Regierungsbildung in Hessen bleibt offen

Vier Wochen nach der Landtagswahl in Hessen, die gleichzeitig mit der Bundestagswahl am 22. September stattfand, ist bei der Regierungsbildung noch alles offen. Derzeit laufen Koalitionsgespräche zwischen CDU und SPD, zwischen CDU und Grünen sowie zwischen SPD, Grünen und Linkspartei.

Lediglich die FDP ist nicht an den Verhandlungen beteiligt. Sie ist zwar äußerst knapp in den neuen Landtag zurückgekehrt, mit 5 Prozent aber zu schwach, um der CDU oder der SPD zur Mehrheit zu verhelfen. Eine Ampelkoalition mit der SPD und den Grünen hat sie ausgeschlossen.

Waren bisher die Beziehungen zwischen den politischen Lagern in Hessen von heftiger persönlicher Abneigung geprägt, überhäufen sich die möglichen Koalitionspartner nun mit Freundlichkeiten.

CDU und SPD erklärten nach zwei Verhandlungsrunden, man sei in einigen Sachfragen „erheblich weitergekommen“. Der CDU-Vorsitzende und amtierende Ministerpräsident Volker Bouffier befand, es gebe mehr Verbindendes als Trennendes.

Auch die Grünen überhäufte Bouffier mit Komplimenten. Nach zwei Zusammentreffen sprach er von inhaltlich und atmosphärisch „sehr guten Gesprächen“ und duzte den Grünen-Vorsitzenden Tarek al-Wazir – aus Versehen, wie es hinterher hieß. Al-Wazir revanchierte sich mit den Worten, er sehe „keine unüberwindlichen Hürden“, die der Aufnahme von Koalitionsverhandlungen oder einer gemeinsamen Regierung mit der CDU im Wege stünden.

Ende des Monats will die CDU sowohl mit der SPD wie mit den Grünen jeweils ein drittes Sondierungsgespräch führen. Erst danach will Bouffier entscheiden, mit wem er über eine Koalition verhandelt.

SPD und Grüne bleiben aber auch im Gespräch mit der Linkspartei. Auch hier soll eine weitere Sondierungsrunde stattfinden, nachdem die erste nach Angabe der Teilnehmer „freundlich und konstruktiv“ verlaufen ist.

Ein Parteitag der Linkspartei bekannte sich am vergangenen Wochenende uneingeschränkt zu einem Regierungsbündnis mit SPD und Grünen. Im Leitantrag, den der Parteitag verabschiedete, heißt es: „An der LINKEN wird dies [die Abwahl Bouffiers] nicht scheitern. Wir sagen allen: Auf die LINKE ist Verlass!“

Über die Zusammensetzung der künftigen hessischen Landesregierung werden allerdings weder die atmosphärischen Verhältnisse in Wiesbaden noch die Probleme der hessischen Landespolitik entscheiden. Die Würfel fallen in Berlin. Alle hessischen Politiker unterhalten engen Kontakt zu ihrer jeweiligen Bundespartei. Bouffier ist sogar Mitglied von Angela Merkels Sondierungsteam für die neue Bundesregierung.

Diese steht vor der Aufgabe, umfangreiche Haushaltskürzungen vorzunehmen und massiv soziale Ausgaben zu streichen. Vom Standpunkt der herrschenden Klasse ist dies angesichts der anhaltenden Eurokrise und der in Kraft tretenden Schuldenbremse, die vor allem die Länder trifft, unausweichlich. Eine höhere Besteuerung der Reichen fordert inzwischen keine Partei mehr.

Die Länderregierungen spielen eine zentrale Rolle dabei, diese Angriffe auf die arbeitende Bevölkerung umzusetzen. Die Zusammensetzung der hessischen Regierung muss deshalb nicht zwangsläufig identisch mit der der künftigen Bundesregierung sein. Regiert in Berlin eine große Koalition von Union und SPD, wie sich das gegenwärtig abzeichnet, wäre eine große Koalition in Wiesbaden zwar im Bundesrat eine wichtige Stütze für die Bundesregierung. Es gibt aber auch Überlegungen, sich in Hessen Optionen für den Fall offen zu halten, dass eine große Koalition im Bund scheitert.

Sowohl die CDU wie die Grünen haben ein Interesse daran, neben der SPD auch andere Koalitionsmöglichkeiten zu haben. In beiden Parteien drängt deshalb ein Flügel darauf, in Wiesbaden einen Präzedenzfall für ein schwarz-grünes Bündnis zu schaffen. Bisher gab es ein solches Bündnis nur in Hamburg, wo es aber vor Ablauf der Legislaturperiode scheiterte.

Inhaltlich steht einem schwarz-grünen Bündnis nichts entgegen. Die Grünen drängen, mehr noch als die CDU, auf die strikte Einhaltung der Schuldenbremse. Bei Fragen der Sozialpolitik und der Bildung seien die Unterschiede zwischen Grünen und CDU nicht groß, bestätigte Grünenchef al-Wazir nach dem zweiten Sondierungsgespräch.

Das ist der Grund, weshalb Bouffier und al-Wazir, die sich bisher persönlich nicht ausstehen konnten, plötzlich dickste Freunde sind. Sie erinnern an ein anderes hessisches Paar, an Ministerpräsident Holger Börner (SPD) und den Grünen Joschka Fischer. Der ehemalige Bauarbeiter Börner hatte gedroht, die Grünen mit der Dachlatte zu verprügeln, bevor er Fischer 1985 in seine Regierung holte und damit einen bundesweiten Präzedenzfall schuf.

Eine wichtige Rolle spielt bei diesen taktischen Überlegungen die Linkspartei. Sie wird gebraucht, um den unvermeidlichen Widerstand gegen die bevorstehenden Kürzungen in Schach zu halten. Die Auseinandersetzungen drehen sich darum, ob sie das besser innerhalb oder außerhalb der Regierung kann.

Während im Bund die meisten eine Regierungsbeteiligung der Linkspartei für verfrüht halten, ist es durchaus möglich, dass sie in Hessen in die Regierung einbezogen wird. Die Linkspartei selbst hat jedenfalls unmissverständlich klar gemacht, dass sie dafür zur Verfügung steht.

Sie hatte sich schon vor fünf Jahren mit SPD und Grünen auf die Tolerierung einer rot-grünen Minderheitsregierung geeinigt, was dann an Heckenschüssen aus den Reihen der SPD scheiterte. Nun will sie das damalige Programm zur Gesprächsgrundlage machen, um erneut ein Regierungsbündnis mit SPD und Grünen zu schließen.

Sie ist vorbehaltlos bereit, die Angriffe auf die Arbeiter mit zu tragen, wenn sie an der Regierung beteiligt wird. Die Spitzenkandidatin der Linken in Hessen, Janine Wissler, versicherte in einem Interview mit der taz, ihre Partei werde die Schuldenbremse akzeptieren. Damit hat sie ein großes Hindernis aus dem Weg geräumt, das der Zusammenarbeit mit SPD und Grünen im Weg stand.

Auf dem Landesparteitag vom vergangenen Wochenende ließ die Linke dann keinen Zweifel an ihrer Bereitschaft aufkommen, die rechte Politik von SPD und Grünen zu unterstützen. Anfangs versicherte der Landesvorsitzende Ulrich Wilken zwar demagogisch, die Linke werde „kein Jota von ihrem Wahlprogramm abweichen“. Doch im nächsten Satz drängte er die Delegierten, die Messlatte für eine Zusammenarbeit mit der SPD und den Grünen nicht zu hoch zu legen. Die offene Tür für einen Politikwechsel in Wiesbaden voreilig zu schließen, wäre fatal, so Wilken.

Die Schuldenbremse wird in der Resolution des Parteitags nicht mehr erwähnt. Die sozialen Versprechen, mit denen die Linkspartei im Wahlkampf auf Stimmenfang ging, sind Makulatur. Im Beschluss des Parteitags heißt es dazu ausdrücklich, wenn die Steuerkürzungen auf Bundesebene nicht zurückgenommen würden, sei „ein Politikwechsel in Hessen aus finanziellen Gründen schwer möglich“. Den „unverrückbaren Positionen“ (Wissler) – kein Sozialabbau, kein Stellenabbau im öffentlichen Dienst, keine Privatisierungen – ist damit nach eigener Aussage der Boden entzogen.

Trotzdem – oder gerade deshalb – ist die Linkspartei fest entschlossen, eine Koalition oder eine Duldung mit SPD und Grünen zu vereinbaren. „Wir sind bereit!“ verkündete Wilken auf dem Parteitag. Die Partei verweist unermüdlich darauf, dass sie schon 2008 bei den Vorbereitungen auf eine rot-grüne Minderheitsregierung der „verlässlichste Partner“ gewesen sei.

Auch die herrschende Elite anerkennt die Linkspartei inzwischen als verlässliche Größe im bürgerlichen Parteiensystem. Die Süddeutsche Zeitung bemerkte in einem Kommentar vom 8. Oktober: „Hessens Linkspartei ist weitgehend normal geworden. Unnormal ist bis heute der Umgang mit ihr.“ Ihre Forderungen seien „naturgemäß oft radikal“, doch sie enthielten „nichts Teuflisches“, sondern könnten „Ausgangspunkt für normale Verhandlungen zwischen drei Parteien sein, deren Schnittmenge groß ist“. Bei den Grünen sei dies ähnlich gewesen, doch „ihre Politik beeinflusste das kaum, sobald sie an der Regierung waren“.

Bezeichnenderweise geben in der hessischen Linken Vertreter einer Gruppe den Ton an, die einst vorgab, besonders weit links zu stehen. Die Fraktionsvorsitzende im hessischen Landtag, Janine Wissler ist Mitglied von Marx21, das aus der staatskapitalistischen Gruppe „Linksruck“ hervorgegangen ist. Auch Christine Buchholz, die die Linkspartei im Verteidigungsausschuss des Bundestags vertritt, ist Mitglied dieser Gruppe.

Der bereits zitierte Kommentar der Süddeutschen überschüttet Wissler mir Lob und attestiert ihr „Charme und Klarheit“. Auf diese Weise anerkennt die herrschende Elite, dass nicht nur die Linkspartei eine „normale“ bürgerliche Partei, sondern auch die Vertreter ihres pseudolinken Flügels wie Buchholz und Wissler rechte bürgerliche Politiker sind.

Loading