Perspektive

150 Jahre seit Lincolns Rede von Gettysburg

Vor 150 Jahren hielt Abraham Lincoln seine Rede von Gettysburg. Er sprach bei der Einweihung eines Soldatenfriedhofs auf einem der blutigsten Schlachtfelder des Bürgerkriegs. Weniger als fünf Monate vorher waren an dieser Stelle etwa 46.000 Soldaten getötet oder verwundet worden oder wurden vermisst.

In einer Rede, die kaum länger als zwei Minuten dauerte und nur 271 Worte in gerade einmal zehn Sätzen enthielt, stellte Lincoln die Schlacht, den Krieg und die Geschichte selbst in den Kontext des Kampfs um die Gleichheit.

Nicht zufällig hat Präsident Barack Obama alle Einladungen ausgeschlagen, an diesem Tag auf dem Nationalfriedhof von Gettysburg zu sprechen, wenn an Lincolns historische und beliebte Rede erinnert wird. Schon im Juli hatte er nicht an den Feierlichkeiten zum 150. Jahrestag der Schlacht selbst teilgenommen.

Immerhin hatte Obama in seinem ersten Präsidentschaftswahlkampf noch versucht, Lincoln für sich zu vereinnahmen. Jedenfalls lässt er kaum eine Gelegenheit aus, sich in den Mantel „militärischen Ruhms“ zu hüllen, diesen „verführerischen Regenbogen, der aus Strömen von Blut ersteht“, – um einen Ausdruck Lincolns aus einer Rede zu benutzen, in der er sich 1848 gegen Amerikas Militärangriff auf Mexiko ausgesprochen hatte.

Die Worte der Rede von Gettysburg müssen tatsächlich die Ohren eines Präsidenten beleidigen, der mehr dazu beigetragen hat, Ungleichheit zu mehren und demokratische Rechte auszuhöhlen, als jeder andere Präsident in der amerikanischen Geschichte.

Lincoln war sich nur zu bewusst, wie wichtig es war, die demokratische und revolutionäre Bedeutung der Schlacht von Gettysburg und des gesamten Kriegs zu betonen. Obwohl die Schlacht am 1., 2. und 3. Juli in einen Sieg mündete und den General der Konföderierten, Robert E. Lee, und seine Armee von Nord Virginia zwang, ihre Invasionspläne für den Norden aufzugeben, hatte es der Kommandeur der Unionisten in Pennsylvania, General George Meade, versäumt, Lees desorganisierten Truppen nachzusetzen, die in Maryland oberhalb des Potomac, der Hochwasser führte, in der Falle saßen.

Meades sträfliches Versäumnis hatte zur Folge, dass sich der Krieg noch fast zwei weitere Jahre hinzog. Der verärgerte Lincoln schrieb dem General in einem Brief, den er jedoch am Ende gar nicht abschickte: „Ich glaube, Sie verstehen überhaupt nicht, welcher Schaden durch Lees Flucht entstanden ist. Wir hatten ihn schon im Sack, und den Sack zuzumachen, hätte, zusammen mit unsern andern jüngsten Erfolgen, den Krieg beendet. So wie es jetzt aussieht, wird der Krieg noch ewig dauern.“

Ihre überragende Bedeutung erhält die Schlacht von Gettysburg weitgehend durch Lincolns Rede, die im Programm unter dem unauffälligen Titel „Bemerkungen des Präsidenten der Vereinigten Staaten zur Einweihung“ angekündigt wurde. Lincolns „Bemerkungen“ kamen erst auf Platz zwei. Sie kamen erst an die Reihe, als der Hauptredner Edward Everett eine zweistündige Ansprache gehalten hatte.

In der Geschichte gibt es weit blutigere Schlachten, doch keine war je so eng mit progressiven Idealen verknüpft wie Gettysburg. Sonst wurden die meisten Schlachten gerade wegen ihres sinnlosen Blutvergießens berühmt, wie zum Beispiel das Gemetzel an der Somme und vor Verdun.

All das verleiht Lincolns Bemerkung in der Rede eine gewisse Ironie, wenn er sagt: “Die Welt wird wenig Notiz davon nehmen, noch sich lange an das erinnern, was wir hier sagen. Aber sie kann niemals vergessen, was jene [‚die edlen Toten’, die ‚sich im höchsten Maße der Sache hingegeben‘ hatten] hier taten.“

Lincoln war ursprünglich gar nicht zur Einweihung eingeladen worden, und nicht zufällig wurde Everett, der bekannteste Redner des Landes, als Hauptredner groß angekündigt. Die Dichter Bryant, Longfellow und Whittier hatten es abgelehnt, zu sprechen. Aber Lincoln war an diesem Termin so interessiert, dass er die Reisepläne seines Sekretariats abänderte, damit er einen Tag mehr Spielraum hatte und sicher sein konnte, pünktlich zur Stelle zu sein. Das war eine weise Entscheidung. Das Eisenbahnsystem war mit Tausenden Menschen verstopft, die alle zu der Einweihung wollten. Der Gouverneur von Minnesota, der eine Woche früher aufgebrochen war, schaffte es überhaupt nicht.

Lincoln hatte sich in dieser Zeit der Romantik schon früh einen prosaischen Stil angeeignet. Seine Wortwahl war knapp und wohlüberlegt, und er nahm damit Twain und Hemingway vorweg. Keine Silbe in der Rede von Gettysburg stand zufällig da. Umso faszinierender ist das Fehlen von Details in der Rede. Lincoln nannte keine Daten, keine realen Namen und Orte. Er nannte nicht einmal „Gettysburg“ beim Namen.

Das war Absicht. Lincoln erhob Gettysburg über seine Zeit und seinen Ort hinaus und wies dem Bürgerkrieg seinen Platz in der amerikanischen und Weltgeschichte zu. Er beschwor die amerikanische Revolution und die Unabhängigkeitserklärung, nannte allerdings beide nicht beim Namen: „Vor 87 Jahren gründeten unsere Väter auf diesem Kontinent eine neue Nation, in Freiheit gezeugt und dem Grundsatz verpflichtet, dass alle Menschen gleich geschaffen sind“. Sofort schlug er den Bogen zum Bürgerkrieg und dem weltweiten Kampf für Gleichheit: „Nun befinden wir uns in einem großen Bürgerkrieg, der uns auf die Probe stellt, ob diese oder jede andere so gezeugte und solchen Grundsätzen verpflichtete Nation dauerhaft Bestand haben kann.“

Der Kampf zur Niederwerfung der Rebellion der Sklavenbesitzer hatte 1861 als Krieg zur Erhaltung der Union und zur Rückkehr zum Status quo ante begonnen. Am 1. Januar 1863 wurde mit Lincolns Emanzipationserklärung aus dem Bürgerkrieg eine Revolution, die die Sklaverei und die alte Ordnung im Süden zerschlagen sollte. Die Rede von Gettysburg schließlich hob den Krieg auf eine noch höhere, globale Ebene. Es war nun ein Krieg für „eine Wiedergeburt der Freiheit“, und er wurde geführt, „auf dass die Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk, nicht von der Erde verschwinden möge“, so Lincoln in seiner Rede.

Durch die Zerstörung der Sklaverei bewirkte der Bürgerkrieg tatsächlich eine Wiedergeburt der Freiheit. Er sollte auch den Klassenkampf auf eine neue, höhere Stufe heben.

Karl Marx schrieb: „In den Vereinigten Staaten von Nordamerika blieb jede selbständige Arbeiterbewegung gelähmt, solange die Sklaverei einen Teil der Republik verunstaltete. Die Arbeit in weißer Haut kann sich nicht dort emanzipieren, wo sie in schwarzer Haut gebrandmarkt wird. Aber aus dem Tod der Sklaverei entspross sofort ein neu verjüngtes Leben. Die erste Frucht des Bürgerkriegs war die Achtstundenagitation, mit den Siebenmeilenstiefeln der Lokomotive vom Atlantischen bis zum Stillen Ozean ausschreitend, von Neuengland bis nach Kalifornien.“ (MEW Bd.23, S.318)

Ein Jahr nach der Rede von Gettysburg schrieb Karl Marx im Namen der Ersten Internationale einen Brief an Lincoln, um ihm zu seiner Wiederwahl zu gratulieren: „Als die Oligarchie der 300.000 Sklavenhalter zum erstenmal in den Annalen der Welt das Wort ‚Sklaverei‘ auf das Banner der bewaffneten Rebellion zu schreiben wagte; als auf dem selbigen Boden, dem kaum ein Jahrhundert vorher zuerst der Gedanke einer großen demokratischen Republik entsprungen war, von dem die erste Erklärung der Menschenrechte ausging und der erste Anstoß zu der europäischen Revolution des 18. Jahrhunderts gegeben wurde (…), da begriffen die Arbeiter Europas sofort, dass für die Männer der Arbeit außer ihren Hoffnungen auf die Zukunft auch ihre vergangnen Eroberungen in diesem Riesenkampfe jenseits des Ozeans auf dem Spiele standen.“

Obwohl Lincoln den Klassenkampf nicht erkannte und nicht erkennen konnte, war er überzeugt, dass die Forderung nach Gleichheit „zu künftigem Nutzen“ in der Unabhängigkeitserklärung stand. Thomas Jefferson hatte sie aufgenommen, obwohl sie „keinen praktischen Nutzen für unsere Lostrennung von Großbritannien“ hatte.

Welchen künftigen Nutzen sah Lincoln in der Erklärung? Sie biete, sagte er, „eine Zurückweisung und ein Hindernis schon für die Vorboten von wiedererstehender Tyrannei und Unterdrückung.“

Das war wohl auch sein überragendes Ziel in der Rede von Gettysburg, die so klar an Jefferson und die Verfassung anknüpfte, wie der Bürgerkrieg (die zweite amerikanische Revolution) sich anschickte, die erste zu vollenden.

Dagegen kann Lincoln mit seiner Warnung vor neuer Tyrannei und Unterdrückung kaum das Amerika von 2013 vorausgesehen haben. Hier herrscht eine winzige Schicht von aristokratischen Milliardären, gestützt auf Lügen, Verschwörung, Diebstahl, Spionage und militärischer Gewalt. Ihr obszöner Reichtum stellt den der alten Sklavenhalterklasse bei Weitem in den Schatten.

Doch die Worte und Ideale Lincolns, der als Vertreter der bürgerlichen demokratischen Revolution sprach, finden gerade auch heute einen Widerhall.

So ist eine Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk mit dem heutigen, degenerierten Kapitalismus unvereinbar. Die demokratischen Ideale sind verloren gegangen. Die heutige amerikanische Finanzaristokratie hat vieles mit den alten Sklavenhaltern gemein. Schon der Gedanke an soziale Gleichheit verursacht ihr Übelkeit.

Heute ist die Verwirklichung von Lincolns Idealen nur im Sozialismus möglich. Die neue Revolution, im Interesse der ganzen Menschheit vollzogen, wird sich gegen das kapitalistische System richten.

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