Der Rücktritt des Papstes und die Krise der katholischen Kirche

Weltweit äußerten sich herrschende Kreise überrascht und besorgt über den Rücktritt von Josef Ratzinger – Papst Benedikt XVI – als Oberhaupt der katholischen Kirche.

Der Grund für diese Reaktion unter anderem von US-Präsident Barack Obama, dem britischen Premierminister David Cameron, der deutschen Kanzlerin Angela Merkel und dem israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu ist nicht die Sorge um das persönliche Schicksal des 85-jährigen Ratzinger.

Was den Regierungen und Finanzeliten wirklich Sorge bereitet ist, dass sein Rücktritt ein weiteres Anzeichen für eine tiefe Krise der römisch-katholischen Kirche ist – eine der wichtigsten Bastionen der sozialen und politischen Reaktion der Welt.

In der ganzen Moderne war bisher noch kein amtierender Papst zurückgetreten. Der letzte Papst, der freiwillig abgedankt hatte, war Coelestin V., der im Jahr 1294 nach fünf Monaten sein Amt niedergelegt hatte, weil er sich ihm nicht gewachsen sah. Abgesehen von einigen wenigen, die zum Rücktritt gezwungen wurden, ist jeder Papst bis zu seinem Tod Oberhaupt der Kirche geblieben.

Ratzinger hatte am Montag erklärt, er sei durch seinen schlechten Gesundheitszustand „nicht mehr geeignet“, „in angemessener Weise den Petrusdienst auszuüben.”

Am Dienstag stellte der Sprecher des Vatikans jedoch klar, dass sich Benedikt XVI nicht aus Gesundheitsgründen zum Rücktritt entschlossen habe, sondern wegen dem „altersbedingten Nachlassen seiner Kräfte.“ Insgesamt sei sein Gesundheitszustand für einen fast 86-jährigen Menschen normal.

Der Bruder des Papstes, Georg Ratzinger erklärte in der deutschen Presse, seinem Bruder ginge es „für sein Alter [...] gut.“ Er verwies auf andere Erwägungen als die Gesundheit.

„Innerhalb der Kirche ist vieles passiert, was Schwierigkeiten gemacht hat, zum Beispiel die Beziehungen zur Piusbruderschaft, oder die Probleme mit dem Vatikan, wo der Kammerdiener Informationen weitergegeben hat.“

Die Piusbruderschaft ist eine ultrarechte katholische Glaubensgemeinschaft, die von dem französischen Erzbischof Marcel Francois Marie Joseph Lefebvre gegründet wurde. Sie stellt sich vehement gegen das Zweite Vatikanische Konzil (Vaticanum II) von 1960, in dem die Kirchenhierarchie versuchte, sich in gewissem Umfang an die politischen, sozialen und kulturellen Veränderungen nach dem Zweiten Weltkrieg anzupassen.

Lefebvre und die Piusbrüder vertraten die extremsten Formen politischer Reaktion. Sie verteidigten faschistische Regimes wie das französische Vichy-Regime, das Spanien Francos und das Portugal Salazars, und die Militärdiktaturen von Jorge Videla in Argentinien und Augusto Pinochet in Chile. In Frankreich unterstützten sie den ultrarechten Nationalisten Jean-Marie le Pen und sprachen sich gegen Zuwanderung aus muslimischen Ländern aus.

Ratzinger, der am Zweiten Vatikanischen Konzil teilgenommen und es anfangs unterstützt hatte, entwickelte sich zu einem entschlossenen Gegner von Stimmen innerhalb der Kirche, die, gestützt auf seine Entscheidungen, in Südamerika und anderen Staaten die „Befreiungstheologie“ propagierten. Er setzte sich dafür ein, die Piusbrüder wieder in die Kirche einzubinden und hob im Jahr 2009 die Exkommunikation von vier noch lebenden Bischöfen auf, die ihnen angehörten.

Mitten in dieser Annäherung bezeichnete der schweizerische Anführer der Piusbrüder, Bischof Bernard Fellay, die Juden öffentlich in einer Rede als „Feinde der Kirche.“

Das ernstere von den Problemen, die Ratzingers Bruder nannte, ist wohl der Vatileaks-Skandal. Angeblich hatte der Kammerdiener des Papstes Dokumente des Vatikans, Briefe und diplomatische Telegramme gestohlen und an italienische Journalisten weitergegeben.

Diese Dokumente wiesen auf Finanzkorruption in Verträgen des Vatikans und auf erbitterte Streitigkeiten über Maßnahmen hin, die unternommen werden sollten, um auf Ermittlungen gegen das Institut für Religiöse Werke – allgemein als die Vatikanbank bekannt – wegen Geldwäsche zu reagieren.

Unter den Dokumenten befand sich ein Brief, in dem vor einer Verschwörung gewarnt wurde, deren Ziel es war, Ratzinger zu ermorden. In dem Brief wurde Tarcisio Bertone erwähnt, der Kardinalstaatssekretär des Heiligen Stuhls und zweiter Mann im Vatikan. Teile der italienischen Medien bezeichneten den Brief als Beweis für einen erbitterten Machtkampf zwischen dem italienischen und dem deutsch-polnischen Flügel der Kirche, der die letzten 35 Jahre über das Pontifikat innehatte.

Bei seiner Verhandlung behauptete der Kammerdiener Paolo Gabriele, er habe die Dokumente weitergeleitet, um gegen „Übel und Korruption zu kämpfen.“ Im Oktober 2012 wurde er von einem italienischen Gericht wegen Diebstahls zu achtzehn Monaten Gefängnis verurteilt, der Papst hatte ihn nach zweieinhalb Monaten begnadigt.

Die Skandale rund um die Vatikanbank und die Finanzen der Kirche erinnern sehr an die äußerst kurze Amtszeit von Johannes-Paul I., der nur 33 Tage nach der Wahl zum Papst starb. Sein mysteriöser Tod wurde mit Ermittlungen über die Beziehungen zwischen der Vatikanbank und der Banco Ambrosiano in Verbindung gebracht, deren Hauptaktionärin sie war. Diese Bank war in illegale Finanzgeschäfte verwickelt und hatte Beziehungen zur Mafia und der faschistischen Geheimloge P2; im Jahr 1982 brach sie aufgrund eines milliardenschweren Finanzlochs zusammen.

Die andere große Krise, die über Ratzingers Kopf schwebte, waren die immer neuen Klagen wegen sexuellem Missbrauch von Menschen, die in den USA und Europa von Priestern sexuell belästigt und vergewaltigt wurden. Die Enthüllung des massenhaften Missbrauchs von Kindern und die systematische Vertuschung dieser Verbrechen durch die Kirchenhierarchie haben dazu beigetragen, Katholiken der Kirche zu entfremden. Gleichzeitig haben diese Entwicklungen die Finanzkrise des Vatikans verstärkt, vor allem durch die Entschädigungszahlungen der amerikanischen katholischen Kirche – einer der wichtigsten Finanzquellen des Vatikans.

Ratzinger musste sich nicht nur in seiner Zeit als Papst mit dem Missbrauchsskandal auseinandersetzen, er wurde schon von seinem Vorgänger Karol Wojtyla, dem „polnischen Papst“, mit der Klärung des Problems beauftragt. Damals war Ratzinger als Kardinal der Vorsitzende der Kongregation für Glaubensfragen, der Nachfolgeorganisation der Inquisition.

Zu dieser Zeit brachte ihm sein vehementer Einsatz gegen die „Befreiungstheologen“ und alle, die innerhalb der Kirche ihre Dogmen zu Fragen wie der Empfängnisverhütung, Abtreibung, Scheidung, Homosexualität, der Unfehlbarkeit des Papstes und des Zölibats für Priester in Frage stellten, die Spitznamen „Großinquisitor“ und „Panzerkardinal“ ein.

Er war nicht nur ein erbitterter Gegner des Marxismus, sondern aller Formen des philosophischen Materialismus und der Aufklärung. Er propagierte Rückständigkeit und Reaktion, vor allem in Europa, dem kulturellen Kernland, das er als für den Katholizismus verloren sah. Mitten in der Wirtschaftskrise predigte er die Abkehr vom „Materialismus“ und die Bereitschaft zu „Opfern.“

Bei einer seiner letzten Weltreisen besuchte er Mexiko und Kuba und setzte sich erfolgreich dafür ein, dass deren Regierungen Barrieren aufheben, die während der Revolutionen in diesen Ländern gegen die katholische Kirche aufgebaut worden waren – die historisch das Bollwerk der Unterdrückung und der Reaktion war. In Kuba, wo der Vatikan als Speerspitze für das Eindringen europäischen und vor allem spanischen Kapitals agierte, predigte Ratzinger die Wirksamkeit von „Marktreformen.“

In den Diskussionen über Ratzingers Nachfolger, der vom Kardinalskollegium gewählt wird, das größtenteils von Ratzinger zusammengestellt wurde, wurde vorgeschlagen, dass der nächste Papst ein Afrikaner sein könnte.

Egal ob es dazu kommt oder nicht, bereits der Vorschlag ist höchst politisch und hat ein offensichtliches Vorbild. Im Jahr 1978 ernannte die Kirche Wojtyla zum ersten polnischen Papst, kurz vor dem Beginn einer tiefen Krise, die zur Auflösung der Sowjetunion und der stalinistischen Bürokratien in Osteuropa führen sollte. Unter Wojtylas Pontifikat spielte die Kirche in diesem Prozess eine aktive Rolle. Vor allem hat sie dafür gesorgt, dass der Aufstand der polnischen Arbeiter, der sich unter dem Banner der Solidarnosc-Bewegung entwickelte, unter der Kontrolle der katholischen Kirche blieb und sich nicht in eine unabhängige sozialistische Richtung entwickelte.

Der Vorschlag, einen Afrikaner zum Nachfolger Ratzingers zu ernennen, ist eng mit der Umorientierung des amerikanischen und französischen Imperialismus und ihrer Nato-Verbündeten auf einen neuen „Wettlauf um Afrika“ verbunden, in dem sie, auf Kosten ihres Rivalen China, mit militärischen Mitteln die neokoloniale Kontrolle über die Märkte und Rohstoffe des Kontinents erringen wollen