verlages an der Veranstaltung teilnahm, verwies auf die zweite Auflage des Buchs „Verteidigung Leo Trotzkis“ von David North, die in neu aufgenommenen Beiträgen auf diese Fragen ausführlich eingehe. Es gehe in der Tat nicht nur um Robert Service, sondern um die gesamte „Schule der postsowjetischen Fälschungen“.

Den Auftakt habe in Russland der stalinistische General und Historiker Dimitri Wolkogonow gemacht. In Westeuropa gehörten außer Robert Service auch seine britischen Akademikerkollegen Geoffrey Swain und Ian Thatcher zu ihren Vertretern. Sie alle hätten in jüngster Zeit Trotzki-Biografien verfasst, die das von Postmodernismus und Poststrukturalismus geschaffene Klima im intellektuellen Leben ausnutzten, um das Leben und die Ideen von Leo Trotzki als Führer der Oktoberrevolution und prinzipieller Gegner der stalinistischen Bürokratie zu verfälschen und zu unterdrücken.

David North habe diese Biografien als ‚Präventivbiografien‘ charakterisiert. Ihre Autoren versuchten zu verhindern, dass Arbeiter und Jugendliche angesichts einer tiefen internationalen Krise des Kapitalismus wieder zu den Ideen und Perspektiven Leo Trotzkis fänden.

Nach den Schlussworten von Frau Gilcher-Holtey wurden die lebhaften Diskussionen in benachbarten Cafés noch lange fortgesetzt.

Siehe auch:

Deutscher Historikertag in Mainz: „Verteidigung Leo Trotzkis” stößt auf großes Interesse

Suhrkamp-Verlag veröffentlicht Schmähschrift von Robert Service gegen Leo Trotzki

Brief von 14 Geschichts- und Politikwissenschaftlern an den Suhrkamp-Verlag

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