Ägypten:

Mursi wendet sich ans Militär

Der ägyptische Präsident Mohammed Mursi erließ am Sonntag ein Dekret, das Armeeoffiziere diese Woche ermächtigt, Menschen zur „Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung“ zu verhaften. Dass das Militär zur Unterstützung der Polizei gerufen wird, ist ein Anzeichen für die reaktionären Vorbereitungen, die hinter den Kulissen stattfinden, während sich die Krise in Ägypten verschärft.

Das neue Gesetz 107 gesteht dem Militär für die Woche bis zum 15. Dezember die Kontrolle über sämtliche Sicherheitsmaßnahmen zu. An diesem Tag soll das Referendum über eine neue Verfassung stattfinden, die von einer Kommission entworfen wurde, die von Mursis Freiheits- und Gerechtigkeitspartei kontrolliert wird, dem politischen Arm der Muslim-Bruderschaft, der islamistischen Fraktion der ägyptischen Bourgeoisie.

Einen Tag zuvor war dem Dekret eine Erklärung Mursis vorausgegangen, die die für den 15. Dezember vorgesehene Abstimmung über die von den Islamisten gestützte Verfassung bestätigte. Mit der Erklärung wurde Mursis Dekret vom 22. November formell aufgehoben, das zu Massenprotesten im Land geführt hatte, weil es alle Macht von Legislative, Justiz und Exekutive in seine Hände gelegt und den Präsidenten so über Recht und Gesetz gestellt hatte.

Die neue Verfassungserklärung hat die in der Erklärung vom 22. November eingeforderte absolute Macht jedoch praktisch bestätigt. Sie stellt erneut fest, dass das neue Dekret und andere solche Verfassungserklärungen nicht von der Gesetzgebung überprüft oder gar zurückgewiesen werden dürfen.

Mursis Referent, der die neue Verfassungserklärung auf einer Pressekonferenz Samstagnacht verlas, sagte: „Die Erklärung beabsichtigt nicht, die Entscheidungen des Präsidenten vor rechtlichen Einsprüchen zu schützen, sondern vielmehr, die Verfassungserklärungen zu schützen. Dies ist ein Akt der Souveränität, der dem Präsidenten zugestanden wird.“

Ahram Online veröffentlichte am Wochenende eine englische Übersetzung des Dekrets vom Samstag. Aus ihr geht hervor, dass Mursi seine Erklärung vom 22. November für nichtig erklärt hat, aber darauf beharrt, dass „alle ihre Folgen Geltung behalten“. Die wichtigste dieser Folgen ist das für den 15. Dezember angesetzte Referendum über die neue Verfassung.

Die neue Verfassungserklärung sieht vor, dass der Präsident für den Fall, dass die ägyptische Bevölkerung den neuen Verfassungsentwurf ablehnt, innerhalb von drei Monaten eine neue verfassungsgebende Versammlung einberuft.

Oppositionsgruppen, die gegen Mursis Griff nach der absoluten Macht Proteste organisiert hatten, lehnten die neue Erklärung ab, schwiegen sich aber darüber aus, ob sie zu einem Boykott des Referendums aufrufen, es durch Proteste stören oder die Menschen auffordern würden, daran teilzunehmen, um den Verfassungsentwurf abzulehnen.

Die National Salvation Front (NSF, Nationale Rettungsfront), der viele der bürgerlich-liberalen Oppositionsgruppen angehören, sagte, Mursis Rückzieher in Bezug auf das Dekret vom 22. November sei „hinter den Erwartungen zurückgeblieben.“ Ein NSF-Funktionär sagte: „Eine unserer Hauptforderungen besteht darin, die Abstimmung über die Verfassung zu verschieben. Sollte hierauf nicht reagiert werden, wird das zu weiteren Konfrontationen führen.“

NSF-Sprecher Khaled Dawood sagte, Mursis Verhalten sei „relativ bedeutungslos“ und erklärte: „Die Schlüsselfrage, nämlich die Sicherstellung des Prozesses der Annahme der Verfassung, ist gelöst.“ Gleichzeitig wies Dawood darauf hin, dass Mursis Sturz derzeit „für uns keinesfalls zur Debatte steht.“ Er fuhr fort: „Unsere Agenda beschränkt sich grundsätzlich darauf, einen neuen Verfassungsentwurf zu bekommen, mit dem alle zufrieden sind, bevor es zu einem Referendum kommt.“

Die Führer der NSF boykottierten ein Treffen, das Mursi für Samstag, den 8. Dezember unter dem Motto „Nationaler Dialog“ angesetzt hatte, um über die politische Krise zu diskutieren. Die ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Hamdeen Sabbahi, ein Nasserist, und Amr Mussa, Außenminister unter Mubarak, weigerten sich ebenso, an dem Treffen teilzunehmen, wie Mohammed El Baradei der ehemalige Chef der Internationalen Atom-Energie-Behörde (IAEA).

Die NSF und die pseudolinken Gruppen, wie die Revolutionären Sozialisten, in ihrem Schlepptau, haben für Dienstag zu erneuten Massenprotesten in Kairo und anderen Städten aufgerufen. Die Muslim-Brüderschaft hat für denselben Tag zu Pro-Mursi-Demonstrationen aufgerufen und so möglicherweise den Boden für weiteres Blutvergießen bereitet, das dem Militär als Vorwand für ein offenes Eingreifen dienen könnte.

Die politische Pattsituation zwischen den verschiedenen Flügeln der herrschenden Elite Ägyptens führte am Samstag zu einer bedrohlichen Erklärung des Militärs, in der vor möglichen „katastrophalen Folgen“ gewarnt wurde. Es war die erste öffentliche Erklärung des Militärs seit Mursis Machtübernahme im August, als er die führenden Generäle einschließlich Verteidigungsminister Mohammed Tantawi in den Ruhestand versetzte.

In der Erklärung heißt es: „Dialog ist der beste und einzige Weg, um Übereinstimmung zu erzielen. Das Gegenteil davon wird uns in einen dunklen Tunnel und damit in eine Katastrophe führen und das ist etwas, das wir nicht durchgehen lassen werden.“ Weiterhin wird davor gewarnt, dass das Ausbleiben einer Einigung in Verfassungsfragen „im Interesse keiner Seite ist. Die Nation als Ganzes wird den Preis dafür bezahlen.“

Um die entscheidende Rolle des Militärs in der politischen Krise zu verdeutlichen, unterbrachen die staatlichen Radio- und Fernsehstationen am Samstag ihre Programme und verlasen eine Erklärung der Führer der Streitkräfte. Vertreter der Muslim-Bruderschaft begrüßten den „ausgewogenen“ Charakter der Erklärung.

Militäreinheiten begannen, diese Worte praktisch umzusetzen. Truppen wurden mobilisiert, um die Gegend um den Präsidentenpalast abzuschirmen und Demonstranten daran zu hindern, in seine Nähe zu gelangen. Panzer und gepanzerte Fahrzeuge wurden aufgefahren, das Gelände mit Stacheldraht abgeriegelt.

Die Los Angeles Times zitiert den ägyptischen politischen Analysten Ammar Ali Hassan, demzufolge die US-Regierung hinter den Kulissen eine Schlüsselrolle in der politischen Krise spielt. „Es gibt Vereinbarungen zwischen den Streitkräften, den USA und der Bruderschaft“, sagte er der Times. „Sie haben sich darauf geeinigt, Stabilität zu garantieren, denn die USA brauchen dringend Stabilität in Ägypten.“

David Ignatius, Kolumnist der Washington Post, der gute Beziehungen zu den Geheimdiensten der USA unterhält, fand zur Rolle der Regierung Obama bei ihrer Unterstützung von Mursi noch deutlichere Worte. In einer überaus scharfen Kolumne vom Samstag schreibt er unter dem Titel „Unser Mann in Kairo“:

„Lasst uns ehrlich sein: Die Regierung Obama ist Mursis Steigbügelhalter gewesen. US-Funktionäre haben in Fragen der wirtschaftlichen Entwicklung und der regionalen Diplomatie eng mit ihm zusammengearbeitet. Bei ihrem Besuch in Washington in der vergangenen Woche haben Mursis wichtigste Referenten die engen Beziehungen ihres Chefs zu Präsident Obama herausposaunt und Telefongespräche zwischen den beiden Führern beschrieben, die zum Waffenstillstand im Gazastreifen geführt haben.“

Ignatius merkt an, dass sich die Regierung Obama seit dem Ausbruch der politischen Krise nach Mursis Dekret vom 22. November „seltsam zurückgehalten“ hat. Er schloss daraus, dass es „für Washington an Wahnsinn grenzt, sich auf die Seite der Gegner jener zu schlagen, die ein liberales, tolerantes Ägypten wollen und statt dessen mit jenen zu paktieren, die die Sharia einführen wollen. Irgendwie ist das der Punkt, an dem die Regierung mittlerweile angekommen ist.“

Was Ignatius nicht zugeben konnte – obwohl es sich dabei um den Schlüssel zur US-Politik im Nahen Osten handelt – ist die Tatsache, dass die Regierung Obama ein Bündnis mit den islamistischen Fundamentalisten, die sie einst gemieden hat, eingegangen ist, um Regimes wie das von Gaddafi in Libyen und Assad in Syrien zu stürzen, die es für Hindernisse bei der Durchsetzung ihrer Außenpolitik hält.

Darüber hinaus repräsentiert die Muslim-Bruderschaft eine wichtige Fraktion der ägyptischen Bourgeoisie, wenn nicht ihre herrschende. Diese Tatsache wird dadurch unterstrichen, dass es sich bei ihrem stellvertretenden Führer, Khairat el-Shater, einem der reichsten Männer des Landes, um einen langjährigen Förderer Mursis handelt.

In einer Pressekonferenz, die am Samstag von einer Koalition der islamistischen Kräfte abgehalten wurde, machte el-Shater seiner Sorge Luft, dass die andauernden politischen Unruhen den Kapitalfluss in Ägypten untergrüben. „In den vergangenen vier Monaten habe ich tausende von Investoren getroffen, die ein ehrliches Interesse an Investitionen in Ägypten haben“, sagte er. „Ich kann ihnen jedoch nicht empfehlen, ihr Geld in dieser Zeit der Instabilität anzulegen.“

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