Verfassungsreferendum in Ägypten:

Geringe Beteiligung und Betrugsvorwürfe

Am Samstag fand in zehn der 27 ägyptischen Gouvernements die erste Abstimmungsrunde über den Verfassungsentwurf statt, darunter auch in den beiden größten Städten, der Hauptstadt Kairo und der Hafenstadt Alexandria. In den restlichen siebzehn Gouvernements wird die Abstimmung am 22. Dezember stattfinden.

Das Referendum fand nach dreiwöchigen Massenprotesten gegen den neuen islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi und die regierende Moslembruderschaft statt. Es war gekennzeichnet von niedriger Beteiligung, Gewalt und Betrugsvorwürfen.

Es fand unter Bedingungen statt, die die Demokratie ad absurdum führten. Angeblich wurden mehr als 300.000 Soldaten und Polizisten eingesetzt, um die Wahllokale zu bewachen.

Vor einer Woche hatte Mursi das ägyptische Militär mit einem Präsidentenerlass angewiesen, die Polizei beim Schutz „von wichtigen staatlichen Einrichtungen“ und der „Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung sowie der Sicherung der Wahllokale“ während des Referendums zu unterstützen. Damit werden im Grunde die Notstandsgesetze wieder eingeführt und die ersten Schritte zur offenen Militärdiktatur in Ägypten gemacht. Das Militär erhielt „alle Vollmachten von Justizbeamten“, um während des Referendums Zivilisten verhaften und vor Gericht stellen zu können.

Die Arbeiterklasse reagierte auf die reaktionären Pläne der ägyptischen Bourgeoisie mit demonstrativer Enthaltung. Nur 33 Prozent der fünfundzwanzig Millionen Wahlberechtigten gaben ihre Stimme ab. Darin zeigt sich die wachsende Kluft zwischen dem politischen Establishment Ägyptens und der Arbeiterklasse.

In den Großstädten und unter den Arbeitern war die Zahl der Nein-Stimmen besonders hoch. Laut dem ägyptischen Staatsfernsehen stimmten in Kairo und Alexandria 68 bzw. 72 Prozent mit „Nein“.

Rida Mustafa (63) erklärte vor einem Wahlbüro im Kairoer Stadtteil Abdin: „Die Verfassung entspricht nicht den Interessen des Landes, und sie ist nicht gut für meine Kinder und Enkelkinder. Seit der Revolution sind die Nahrungsmittelpreise gestiegen. Das Projekt der Bruderschaft ist gescheitert. Mursi ist schlimmer als Mubarak.“

Der Verfassungsentwurf wurde außerdem unter anderem in den Gouvernements Gharbiyah und Daqahliya im Nildelta mehrheitlich abgelehnt, wo sich ein Großteil der ägyptischen Textilindustrie befindet.

Mit dem Referendum versucht die herrschende Klasse Ägyptens nach dem Sturz des ehemaligen Diktators Hosni Mubarak die autokratische Herrschaft wiederherzustellen. Die Verfassung bietet den rechtlichen Rahmen für eine Fortsetzung der Diktatur des ägyptischen Militärs auf einer rechten, ausdrücklich islamistischen politischen Grundlage und für ein verschärftes Vorgehen gegen die Arbeiterklasse.

Mursi und die Moslembrüder behalten Artikel 2 der alten Verfassung bei, der besagt, dass „die Grundlage der Rechtsprechung die Prinzipien des islamisches Rechtes [der Scharia]“ sind. Damit halten sie sich die Tür für eine weitere Islamisierung des Staates offen.

Das wichtigste Element der Verfassung ist die Festigung der Privilegien und der Macht des ägyptischen Militärs, das hauptsächlich von Washington mit jährlich 1,3 Milliarden Dollar finanziert wird.

Artikel 197 der Verfassung sieht die Bildung eines Nationalen Verteidigungsrates (NDC) unter Führung des Präsidenten vor. Weitere Mitglieder werden die wichtigsten Minister sein, der Chef des Geheimdienstes, der Stabschef der Streitkräfte und die Oberbefehlshaber der Teilstreitkräfte. Er ist „verantwortlich für Angelegenheiten, bei denen es um die Sicherheit des Landes und den Militärhaushalt geht.“

Der NDC unterliegt nicht der Kontrolle durch das Parlament. Er ist ein Staat im Staat mit praktisch unbegrenzten Vollmachten.

Laut Artikel 197 müssen künftig alle Gesetze, die das Militär betreffen, vorher mit dem NDC besprochen werden. Ihm können weitere nicht näher beschriebene Vollmachten erteilt werden. In der Verfassung heißt es außerdem, der Verteidigungsminister müsse Offizier sein und werde als Oberbefehlshaber der Streitkräfte agieren. Artikel 198 erlaubt Militärtribunale für Zivilisten wegen „Verbrechen, die die Streitkräfte schädigen.“

Die ägyptische Bourgeoisie und ihre Unterstützer in Washington wissen, dass ihre arbeiterfeindliche und pro-imperialistische Politik nur mit einer brutalen Diktatur durchgesetzt werden kann. In den letzten Wochen hat sich das Mursi-Regime Kredite vom Internationalen Währungsfonds und der Weltbank gesichert. Es bereitet weitere Privatisierungen in der ägyptischen Wirtschaft vor und hat die Subventionen für Benzin und Brot gekürzt, von denen Massen von armen Ägyptern abhängig sind. Mursi unterstützt auch die amerikanische Kriegstreiberei gegen Syrien.

In den letzten Wochen haben die islamistischen Kader der Moslembrüder, das Militär und die Polizei gemeinsam die neuen Massenproteste gegen Mursis Komplizenschaft mit Israel bei dessen Angriff auf Gaza unterdrückt. Diese Proteste richteten sich auch gegen sein Dekret vom 22. November, mit dem er sich diktatorische Vollmachten aneignet. Auf dem Tahrir-Platz, vor dem Präsidentenpalast in Kairo und in anderen großen Städten wurden mindestens zehn Demonstranten getötet, Hunderte verhaftet und mehr als eintausend verletzt.

Die Parteien in Ägypten waren über die Ergebnisse der ersten Runde des Referendums uneins. Mursis Freiheits- und Gerechtigkeitspartei (FJP), der politische Arm der Moslembrüder erklärte am Sonntag auf ihrer Webseite, 56,5 Prozent hätten für den Entwurf gestimmt und 43,5 Prozent dagegen.

Die säkulare Oppositionsparte Nationale Rettungsfront (NSF) behauptete, 66 Prozent der Ägypter hätten im ersten Wahlgang gegen den Entwurf gestimmt. Die NSF ist ein Bündnis aus mehreren liberalen, nasseristischen und pseudolinken Parteien unter Führung des ehemaligen UN-Funktionärs Mohammed El Baradei, des ehemaligen nasseristischen Präsidentschaftskandidaten Hamdin Sabahi und des ehemaligen Ministers unter Mubarak, Amr Mussa.

Die NSF warf der Regierung „beispiellose Wahlfälschung“ vor und erklärte, in den Gouvernements, in denen gewählt worden war, sei es zu 750 Verstößen gekommen.

Menschenrechtsgruppen forderten eine Wiederholung. Der Chef des Kairoer Institutes für Menschenrechtsstudien Bahi El-Din Hassan erklärte am Sonntag auf einer Pressekonferenz: „Trotz der Revolution haben wir ein Referendum wie unter Mubarak.“

Trotz ihrer Kritik ist die offizielle Opposition stark an den Versuchen der Islamisten und des Militärs beteiligt, die Verfassung durchzusetzen. Die NSF und pseudolinke Gruppen wie die Revolutionären Sozialisten (RS) versuchen, das Referendum als rechtmäßig darzustellen und rufen Arbeiter und Jugendliche auf, sich an diesem Betrug zu beteiligen.

Alle Parteien der bürgerlichen Opposition – liberale wie kleinbürgerliche „linke“ – fürchten eine unabhängige revolutionäre Bewegung der Arbeiterklasse noch mehr als die islamistische Fraktionen der herrschenden Elite Ägyptens, deren grundlegende Klasseninteressen sie teilen.

Ein aufschlussreicher Moment war, als Amr Mussa, ein Gründer und Anführer der NSF, sich vor einem Wahllokal in Neu-Kairo mit Mahdi Akef, dem ehemaligen Obersten Führer der Moslembrüder traf. Sie gaben sich die Hände und posierten für ein Foto, das auf der arabischen Webseite der ägyptischen Tageszeitung Al-Ahram erschien.

Kurze Zeit später wurde Khairat al-Shater, ein millionenschwerer Unternehmer und stellvertretender Oberster Führer der Moslembrüder, von Dutzenden wütenden Frauen davongejagt. Sie riefen „Unrechtmäßig!“ und „Hau ab, Shater!“

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