SPD-Parteikonvent beschließt mit großer Mehrheit Koalitionsverhandlungen mit der Union

Am vergangenen Sonntag stimmte der so genannte „kleine Parteitag“ der SPD, das höchste Beschlussgremium zwischen den Parteitagen, für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen mit den Unionsparteien CDU/CSU. Mit 196 Ja-Stimmen bei 31 Gegenstimmen und zwei Enthaltungen viel das Votum der Delegierten sehr viel eindeutiger aus, als erwartet worden war. Bereits am morgigen Mittwoch sollen die Koalitionsverhandlungen beginnen.

Die Kritik einiger SPD-Funktionäre, die in den vergangenen Wochen vor einer Regierungsbeteiligung als Juniorpartner der Union gewarnt hatten, war auf dem Parteitag nahezu völlig verstummt. Eine kleine Gruppe von Demonstranten verteilte vor der Parteizentrale Handzettel und warb für eine Koalition mit den Grünen und der Linkspartei. Doch im Konferenzsaal des Willy-Brandt-Hauses herrschte große Einigkeit.

Dafür sorgte unter anderem Hannelore Kraft, die sich nach der Wahl mehrfach gegen eine Große Koalition ausgesprochen hatte. In ihrem Redebeitrag am Sonntag trat die Ministerpräsidentin von Nordrhein-Westfalen offensiv für Koalitionsverhandlungen ein. Die SPD stehe in der politischen Verantwortung und dürfe die künftige Gestaltung der Politik nicht der Union alleine überlassen. Die Sozialdemokraten müssten zumindest versuchen, Verbesserungen für Geringverdiener und Prekärbeschäftigte zu erreichen, rief sie unter dem Beifall der Delegierten.

Derartige Phrasen sind reine Augenwischerei, um den wahren Charakter einer Großen Koalition zu verbergen. Auch der Forderungskatalog, der als Grundlage der Koalitionsverhandlungen beschlossen wurde, dient dazu, das kommende Regierungsprogramm aus Sozialabbau und Lohnsenkung zu beschönigen.

Die Parteiführung hatte eine Liste mit zehn „unverzichtbaren“ Forderungen für eine Koalition mit der Union an die Delegierten verteilt. Darin heißt es: „Im Zentrum der zehn Zielsetzungen steht die Arbeitsmarktpolitik und die Durchsetzung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns in Höhe von 8,50 Euro pro Stunde.“

Zudem müssten „bessere Maßnahmen gegen Altersarmut“, „flexiblere Übergänge in die Rente“ und eine Anhebung des Pflegeversicherungsbeitrags erreicht werden. Im Punkt „Gleichstellungspolitik“ fordert die SPD „verbindliche Regelungen für mehr Frauen in Führungspositionen“. Außerdem fordert das Papier Investitionen in Infrastruktur und Bildung, die Einführung einer Finanztransaktionsteuer sowie eine „Wachstumsstrategie für Europa“.

Als Partei der Agenda 2010 ist die SPD für die heftigsten sozialen Angriffe seit dem Zweiten Weltkrieg verantwortlich. Im Wahlkampf hatte sie noch versucht, ihr unsoziales Programm hinter einigen sozialkritischen Phrasen zu verbergen. So forderte sie Steuererhöhung für Vermögende und die Abschaffung des von der CDU eingeführten Betreuungsgelds.

Diese Forderungen hat die SPD nun ausdrücklich fallen lassen, um der Union ihre unbedingte Bereitschaft zur Zusammenarbeit zu signalisieren. Im Gegenzug unterstützen Teile von CDU/CSU die sozialdemokratische Forderung nach einem einheitlichen Mindestlohn.

Thüringens CDU-Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht erklärte in einem Interview mit Spiegel-Online: „Ich will, wie die SPD, einen einheitlichen Mindestlohn für ganz Deutschland.“ Nur sollte ihrer Meinung nach die Höhe eines Mindestlohns nicht vom Gesetzgeber, sondern von einer unabhängigen Kommission festgesetzt werden.

Die Forderung nach einem einheitlichen Mindestlohn spielt in mehrerer Hinsicht eine Schlüsselrolle in der Vorbereitung einer Großen Koalition der sozialen Angriffe. Erstens würde der Lebensstandard von Niedrigverdienern durch die Einführung eines geringen Mindestlohns nicht erhöht, sondern vor allem die Sozialkassen entlastet, die niedrige Löhne bisher aufstockten. Allein hier rechnen Experten mit Einsparungen von 4 Milliarden Euro. Der Mindestlohn würde außerdem zum Standard, der das allgemeine Lohnniveau nach unten drückt und schrittweise seinem Niveau angleicht. Zweitens dient er dazu, die Gewerkschaften, die Linkspartei und deren pseudolinke Anhänger in eine Große Koalition der sozialen Angriffe einzubinden.

Auch die Grünen unterstützen ein Bündnis aller Parteien, das sich gegen die große Mehrheit der Bevölkerung richtet. Sie führten am vergangenen Wochenende zeitgleich mit der SPD einen Parteitag durch. Dort wechselten sie fast die gesamte Führung aus, mit dem erklärten Ziel, zukünftig auch für Koalitionen mit der CDU bereitzustehen. Die neunstündigen Sondierungsgespräche mit der CDU bewerteten sie trotz ihres Scheiterns als großen Erfolg. Auf beiden Seiten habe während der Gespräche erstaunlich viel Übereinstimmung bestanden, erklärte Cem Özdemir, der als einziger in seinem Amt als Parteichef bestätigt wurde.

Noch wichtiger als die zehn „unverzichtbaren“ Forderungen der SPD sind in den kommenden Koalitionsverhandlungen die Fragen, über die nicht öffentlich gesprochen wird.

Dazu gehören demokratische Rechte. Der Datenschutz war auf dem kleinen Parteitag der SPD kein Thema, trotz der Enthüllungen von Edward Snowden über die umfassende Ausspähung von Millionen Bürgern durch die amerikanische NSA und den deutschen BND. Auch von einer Abschaffung oder Reform der Geheimdienste war trotz der offensichtlichen Verwicklung des Verfassungsschutzes in die Mordserie des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ nicht mehr die Rede. Angesichts der geplanten sozialen Angriffe stimmen Union und SPD überein, dass die bereits bestehenden autoritären Herrschaftsstrukturen erhalten und weiter ausgebaut werden müssen.

Auch ein besserer Schutz von Flüchtlingen findet sich nicht im Forderungskatalog der SPD, obwohl einige SPD-Politiker noch vor zwei Wochen nach dem Tod von 360 Flüchtlingen in Lampedusa Krokodilstränen vergossen hatten.

Ein weiteres Thema, über das in der Öffentlichkeit geschwiegen wird, ist die zukünftige Außenpolitik, obwohl hier vielleicht die größten Änderungen stattfinden. Union und SPD sind sich einig, dass Deutschland in Zukunft sowohl in Europa als auf der Welt eine aggressivere Rolle als Großmacht spielen muss, ziehen es aber vor, darüber nicht öffentlich zu sprechen.

Die Medien und halboffizielle Think-Tanks drängen dagegen seit längerem offen auf eine Wiederbelebung deutscher Großmachtpolitik. So legte die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) vergangene Woche eine ausführliche Studie zum Thema „Neue Macht, neue Verantwortung“ vor. Dieser Text, der gemeinsam mit dem German Marshall Fund of the United States (GMF, Washington) erstellt wurde, fordert, Deutschland müsse in Europa und international mehr Verantwortung übernehmen.

In einem Bericht über diese Studie auf dem Nachrichtenportal Globales Europa schreibt der 85-jährige Journalist Hermann Bohle: „Deutscher Verantwortungswille kann sich nur europäisch entfalten. Schon Bismarck beklagte (am 1. März 1870 vor dem Norddeutschen Reichstag), ‚die Scheu vor der Verantwortung‘ sei ‚eine Krankheit unserer Zeit‘. Daran hat sich bis 2013 in deutschen Landen wenig geändert, wird es nun aber müssen.“

Der Bezug auf den 1. März ist bezeichnend. Nur vier Monate später hatte Bismarck bekanntlich „Verantwortung“ übernommen, indem er den deutsch-französischen Krieg provozierte, mit dem Deutschlands Rolle als Großmacht begann.

Angesichts des „amerikanischen Niedergangs“, der mit der wachsenden US-Verschuldung und zunehmenden Haushaltskrise immer schlimmere Ausmaße annehme, seien die USA nur noch bedingt fähig und willens, „die internationale Ordnung als globaler Hegemon zu garantieren“, schreibt Bohle. Daher müsse die kommende Berliner Koalition mehr Verantwortung in der Weltpolitik übernehmen.

Mit der Entscheidung des Parteikonvents für eine Große Koalition tritt die SPD zielstrebig in die Tradition der deutschen Großmachtpolitik, in der sie seit ihrer Zustimmung zu den Kriegskrediten des Kaisers zu Beginn des Ersten Weltkriegs vor gut hundert Jahren eine zentrale und verheerende Rolle spielte.

So kommt es, dass die reaktionären Medien jubeln. Am Montag kommentierte die Welt: „Diese Sozialdemokraten können stolz auf sich sein.“ Die SPD, „die als Schutzmacht der Armen, Aufstiegswilligen und Bildungshungrigen begann, ist da für das Land, wenn es sie braucht“. Sie habe einmal mehr das Land vor die Partei gestellt. „Deutschland verdankt der 150-jährigen Sozialdemokratie viel.“

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