Die Insolvenz der Frankfurter Rundschau

Mitte November stellte die Geschäftsleitung der Frankfurter Rundschau (FR) Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens. Damit droht einer einflussreichen überregionalen Tageszeitung nach fast siebzigjährigem Erscheinen das Aus. Dass eine Zeitung, die sich selbst gern als sozialliberal oder linksliberal bezeichnete und den Gewerkschaften nahe stand, zu einem Zeitpunkt Konkurs anmeldet, an dem sich die sozialen und politischen Konflikte verschärfen, ist bemerkenswert und lehrreich.

Die Frankfurter Rundschau wurde unmittelbar nach Kriegsende gegründet. Sie war die erste Zeitung, die im August 1945 wenige Wochen nach dem Sieg der Alliierten im amerikanischen Sektor zugelassen wurde. Genau gesagt beauftragte der US-Kommandant für die Nachrichtenkontrolle, General Roger McClure, drei Sozialdemokraten und drei Mitglieder der Kommunistischen Partei sowie ein ehemaliges Mitglied der Zentrumspartei, das sich als antifaschistischen Katholiken bezeichnete, mit der Herausgeber der neuen Zeitung.

Die SPD unter Kurt Schumacher verfolgte einen scharf antikommunistischen Kurs, was zu heftigen Auseinandersetzungen in der Redaktion führte und zur Folge hatte, dass die sozialdemokratischen Lizenzträger bereits nach kurzer Zeit ihr Mandat niederlegten. Die Kommunistische Partei selbst vertrat ein kapitalistisches Programm. In ihrem Nachkriegs-Gründungsaufruf setzte sie sich für „private Unternehmerinitiative auf der Grundlage des Privateigentums“ ein und löste spontan entstandene antifaschistische Komitees auf. Dennoch nahm der Druck auf die KPD mit Beginn des Kalten Kriegs zu, zwei ihrer Mitglieder wurde die Lizenz entzogen. Auch der Katholik Wilhelm Karl Gerz verlor aufgrund seiner Diskussionsbereitschaft mit der KPD die Lizenz.

So kam es, dass bereits im Herbst 1947 in der Redaktion von den ursprünglichen Lizenzinhabern nur noch Arno Rudert übrig war. Wegen seiner Zusammenarbeit mit der amerikanischen Militärverwaltung war Rudert aus der KPD ausgeschlossen worden. Ein Jahr zuvor hatte General Roger McClure allerdings eine weitere FR-Lizenz an einen Mann vergeben, der in den folgenden zweieinhalb Jahrzehnten eine prägende Rolle in der Leitung der Zeitung spielen sollte: Karl Gerold.

Gerold war eine tatkräftige aber politisch sehr widersprüchliche Person. Aufgewachsen in einer sozialdemokratischen Arbeiterfamilie, absolvierte er eine Lehre als Schlosser und Werkzeugmacher und trat 1922 im Alter von 16 Jahren der Sozialistischen Arbeiterjugend bei, die sich gerade als Zusammenschluss der Jugendorganisationen von SPD und USPD gebildet hatte. In der USPD-Zeitung Freiheit und anderen antifaschistischen Publikationen schrieb er Artikel gegen das Aufkommen der Nazis und floh im Sommer 1933 in die Schweiz.

Im Schweizer Exil traf er mit Karl Retzlaw zusammen. Der zehn Jahre ältere Retzlaw hatte als Mitglied des Spartakusbundes an der Seite von Karl Liebknecht in der Novemberrevolution 1918-19 gekämpft. Anschließend war er in der Münchner Räterepublik Volkskommissar für Polizeiwesen und Münchner Polizeipräsident gewesen. Am Vorabend der Niederlage der Räterepublik vernichtete er sämtliche Polizeiakten und rettete damit viele Menschen vor Verfolgung und rechtem Terror.

Retzlaw und Gerold führten im Schweizer Exil intensive Gespräche über Leo Trotzki und die Linke Opposition. Im Herbst 1933 trat Retzlaw aus der KPD aus und schloss sich der IKD (Internationale Kommunisten Deutschland), der deutschen Sektion der trotzkistischen Opposition an. Gerold folgte diesem Schritt nicht und blieb im politischen Umfeld der SPD. Nach Kriegsende trafen sich beide bei der Frankfurter Rundschau wieder. Gerold war ab Mitte der Fünfzigerjahre alleiniger Herausgeber, Chefredakteur und Mehrheitsgesellschafter des Druck- und Verlagshauses. Retzlaw erhielt einen Platz als Verlagsangestellter und leitete viele Jahre den Betriebsrat.

Die Rundschau wurde zum Sprachrohr der sozialdemokratischen Opposition in der Adenauer-Ära. In vielen Artikel deckte sie die Rolle ehemaliger NSDAP-Mitglieder auf. Nazi-Eliten und braune Wendehälse tummelten sich auf allen Ebenen der Bundesrepublik, in Bundes- und Landespolitik ebenso wie in Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft.

CDU-Kanzler Adenauer hatte den Kommentator der Nürnberger Rassengesetze Hans Globke zum Chef des Bundeskanzleramts gemacht. Theodor Oberländer, der unter Hitler Ostforschung betrieb und als Referent des Oberkommandos der Wehrmacht fungierte, war Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte. Waldemar Kraft, NSDAP-Funktionär und SS-Hauptsturmführer, war ab 1953 Bundesminister für besondere Aufgaben, und SS-Hauptsturmführer Karl Maria Hettlage war ab 1959 Staatssekretär im Finanzministerium.

In den sechziger Jahre verschärfte sich der Klassenkampf in Deutschland. Schon im Winter 1956/57 hatte die IG-Metall in Schleswig-Holstein in einem sechzehnwöchigen Streik die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall durchgesetzt. Der Streik der Metallarbeiter in Baden-Württemberg 1963 ging noch weiter. Die Streikenden forderten nicht nur höhere Löhne und soziale Verbesserungen, sondern verabschiedeten auch Resolutionen gegen die geplanten Notstandsgesetze. Die Unternehmer reagierten, indem sie zum ersten Mal seit 1928 Hunderttausende Arbeiter aussperrten. Im Ruhrgebiet mobilisierten die Bergarbeiter gleichzeitig gegen das Zechensterben.

In dieser Situation sah sich die herrschende Klasse gezwungen, die SPD in die Regierung zu holen, um die Arbeiterklasse unter Kontrolle zu halten. Unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU und früheres NSDAP-Mitglied) übernahm Willy Brandt das Amt des Außenministers und Vizekanzlers. Die wichtigste Aufgabe der Großen Koalition bestand in der Verabschiedung der Notstandsgesetze. Dagegen entwickelte sich eine breite außerparlamentarische Opposition, die 1968 in die Studentenrevolte mündete. 1969 folgten die Septemberstreiks, eine Welle spontaner Arbeitsniederlegungen in der Stahl- und Metallindustrie, die der Kontrolle der Gewerkschaftsbürokratie zeitweise entglitten.

Nun trommelte die Frankfurter Rundschau für eine SPD-Regierung, vorzugsweise im Bündnis mit der FDP. Hans-Herrmann Flach, der spätere Generalsekretär der FDP, war seit 1962 als Redakteur der Frankfurter Rundschau tätig gewesen und vom Ressortleiter für Innenpolitik zum geschäftsführenden Mitglied der Redaktionsleitung aufgestiegen. Man könnte beinahe den Eindruck gewinnen, die sozialliberale Koalition, mit der Willy Brandt im Herbst 1969 Bundeskanzler wurde, sei in der FR-Redaktion vorbereitet worden.

Die FR wurde während der Brandt-Ära zu einem halbamtlichen Organ der Regierung. Brandts Aufruf „Mehr Demokratie wagen“ wurde ebenso bejubelt wie seine „Neue Ostpolitik“. Sein „Kniefall von Warschau“, mit dem er im Dezember 1970 an den Ghetto-Aufstand von 1943 erinnerte, wurde als Aussöhnung mit Polen gefeiert. Die Auflage der Rundschau erzielte Rekorde. Die Redaktion strotzte vor Selbstbewusstsein. Herausgeber Gerold hatte 1967 das Bundesverdienstkreuz erhalten. Als zwei Jahre später der Innenminister der faschistischen Regierung in Spanien die gleiche Auszeichnung erhielt, gab Gerold den Verdienstorden unter Protest zurück.

Auch ein anderes Ereignis ist aus jenen Tagen bekannt: Als iranische Studenten in Mainz aus Protest gegen die Unterdrückung in ihrer Heimat in den Hungerstreik traten, aber keinerlei Medienresonanz fanden, schickten sie eine Abordnung ins Frankfurter Rundschau-Haus. Karl Gerold persönlich stoppte daraufhin den Druck der Auflage und änderte die Schlagzeile. Die FR titelte nun: „Oppositionelle in Iran vom Tod bedroht – Hungerstreik der Landsleute in Mainz“. Danach, so wurde später berichtet, habe Gerold das Bonner Außenministerium angerufen und von den Beamten verlangt: „Gebt mir den Scheel!“ Vizekanzler und Außenminister Walter Scheel (FDP) habe dann dem Chefredakteur der Frankfurter Rundschau versichert, er werde sich persönlich um die Angelegenheit kümmern.

Doch während die Rundschau Willy Brandt zujubelte, bestand die Bedeutung seines Reformprogramms vor allem darin, die Jugend von der Straße zu holen und die bürgerlichen Verhältnisse zu stabilisieren. Die Zahl der Arbeitsplätze für Mittel- und Hochschulabsolventen an Universitäten, Forschungsinstituten, Krankenhäusern, Schulen, Sozialeinrichtungen und Verwaltung wurde stark vermehrt. Der Sozialstaat wurde ausgebaut und die Frankfurter Rundschau wurde zum Zentralorgan eines sozialreformistischen Milieus, das großen politischen Einfluss gewann.

Sozialpartnerschaft, Klassenzusammenarbeit und gesellschaftliche Harmonie standen im Mittelpunkt der Kommentare und gesellschaftlichen Analysen der Rundschau. Als die Brandtregierung 1972 den so genannten „Radikalenerlass“ verabschiedete und jeden, der die „freiheitliche demokratische Grundordnung“ in Zweifel zog, mit Berufsverbot belegte, ergänzte die Rundschau-Redaktion diese Politik durch eine ideologische Offensive, um antikapitalistische Zielsetzungen zu unterdrücken. Jeder Gegner des Marxismus konnte sich auf den Seiten der Rundschau verbreiten.

Schon in den Tagen der Studentenproteste waren die Aufsätze von Adorno, Horkheimer und Marcuse publiziert und diskutiert worden. Diese Theoretiker der „Frankfurter Schule“ hatten aus den Tragödien des 20. Jahrhunderts und den Niederlagen der Arbeiterklasse äußerst pessimistische Schlussfolgerungen gezogen. Sie warnten, dass jede Bewegung von unten, aus den Reihen der arbeitenden Bevölkerung, in rechte, faschistische Richtung tendiere.

Pablisten wie Ernest Mandel und Jakob Moneta feierten die Studenten als neue Träger des gesellschaftlichen Fortschritts und schrieben die Arbeiterklasse ab.

Sowjetische Dissidenten wie Alexander Solschenizyn und andere ideologische Wegbereiter der kapitalistischen Restauration wurden in der Rundschau-Redaktion ebenso gefeiert, wie politische Wirrköpfe wie Rudolf Bahro.

Als Ende der siebziger Jahre die Grünen entstanden und immer direkter die Arbeiterklasse für die gesellschaftlichen Probleme verantwortlich machten, klatschte die Rundschau Beifall. Den Aufstieg Joschka Fischers vom Frankfurter Häuserbesetzer und Straßenkämpfer zum hessischen Umweltminister bis hin zum Vizekanzler und Chefdiplomaten im Außenamt begleitete sie ebenso wohlwollend, wie die Karriere seines Freundes Daniel Cohn-Bendit, der heute eine aggressivere Rolle des deutschen Imperialismus in Europa und der Welt fordert.

Die Rechtsentwicklung der Rundschau-Redaktion stand in engem Zusammenhang mit der Verwandlung der Gewerkschaften, die in den sechziger und siebziger Jahren die Unternehmer unter Druck gesetzt hatten, um Verbesserungen für die Arbeiter zu erreichen, während sie heute die Beschäftigten unter Druck setzen und im Namen der Wettbewerbsfähigkeit Zugeständnisse in Form von Lohnsenkung und Sozialabbau für die Aktionäre und Kapitaleigner verlangen.

Dieser rechte politische Kurs stieß auf immer deutlicheren Widerstand unter den Lesern und Abonnenten. Als Götz Aly vor einigen Jahren in seiner regelmäßigen FR-Kolumne die absurde Behauptung wiederholte, das NS-Regime sei eine „Gefälligkeitsdiktatur“ gewesen, von der die deutsche Bevölkerung profitiert habe, und daraus die Ablehnung von sozialer Fürsorge und egalitären Prinzipien ableitete, hagelte es Protestbriefe und Abo-Kündigungen.

Schon 2003 geriet die Frankfurter Rundschau in die roten Zahlen und benötigte eine Landesbürgschaft, die ihr der damalige hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU) erteilte. Ein Jahr später, 2004, übernahm der SPD-Medienkonzern DDVG neunzig Prozent der Anteile. Weitere zwei Jahre später stieg der Kölner DuMont-Schauberg-Medienkonzern mit ein und erwarb die Mehrheitsbeteiligung.

Mit dem Einstieg des Kölner Medienkonzerns wechselte auch der Chefredakteur. Wolfgang Storz, der vor seiner Zeit bei der FR im Vorstand der IG Metall die Mitgliederzeitung metall geleitet hatte, wurde nun von Uwe Vorkötter abgelöst. Die neuen Eigentümer – der DuMont-Konzern besitzt mehrere Zeitungen und hält 25 Prozent der israelischen Haaretz-Gruppe – gaben die politische Linie vor. Die FR unterstützte nun regelmäßig die amerikanische und israelische Kriegspolitik.

In der Woche, als die Geschäftsleitung den Insolvenzantrag stellte, begann die jüngste israelische Bombardierung von Gaza. In der Nacht vom 16. auf den 17. November flog die israelische Armee mehrere Hundert Bombenangriffe auf das dicht besiedelte Palästinensergebiet. Auch israelische Kanonenboote feuerten auf Gaza. Am nächsten Morgen erschien die Frankfurter Rundschau mit der Schlagzeile: „Hamas beschießt Großstädte“. Die FR rechtfertigte auch die Drohnen-Morde der israelischen Armee und zitierte den Völkerrechtsjuristen Wolff Heintschel von Heinegg mit den Worten: „Den Hamas-Chef zu töten war legitim.“

Im Frühjahr hatte sich die FR bereits an der Hetzkampagne gegen Günter Grass beteiligt, der in einem Gedicht vor der israelischen Aufrüstung gegen den Iran warnte. Die Zeitung beschimpfte den 85-jährigen Literaturnobelpreisträger als „Gewährsmann für antisemitische Ressentiments“ und nannte sein Gedicht „völlig verunglückt“. Wochenlang stellte die Redaktion ihre Seiten den Grass-Kritikern zur Verfügung.

Dass die FR im vergangenen Jahr den Nato-Krieg gegen Libyen unterstützte und heute das militärische Vorgehen gegen Syrien rechtfertigt, wohl wissend, dass es sich dabei um den Auftakt eines weitaus größeren Kriegs gegen den Iran handelt, der den ganzen Nahen Osten in Brand stecken kann, überrascht nicht. Diese rechte Politik stößt bei vielen Lesern der FR auf Ablehnung und hat dazu geführt, dass sie weit mehr Leser und Abonnenten verlor als andere Zeitungen.

Das Ende der Frankfurter Rundschau kennzeichnet eine politische Zäsur. Die seichte Propaganda der Sozialpartnerschaft ist von der gesellschaftlichen Realität widerlegt worden. Angesichts der sozialen Krise und zunehmender Klassenkämpfe hat sich die Redaktion in ein Sprachrohr der sozialen und politischen Reaktion verwandelt. Doch dieses Geschäft betreiben andere Zeitungen bereits länger und besser.

Das Eiapopeia der Klassenharmonie ist ausgeträumt. Vorhang auf für einen unerschrockenen Blick auf den Klassencharakter der Gesellschaft und eine mutige internationale sozialistische Politik.

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