CDU und SPD bereiten Große Koalition der sozialen Angriffe vor

Das vorläufige Scheitern der Sondierungsgespräche zwischen CDU/CSU und Grünen lässt eine Große Koalition wahrscheinlicher werden. Im Mittelpunkt der Verhandlungen zwischen Union und SPD steht die Frage, wie die sozialen Angriffe auf die Arbeiterklasse verschärft werden können.

Schon die Entscheidung der Grünen, keine Koalitionsverhandlungen mit der CDU/CSU aufzunehmen, war nicht vorrangig von inhaltlichen Differenzen bestimmt. Nach dem zweiten Sondierungsgespräch, das sieben Stunden dauerte, überschlug sich die Grünen-Spitze in der Nacht zum Mittwoch mit Lob für die Unionsparteien.

Die scheidende Parteichefin Claudia Roth sprach von „schönen Gesprächen“, die „vom Verstehen der anderen Seite“ geprägt gewesen seien. Insbesondere in der Außenpolitik hätten die Gesprächspartner ähnliche Ansichten geäußert. Beim transatlantischen Verhältnis, bei der Beziehung zu Israel und bei der Stärkung der Vereinten Nationen habe es „viele Gemeinsamkeiten gegeben“, so Roth.

Auch CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe erklärte, es habe in den Gesprächen „keine als unüberwindlich einzuschätzenden Gegensätze gegeben“. CSU-Chef Horst Seehofer stimmte ihm zu und sagte: „Wir haben am Schluss noch einmal deutlich gemacht, wir hätten die Punkte, die noch im Raum standen, für überwindbar gehalten.“

Der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir bemerkte, dass die Absage an Koalitionsverhandlungen nicht endgültig sei. Das Verhältnis der beiden Parteien habe sich gewandelt. „Die Tür ist offen, die wird auch nicht mehr ohne weiteres zugehen“, sagte Özdemir.

Auch wenn die Grünen aus partei-taktischen Gründen entschieden haben, vorerst keine Koalitionsverhandlungen mit der CDU/CSU zu führen, sind die Signale eindeutig. Die Partei stimmt in den wesentlichen Fragen mit der Regierung überein und bietet sich als Einpeitscher für eine Große Koalition an. Gerade bei der Entwicklung einer aggressiveren Außenpolitik haben sich die Grünen bereits in der Vergangenheit als treibende Kraft erwiesen.

Auch die SPD hat schon vor den Sondierungsgesprächen deutlich gemacht, dass sie in den grundlegenden Fragen keine Differenzen mit der CDU/CSU hat. Als Partei der Agenda 2010 steht sie wie keine andere für Lohnsenkungen, Sozialkürzungen und Steuersenkungen für die Reichen. Diese Erfahrungen sind jetzt gefragt.

Laut einer kürzlich veröffentlichten Studie des Internationalen Währungsfonds (IWF) belastet die Bankenrettung von 2008/2009 den deutschen Haushalt mit bis zu elf Prozent der Wirtschaftsleistung – ein Wert, der nur von Griechenland und Irland übertroffen wird. Hinzu kommen Bürgschaften der Bundesregierung über hunderte Milliarden Euro für den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und seine Vorläufer, die etwa bei einem Schuldenschnitt für Griechenland zumindest teilweise fällig würden.

Die neue Koalition soll diese Summen durch die Kürzung öffentlicher Ausgaben wieder eintreiben. Die Steuererhöhungen für Reiche – Spitzensteuersatz, Vermögenssteuer und Erbschaftssteuer –, die die SPD im Wahlkampf noch angekündigt hatte, und alles, was auch nur ansatzweise nach einer stärkeren Belastung der Vermögenden riecht, sind weitgehend vom Tisch. Die Union hat deutlich gemacht, dass sie in dieser Frage keine Kompromisse akzeptiert, und SPD-Chef Sigmar Gabriel hat dies mit den Worten, Steuererhöhungen seien „kein Selbstzweck“, akzeptiert.

Über den genauen Inhalt der Sondierungsgespräche gelangen nur Bruchstücke an die Öffentlichkeit. Medien berichten von einer weitgehenden Annäherung in zentralen politischen Fragen, aber auch über Konflikte zwischen den Verhandlungspartnern. Insbesondere soll NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft mit Vertretern der bayrischen CSU aneinander geraten sein.

Bei diesen Konflikten spielen Auseinandersetzungen über spezifische Verteilungsfragen eine Rolle. So zahlt Bayern in den 2019 auslaufenden Länderfinanzausgleich ein, während NRW Geld daraus bezieht. Die eigentliche Auseinandersetzung dreht sich aber um die Frage, wie eine neue Runde sozialer Angriffe – die SPD und Union für notwendig erachten – am effektivsten gegen den Widerstand der Bevölkerung durchgesetzt werden kann.

Dabei könnte die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns als wichtiges Instrument dienen. Die CDU hatte einen flächendeckenden Mindestlohn im Wahlkampf noch abgelehnt und stattdessen branchen- und regionenspezifische Mindestlöhne befürwortet. Die SPD war hingegen mit der Forderung nach einem einheitlichen Mindestlohn von 8,50 Euro angetreten, der anschließend von einer Kommission aus Gewerkschaften und Unternehmen reguliert werden soll.

Die Union scheint sich in dieser Frage in Richtung SPD zu bewegen. So sprach sich der Vize-Chef der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Michael Fuchs, am Montag für einen einheitlichen Mindestlohn aus. Er schlug vor, dessen Höhe zunächst von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden aushandeln zu lassen und später für allgemein verbindlich zu erklären. Angesichts der Lohndrückerei der Gewerkschaften würde in diesem Szenario höchstwahrscheinlich ein noch deutlich niedrigerer Mindestlohn herauskommen.

Auch in den Medien mehren sich die Stimmen für einen Mindestlohn. Im Leitartikel der Süddeutschen Zeitung vom Mittwoch fordert Thomas Öchsner die Verhandlungspartner zu einem Kompromiss auf. Ein Mindestlohn müsse eingeführt und von einer Kommission reguliert werden, dürfe aber nicht bei 8,50 Euro starten, sondern müsse niedriger angesetzt werden. Orientierungspunkt müsse das britische Modell sein, bei dem Jugendliche und auch ältere Arbeiter in Beschäftigungsmaßnahmen von der Regelung ausgenommen sind.

Ein solcher Mindestlohn von sechs, sieben oder acht Euro hätte nichts Fortschrittliches. Er würde den Niedriglohnbereich nicht verringern, sondern ausweiten. Selbst die Bundesagentur für Arbeit wertet Stundenlöhne unter 9,54 Euro als Niedriglohn. Eine gesetzliche Lohnuntergrenze würde schnell zum neuen Maßstab werden und auch höhere Tariflöhne nach unten ziehen.

Vielen Niedriglohnarbeitern – den etwa 1,4 Millionen Menschen, die neben ihrer regulären Arbeit auf Arbeitslosengeld II angewiesen sind – würde ein solcher Niedriglohn kein höheres Einkommen bringen. Lediglich die Jobcenter würden entlastet.

Einer der Architekten der Agenda 2010, das SPD-Mitglied Bert Rürup, erklärt diesen Effekt zum eigentlichen Zweck eines Mindestlohns. In einem Beitrag für die Wochenzeitung Die Zeit bezeichnet er das Arbeitslosengeld II als „Kombilohnmodell“, mit dem der Staat niedrige Löhne in der freien Wirtschaft bezuschusst. Dieses könne aber nur in Verbindung mit einem Mindestlohn funktionieren, weil Firmen sonst einen Anreiz hätten, die Löhne immer weiter zu senken und die Ämter entsprechend finanziell belasten.

Der Mindestlohn ist damit die Voraussetzung dafür, das Kombilohnmodell und damit den Niedriglohnsektor voll zur Entfaltung zu bringen. Er wäre ein wichtiges Werkzeug, um weitere soziale Angriffe durchzusetzen. Deswegen überschrieb Rürup seinen Gastbeitrag mit dem Titel: „Vollendet die Agenda 2010!“

Bei der Verabschiedung eines solchen Pseudo-Mindestlohns, der das Lohnniveau senkt und die staatliche Förderung von Niedriglohnarbeit sicherstellt, kann sich eine mögliche Große Koalition auf die loyale Opposition der Grünen und der Linkspartei verlassen. Die Grünen hatten sich schon im Wahlkampf für einen Mindestlohn ausgesprochen, der von einer Kommission festgelegt werden und 7,50 Euro nicht unterschreiten soll.

Die Linkspartei hatte im Wahlkampf mit einem Mindestlohn von 10 Euro geworben. Gleich nach den Wahlen bot sie SPD und Grünen aber an, im neuen Bundestag noch vor der Wahl der Regierung einen deutlich niedrigeren Mindestlohn zu verabschieden. Die dafür notwendige Mehrheit haben SPD, Grüne und Linkspartei. Wie Öchsner und Rürup nannte die Partei-Vorsitzende Katja Kipping das britische Modell als Vorbild. In Großbritannien schlägt eine Kommission aus drei Gewerkschaftern, drei Unternehmervertretern und drei Wissenschaftlern die Höhe des Mindestlohns vor, der dann von der Regierung festgelegt wird. Derzeitig liegt der Mindestlohn bei etwa 7,50 Euro.

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