Merkel erwägt Große Koalition

Fünf Wochen vor der Bundestagswahl bringen Politiker und Medien eine mögliche Neuauflage der Großen Koalition von SPD und CDU/CSU ins Gespräch, wie sie Deutschland von 2005 bis 2009 regiert hatte.

Mitte letzter Woche meldeten mehrere Medien: „Deutsche wollen wieder eine Große Koalition“. In der Umfrage, auf die sich diese Meldungen bezogen, hatten sich zwar nur 23 Prozent der Befragten für eine Große Koalition ausgesprochen. Da aber die Ergebnisse für eine Fortsetzung der derzeitigen schwarz-gelben Koalition (17%), für ein rot-grünes (17%), ein schwarz-grünes (16%) und ein rot-grünes Bündnis mit Unterstützung der Linkspartei (11%) niedriger lagen, wurde das Umfrageergebnis prompt als Mehrheitsvotum für eine Große Koalition ausgelegt.

Am Wochenende brachte dann auch Kanzlerin Merkel eine Große Koalition ins Spiel. „Ich habe einmal eine Große Koalition geführt, so dass ich völlig unglaubwürdig wäre, wenn ich sie ausschlösse“, sagte sie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Merkel fügte zwar hinzu, sie persönlich wolle Schwarz-Gelb fortsetzen. „Eine Große Koalition strebt nun wirklich niemand an.“

Doch ihre Aussage erreichte die beabsichtigte Wirkung. Die FDP protestierte laut, während sich aus der SPD zustimmende Stimmen meldeten.

Der Generalsekretär der hessischen SPD, Michael Roth, riet seiner Partei von „Ausschließeritis“ ab. „Wir können unseren Wählern nicht sagen, wenn Rot-Grün nicht klappt, gehen wir auf jeden Fall in die Opposition“, sagte er der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Der SPD-Bundestagsabgeordnete Hans-Peter Bartels sagte derselben Zeitung, man dürfe im Spektrum der demokratischen Parteien keine Koalition ausschließen.

SPD-Spitzenkandidat Peer Steinbrück bekräftige zwar seinen bisherigen Standpunkt, er stehe persönlich nicht für eine Große Koalition zur Verfügung. Sigmar Gabriel drückte sich dagegen weniger deutlich aus. Dem SPD-Vorsitzenden, der Steinbrück bei der Kanzlerkandidatur den Vortritt lassen musste, werden Ambitionen auf das Amt des Vizekanzlers und des Außenministers nachgesagt. Sie stünden ihm in einer Großen Koalition zu, falls sich Steinbrück zurückzieht.

Gabriel hat nur zwei Tage nach der Bundestagswahl einen kleinen Parteitag einberufen. Das ergibt nur einen Sinn, wenn die offiziell angestrebte Koalition der SPD mit den Grünen keine Mehrheit findet und die SPD sich für einen anderen Koalitionspartner entscheiden muss.

Hinter den Spekulationen über eine Große Koalition stecken nicht nur die in Wahlkampfzeiten üblichen taktischen Spielchen. Wachsende Kreise der herrschenden Elite sehen sie als beste Lösung für die Zeit nach der Bundestagswahl.

Viele Vertreter der herrschenden Klasse betrachten die letzte Große Koalition inzwischen – wie der Stern schreibt – als „Glücksfall“. Sie hatte die Agenda 2010 der Regierung Schröder fortgeführt, das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre erhöht, in der tiefsten internationalen Finanzkrise seit 70 Jahren hunderte Milliarden Euro an die Banken verschenkt und die brutalen Sparmaßnahmen eingeleitet, mit denen diese Gelder auf Kosten der Arbeiter Griechenlands, Portugals, Spaniens und auch Deutschlands seither wieder eingetrieben werden.

Nach der Bundestagswahl stehen ähnlich dramatische Einschnitte auf der Tagesordnung. Die Eurokrise ist in keiner Weise gelöst. Allein ein weiterer Schuldenschnitt für Griechenland, den zahlreiche Ökonomen einschließlich des Internationalen Währungsfonds für unausweichlich halten, würde den deutschen Haushalt mit einer zweistelligen Milliardensumme belasten.

Auch große europäische Länder stecken tief in der Krise. In Spanien fällt die Industrieproduktion seit 22 Monaten in Folge. Die Immobilenpreise sind seit 2007 um 70 Prozent gefallen und haben tiefe Löcher in die Bankenbilanzen gerissen. In Italien wächst die Haushaltsverschuldung; allein im Juli lag das Defizit bei 9 Milliarden Euro. Und auch Frankreich kommt nicht aus der Krise heraus.

Das Haftungsrisiko, das sich aus den Eurorettungsprogrammen für den Bundeshaushalt ergibt, beläuft sich inzwischen auf 86 Milliarden Euro. Diese offizielle Zahl von Finanzminister Schäuble gilt allerdings als geschönt. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung kommt unter Berufung auf Regierungskreise auf 122 Milliarden Euro. Die haushaltspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion der Grünen, Priska Hinz, nennt sogar eine Summe von 400 Milliarden Euro. Das ist weit mehr als der Bundeshaushalt eines Jahres von rund 310 Milliarden Euro.

Wird auch nur ein Bruchteil dieser Summe fällig, wird dies unweigerlich neue Sparprogramme nach sich ziehen. Die brutalen Einschnitte in Griechenland wurden von der herrschenden Elite stets als Pionierprojekt gesehen, um auch in allen anderen europäischen Ländern entsprechende Kürzungen vorzunehmen.

Eine Große Koalition hat aus Sicht der herrschenden Klasse den Vorteil, dass sie eine neue Runde der sozialen Konterrevolution durchführen kann, ohne durch Rücksicht auf Landtagswahlen, wechselnde parlamentarische Mehrheiten und die sich daraus ergebenden Spannungen gelähmt zu werden. Zusammen verfügen CDU/CSU und SPD über eine nahezu garantierte Mehrheit im Bundesrat, der derzeit von der SPD und den Grünen dominiert wird. Eine Große Koalition wäre eine Vorstufe zur Diktatur. Sie müsste nicht auf Wahlergebnisse Rücksicht nehmen, ohne Wahlen formal abzuschaffen.

Eine Große Koalition kann auch auf die Unterstützung der FDP, der Grünen und der Gewerkschaften zählen, die in allen entscheidenden Fragen – der Europapolitik, der Einhaltung der Schuldenbremse und den damit verbundenen Kürzungsmaßnahmen – mit Union und SPD übereinstimmen.

Dasselbe gilt für die Linkspartei. Sie hat der SPD und Grünen ihre Unterstützung bis hin zu einer Regierungsbeteiligung angeboten. Sie wird auch eine Große Koalition verteidigen und deren Angriffe auf die Arbeiterklasse mittragen.

Im Wahlkampf herrscht in diesen Fragen schon jetzt eine Große Koalition, an der sich alle Parteien beteiligen. Sämtliche finanzpolitischen Entscheidungen, auch auf europäischer Ebene, sind auf von der Regierung Merkel Eis gelegt und auf die Zeit nach der Bundestagswahl vertagt worden, damit sie im Wahlkampf nicht zum Thema werden.

Alle Bundestagsparteien beteiligen sich an dieser Verschwörung des Schweigens, weil sie entschlossen sind, die Krise auf die arbeitende Bevölkerung abzuwälzen. Das ist der Grund für die Inhaltslosigkeit des Wahlkampfs, für die „politische Windstille“ und „die große Flaute“ (Süddeutsche Zeitung), die zum Gegenstand zahlreicher Kommentare geworden ist.

Die Partei für Soziale Gleichheit ist die einzige Partei im Bundestagswahlkampf, die Arbeiter und Jugendliche vor kommenden Klassenkonfrontationen warnt und sie mit einem internationalen sozialistischen Programm darauf vorbereitet.

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