Neue Schädelfunde könnten Blick auf frühe Evolution des Menschen revolutionieren

Mitte Oktober machten Wissenschaftler die Entdeckung weiterer frühmenschlicher Schädel bekannt. Der Fund stammt aus Dmanisi in Georgien und legt nahe, dass eine größere Variationsbreite innerhalb der Populationen der menschlichen Vorfahren herrschte als bislang angenommen. Der Schädel, der mit einem zuvor aufgefunden Kiefer zusammenpasst, wurde „Schädel 5“ getauft. Er gehört einem männlichen Individuum, das ein kleineres Gehirn aufweist als alle vier vorhergehenden Funde aus Dmanisi.

Dem Archäologenteam aus Georgien unter Leitung von David Lordkipanidze gesellten sich neben einer Schweizer Forschergruppe, darunter Christoph Zollikofer, der Paläontologe Yoel Rak in Israel und Philip Rightmire in Harvard zu. Sie veröffentlichten ihre Funde im Journal Science.

Die Wissenschaftler schließen, dass die fünf Individuen aus Dmanisi vor über 1,8 Millionen Jahren jeweils im Abstand von mehreren hundert Jahren starben und zu der menschlichen Vorfahrenspezies Homo erectus gehören. Die reiche Fülle von Knochenfunden im vergangenen Jahrzehnt in Dmanisi versetzte die Forscher in helle Begeisterung, denn die Fundstücke, welche außergewöhnlich gut erhalten sind, zeigen auf, dass Homo erectus sich bereits sehr kurz nach seinem ersten Auftreten in Afrika in Eurasien ausbreitete.

Homo erectus ist gekennzeichnet durch eine große, menschenähnliche Körperstatur, den Gebrauch von Steinwerkzeugen und durch ein relativ großes Gehirn im Vergleich zu früheren Spezies. Schädel 5 hat eine geschätzte Körpergröße, die vergleichbar mit kleineren Menschen ist, doch mit 546 Kubikzentimetern (ccm) ist sein Gehirn viel kleiner als das moderner Menschen, deren Gehirne typischerweise ein Volumen von 1200-1600 ccm haben. Tatsächlich ist Schädel 5 nur etwas größer als die zu den Hominini zählenden Australopithecinen wie Lucy oder Australopithecus sediba, der kürzlich in Südafrika gefunden wurde. Der größte in Dmanisi gefundene Schädel misst 730 ccm und ist mit anderen Exemplaren des Homo erectus vergleichbar.

“Der Dmanisi-Fundort ist so bedeutend,” schrieb Ko-Autor Philip Rightmire der World Socialist Web Site, “weil er erstmals Einsicht in die Paläobiologie einer frühen Homo-Population erlaubt.“ Da andere Relikte frühmenschlicher Vorfahren meist in Sedimenten aufgefunden werden, die zeitlich hunderttausende Jahre voneinander entfernt sind, „vermitteln sie uns keine reale Empfindung für die Variationen, die in nur einer Gruppe sehr alter Hominini zu erwarten sind. Wie sich erweist, ist diese Variation erheblich.“

Die frühmenschliche Schädeldecke von Dmanisi am Fundort. (Georgisches National Museum)

Der Anthropologe Ian Tattersall äußerte im Gespräch mit Ann Gibbons in Science, dass Schädel 5 zu einer neuen Spezies gehören könnte. Ein anderer Forscher, Ron Clarke, mein te Gibbons, dass der Schädel zu einer älteren Spezies gehören könnte, dem Homo habilis. Doch Lordkipanidze und sein Team wenden ein, dass die enge Nähe des Schädels zu den weiteren Funden, ihn sowohl räumlich als auch zeitlich zu einer einzigen, aber vielfältigen Population des Homo erectus stellt.

Der Dmanisi „Schädel 5“. (Mit Genehmigung von Guram Bumbiashvili vom Georgischen National Museum)

“Die Dmanisi-Funde weisen Charakteristiken auf, die Homo habilis-artig sind,” sagte Rightmire der WSWS. Doch „die Dmanisi-Knochen teilen auch einige Merkmale, die als abgeleitet [oder im Rahmen] von Homo erectus gesehen werden könnten.“ Einige dieser physischen Besonderheiten sind große und kräftige Stirnen sowie Komponenten der Schädelform. „Die Aussage ist angemessen, dass Dmanisi sich eng am Fundament der Abstammung des Homo erectus befindet.“

Obgleich die Variationen in Dmanisi als überraschend betrachtet werden könnten, stellen die Wissenschaftler fest, dass diese nicht größer seien als die Variationen, die beim modernen Menschen festgestellt werden. Ko-Autor Christoph Zollikofer schrieb der WSWS, dass die „in Dmanisi gesehenen Größenvariationen des Gehirns ganz normal“ seien. Auf die Frage nach den möglichen kognitiven Kapazitäten der Dmanisi-Funde schrieb Zollikofer: „Einsteins Gehirn war nahe 1200 ccm, was dem späten Homo erectus entspricht. Der Homo erectus mit 550 ccm muss nicht weniger klug (oder klüger) gewesen sein als der Homo erectus mit 700 ccm.“ Zusätzlich zur Größe stellt die Gehirnstruktur eine von vielen Variablen dar, die zur intellektuellen Fähigkeit beitragen.

Eine der wohl umstrittensten Entdeckungen (über die am meisten berichtet wurde), von denen das Dokument Mitteilung macht, mit dem der Schädel 5 vorgestellt wurde, ist, dass eine weitreichende Variation – wie im Dmanisi-Fund oder bei modernen Menschen – zu erwarten ist. Die Schlussfolgerung daraus wäre, dass in frühmenschlichen Populationen und bei Vorläufern des Homo erectus ähnliche Spielarten aufgetreten sein müssen. Knochenfunde, die paläontologischen Spezies wie Homo ergaster, Homo rudolfensis und sogar Homo habilis zugeordnet wurden, könnten daher stattdessen einer einzigen Homo-erectus-Abstammung angehören. „Was bedeutet das für Homo habilis?“, fragt sich Zollikofer. „Es könnte sehr einfach sein: Vielleicht hat Homo habilis niemals existiert, sondern repräsentiert nur einen früheren Homo erectus.“

Computeranimation der fünf Dmanisi Schädel. (Marcia Ponce de León und Christoph Zollikofer, Universität Zürich, Schweiz)

“Die menschliche Spezies ist sehr variabel; wir wissen, dass dies für den modernen Menschen gilt, jetzt wissen wir, dass es auch für den Homo erectus gilt“, erklärte Zollikofer. „Variation ist die Quelle der Evolution; wären wir alle biologisch gleich, dann würden wir aussterben.“

In ihrer Veröffentlichung zitieren Lordkipanidze, Zollikofer und Kollegen Darwins Erkenntnis aus seinem epochalen Werk Über die Entstehung der Arten, dass die Anerkennung der Vielfalt in einer Spezies „mit der Anerkennung bezahlt wird, dass viele Variationen“ innerhalb der Spezies bestehen. Die Anwendung dieses Artenkonzepts auf fossile Exemplare ist bekanntermaßen schwierig. Das Konzept der biologischen Spezies des Biologen Ernst Mayr, welches zwei Individuen als Angehörige derselben Spezies anerkennt, wenn diese sich paaren und fortpflanzungsfähige Nachkommen erzeugen können, kann auf Fossilien nicht angewendet werden. Viele fossile Spezies sind nur durch Individuen repräsentiert, die im Abstand mehrerer Millionen Jahre gelebt haben könnten.

Die Erkenntnis paläontologischer Spezies beinhaltet deshalb, dass über die historische Populationsstruktur Hypothesen aufgestellt werden: Haben sich bestimmte Populationen gekreuzt? Hatten sie begrenzten oder keinen Genfluss im Laufe der Zeit? „Wie man diese Belege liest,“ sagte Rightmire, bezugnehmend auf die Ähnlichkeiten zwischen den Dmanisi-Schädeln und den fossilen Taxa wie Homo erectus, „so gelangt man zum Wesen der Fragen nach Übergangspopulationen (…) weitere Analysen sind erforderlich, um solide Grundlagen in diesem Bereich zu erhalten.“

Der jüngste Fund aus Dmanisi ist nur der letzte in einer Reihe spektakulärer Funde aus den vergangenen fünfzehn Jahren, die unser früheres Verständnis der menschlichen Evolution verändert und zahlreiche Fragen zu Geschichte und Erscheinen unserer Spezies aufgeworfen haben, die nach wie vor unbeantwortet sind.

Wenn Lordkipanidze und seine Kollegen recht haben, dann zeigt der Schädel von Dmanisi auf, dass die Populationen, die sich vor 1,8 Millionen Jahren aus Afrika ausbreiteten und über eine primitive Steinwerkzeugtechnologie sowie eine höhere Körpergröße verfügten, dies mit einem variablen (manchmal kleineren) Gehirnvolumen bewerkstelligen konnten. Ihre Funde könnten ebenso andeuten, dass die Populationen innerhalb Afrikas und Eurasiens hinsichtlich des langfristigen Genflusses näher miteinander verbunden waren, als dies zuvor angenommen wurde.

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