Zeit-Redakteur verurteilt „deutschen Pazifismus”

Zeit-Redakteur Jochen Bittner hat sich am 4. November in einem Beitrag für die New York Times bitter über die mangelnde Kriegsbegeisterung in Deutschland beschwert.

Unter der Überschrift „Den deutschen Pazifismus überdenken“ beanstandet er, dass nichts „Europas unübertroffene Supermacht, größte Volkswirtschaft und mächtigste politische Kraft“ dazu bringen könne, „eine militärische Intervention in Erwägung zu ziehen“. Eine „bequeme und selbstgerechte außenpolitische Haltung, die die Deutschen 70 Jahre lang kultiviert haben“, ein „zu tief verankerter Pazifismus“ hätten dazu geführt, dass sich Deutschland Kriegseinsätzen wie in Libyen, Mali und Syrien verweigere.

Die Umerziehungsbemühungen nach 1945 hätten viel zu gut auf die Deutschen gewirkt, klagt Bittner. „Der Pazifismus, manchmal in selbstgerechter Weise, ist Bestandteil der deutschen DNA geworden.“ „Unsere Lehrer, die durch die Schrecken der von amerikanischen Soldaten befreiten Konzentrationslager geführt wurden“, hätten „uns zu einer Weltanschauung geführt, in der Krieg niemals eine Lösung sein kann“. Dies, so Bittner, sei falsch.

Er preist Joschka Fischer, weil er Deutschland unter der Parole „Nie wieder Auschwitz“ dazu gebracht habe, Serbien zu bombardieren und Truppen nach Afghanistan zu schicken. „Rückblickend bin ich mir ziemlich sicher, dass die Glaubwürdigkeit von Herrn Fischer selbst, eines Außenministers aus der linksorientierten Grünen-Partei, erforderlich war, um die Deutschen von der Notwendigkeit eines militärischen Vorgehens zu überzeugen. Niemand sonst hätte das Tabu brechen können.“

Heute, bedauert Bittner, sei „ein derartiger geistiger Rammbock nicht in Sicht“. Bundespräsident Joachim Gauck, der kürzlich gesagt habe, er möge sich nicht vorstellen, „dass Deutschland sich klein macht, um Risiken und Solidarität zu umgehen“, bleibe „eine einsame Stimme, ohne formale Macht“.

Bittner ist nicht der einzige, der mehr deutsche Soldaten in Kriegseinsätze schicken will. Die Forderung nach einem militärischen Engagement, das „der Bedeutung unseres Landes“ als „viertgrößte Wirtschaftsmacht der Welt“ (Gauck) entspricht, ist ein ständiges Thema deutscher Medien, von der konservativen Welt über die Zeit und die Süddeutsche bis zur grünen taz. (Siehe auch: „Schaum vor dem Mund“)

Die Zeit spielt bei dieser Kriegshetze die führende Rolle. Ihr Herausgeber Josef Joffe wirbt seit langem für einen massiven Krieg im Nahen Osten. Bittners Beitrag für die New York Times wiederum ist die Kurzfassung eines weit längeren Artikels, der bereits am 21. März unter der Überschrift „Wir tun doch nix…“ in der Zeit erschien und für den neben Bittner vier weitere Autoren verantwortlich zeichnen, darunter der stellvertretende Chefredakteur Bernd Ulrich.

Die Autoren loben die Interventionsbereitschaft, die Deutschland im Kosovo- und Afghanistankrieg gezeigt habe, und beklagen deren „Rückabwicklung“. Seither sei kein neuer Bundeswehreinsatz mehr beschlossen worden, bei dem scharf geschossen werde: „Seit zehn Jahren wechseln die Schauplätze, variieren die Begründungen, steht das Ergebnis immer schon vorher fest: Keine deutschen Soldaten, wo getötet oder gestorben werden könnte.“ In einem Land, dass sie so verhalte, lautet die Bilanz, „möchte man nicht leben“.

Es mag einige überraschen, dass ausgerechnet Die Zeit derart aggressiv für eine Wiederbelebung des deutschen Militarismus trommelt. Die Wochenzeitung steht traditionell der SPD nahe (der 94-jährige Alt-Kanzler Helmut Schmidt firmiert als Mit-Herausgeber), wendet sich vor allem an Akademiker und gebildete Mittelschichten und gilt als eine Art Zentralorgan des deutschen Bildungsbürgertums. Tatsächlich besteht darin kein Widerspruch. Es brechen Traditionen wieder auf, die eine lange Geschichte haben. Der deutsche Militarismus hat in diesen Schichten schon früher begeisterte Unterstützung gefunden.

Beispielhaft ist in dieser Hinsicht der „Aufruf an die Kulturwelt“, der im Oktober 1914, kurz nach Beginn des Ersten Weltkriegs, in allen großen Zeitungen Deutschlands erschien. Er trug die Unterschrift von 93 namhaften Wissenschaftlern und Künstlern und verteidigte die Verbrechen der deutschen Armeen, die zu diesem Zeitpunkt das neutrale Belgien überrannt, seine Zivilbevölkerung misshandelt und die alte Universitätsstadt Löwen zerstört hatten.

Der Aufruf beginnt mit dem Satz: „Wir als Vertreter deutscher Wissenschaft und Kultur erheben vor der gesamten Kulturwelt Protest gegen die Lügen und Verleumdungen, mit denen unsere Feinde Deutschlands reine Sache in dem ihm aufgezwungenen schweren Daseinskampfe zu beschmutzen trachten.“

Er endet mit dem Schwur, das blutige Gemetzel im Namen der deutschen Kultur fortzusetzen: „Glaubt uns! Glaubt, daß wir diesen Kampf zu Ende kämpfen werden als ein Kulturvolk, dem das Vermächtnis eines Goethe, eines Beethoven, eines Kant ebenso heilig ist wie sein Herd und seine Scholle. Dafür stehen wir Euch ein mit unserem Namen und mit unserer Ehre!“

Zu den bekanntesten Unterzeichnern zählten die Professoren Emil von Behring (Medizin), Lujo Brentano (Ökonomie), Rudolph Eucken (Ökonomie), Max Planck (Physik), Ernst Haeckel (Zoologie), der Theologe und liberale Politiker Friedrich Naumann, der Komponist Engelbert Humperdinck, der Maler Max Liebermann, der Schriftsteller Gerhart Hauptmann und der Theaterregisseur Max Reinhardt.

Dem „Aufruf an die Kulturwelt“ folgte eine „Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches“ mit mehr als 3.000 Unterschriften. Sie war von nahezu allen Dozenten der 53 Universitäten und Technischen Hochschulen des Reichs unterzeichnet worden. Diese empörten sich darüber, „daß die Feinde Deutschlands … einen Gegensatz machen wollen zwischen dem Geiste der deutschen Wissenschaft und dem, was sie den preußischen Militarismus nennen“. In Wirklichkeit herrsche im deutschen Heer „kein anderer Geist als in dem deutschen Volke, denn beide sind eins“.

Die Erklärung endet mit einem ausdrücklichen Bekenntnis zum Militarismus: „Unser Glaube ist, daß für die ganze Kultur Europas das Heil an dem Siege hängt, den der deutsche ‚Militarismus‘ erkämpfen wird, die Manneszucht, die Treue, der Opfermut des einträchtigen freien deutschen Volkes.“

Auch Hitlers Militarismus fand breite Unterstützung im Milieu des wohlhabenden, gebildeten Kleinbürgertums, das in der Weimarer Republik lange gezögert hatte, die Nazis zu unterstützen. „Die faschistische Diktatur beseitigte die Zweifel der Fauste und das Schwanken der Hamlets auf dem Universitätskatheder“, kommentierte Leo Trotzki damals treffend. („Porträt des Nationalsozialismus“, 1933)

Anders als Bittner behauptet, sind weder Pazifismus noch Demokratie „Bestandteil der deutschen DNA geworden“, zumindest nicht jener der politischen Eliten und wohlhabenden Mittelschichten, für die er spricht. Die militärische Enthaltsamkeit, zu der Deutschland nach 1945 aufgrund seiner Kriegsverbrechen gezwungen wurde, blieb bei ihnen ebenso wie das Bekenntnis zur Demokratie stets oberflächlich. Mit der tiefsten Wirtschaftskrise seit den 1930er Jahren, scharfen sozialen Spannungen und zunehmenden internationalen Konflikten setzen sich Militarismus und autoritäre Tendenzen nun wieder durch.

Joschka Fischer und seine Partei haben dabei die Rolle des Vorreiters übernommen. Die Grünen mit ihrer Basis im städtischen, akademischen Kleinbürgertum haben sich aus einer vorwiegend pazifistischen Partei zum energischen Befürworter „humanitärer“ Militäreinsätze gewandelt.

Die Linkspartei vollzieht derzeit denselben Schwenk. In einer Aufsatzsammlung unter dem Titel „Linke Außenpolitik: Reformperspektiven“ plädieren ihre führenden Vertreter offen für deutsche Militäreinsätze.

Derselbe Wandel vollzieht sich in den Redaktionsstuben vormals liberaler Blätter wie der Süddeutschen, der taz und der Zeit, wie Bittner selbst anschaulich beweist.

Der Hang des wohlhabenden deutschen Kleinbürgers zum Militarismus hat sowohl soziale wie historische Gründe. Sozial empfindet er die wachsenden gesellschaftlichen Spannungen als Bedrohung seines Wohlstands, deshalb klammert es sich enger an den Staat. Historisch gibt es in Deutschland keine bürgerlich-demokratische Tradition.

Die demokratische Revolution von 1848 scheiterte, weil ihre kleinbürgerlichen Führer „mehr Angst vor der geringsten Volksbewegung als vor sämtlichen reaktionären Komplotten sämtlicher deutscher Regierungen zusammengenommen“ hatten. (Friedrich Engels) Umso begeisterter unterstützte das Kleinbürgertum dann die Einigung Deutschlands durch „Blut und Eisen“. Otto von Bismarck, der das Reich mit harter Hand einte und regierte, war sein Held. Seine Büste durfte im ausgehenden 19. Jahrhundert in keinem bürgerlichen Wohnzimmer fehlen.

Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts paarte sich die Verehrung für Bismarck dann mit der Begeisterung für den Imperialismus. Der Deutsche Flottenverein, der den Aufbau einer der englischen ebenbürtigen deutschen Kriegsflotte propagierte, zählte auf seinem Höhepunkt über eine Million Mitglieder.

Der „Pazifismus“, den Bittner in der New York Times beklagt, entstammt einer anderen Tradition, der Tradition der Arbeiterbewegung. Die SPD hatte bis kurz vor dem Ersten Weltkrieg Imperialismus, Nationalismus und Krieg erbittert bekämpft – bis sie am 4. August 1914 vor dem bürgerlichen Druck kapitulierte, ihr eigenes Programm verriet und den Krieg unterstützte.

Auch heute gibt es in breiten Bevölkerungsschichten eine tief verwurzelte Abneigung gegen Krieg. Die von Bittner befürworteten Kriegseinsätze in Libyen und Mali sowie die Kriegspläne gegen Syrien wurden in sämtlichen Umfragen mit großer Mehrheit abgelehnt. Bittners Klagen über den „deutschen Pazifismus“ müssen daher als Drohung verstanden werden. Um den nächsten Kriegseinsatz zu erzwingen, wird ein „geistiger Rammbock“ wie Joschka Fischer nicht ausreichen, er wird mit der offenen Unterdrückung jeder politischen und sozialen Opposition verbunden sein.

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