54 Menschen sterben beim Einsturz eines Supermarkts in Riga

In der lettischen Hauptstadt Riga sind beim Einsturz des Dachs eines großen Supermarkts mindestens 54 Menschen ums Leben gekommen. Bisher wurden über 50 Verletzte aus den Trümmern geborgen und in Krankenhäuser gebracht. Sieben Menschen werden noch vermisst.

Unter den Toten befinden sich auch drei Feuerwehrleute, die bei den Rettungsarbeiten ums Leben kamen, als ein zweiter Gebäudeteil einbrach. Lettische Medien haben das Unglück als die größte Tragödie seit der Unabhängigkeit des Landes 1991 bezeichnet, schlimmer noch als ein Fährunglück 1994 und der Brand eines Pflegeheims 2007, denen zahlreiche Menschen zum Opfer fielen.

Laut der Vorsitzenden des staatlichen Kinderwohlfahrtsamtes, Laila Rieksta-Riekstina, haben 16 Kinder den Vater oder die Mutter verloren, drei von ihnen beide Elternteile. Hunderte Menschen versammelten sich vor dem eingestürzten Einkaufszentrum, legten Blumen nieder und zündeten Kerzen für die Toten an.

Zahlreiche Länder, darunter Russland und Polen, boten der lettischen Regierung ihre Hilfe bei der Bergung und den Ermittlungen der Einsturzursache an. Bislang hat sich die Regierung in Riga dazu aber nicht geäußert.

Der Einsturz ereignete sich am Donnerstagabend gegen 18 Uhr in der Hauptgeschäftszeit, als sich mehrere hundert Menschen im Gebäude aufhielten. Das Dach brach auf einer Fläche von insgesamt rund 500 Quadratmetern ein. Zuvor sei etwa zehnmal der Feueralarm losgegangen, bestätigte der Gebäudebetreiber Berichte von Augenzeugen. Trotzdem wurde der Supermarkt nicht evakuiert, da es „keine offensichtlichen Anzeichen von Feuer“ gegeben habe.

Als Rettungskräfte am Samstag nach Überlebenden suchten, stürzten weitere Dachteile ein. Es wurde aber niemand verletzt. Die letzten lebenden Opfer konnten in der Nacht zum Freitag geborgen werden. Insgesamt wurden mindestens 50 Menschen von herabfallenden Deckenteilen teilweise schwer verletzt. Kliniken in Riga und Umgebung riefen angesichts der Zahl der Verletzten zu Blutspenden auf.

Möglicherweise gab es an dem erst zwei Jahre alten Gebäude Baumängel. Lettischen Medienberichten zufolge fanden erst kürzlich Renovierungsarbeiten statt. Rigas Bürgermeister Nils Ušakovs hat die Behörden angewiesen, alle im Bau befindlichen Projekte des zuständigen Unternehmens zu überprüfen.

Neben großen Mengen Baumaterial soll Erde auf dem Dach gelagert worden sein, obwohl es nach Angaben städtischer Beamter für solch schwere Lasten nicht ausgelegt war. Außerdem könnte laut „BBC News“ Regenwasser mitverantwortlich für die Katastrophe sein, das aufgrund fehlender Vorkehrungen nicht richtig abfließen konnte.

Aussagen Offizieller machen deutlich, dass dies die wahrscheinlichste Ursache für den Einsturz ist. Innenminister Rihards Kozlovskis erklärte einem lokalen Fernsehsender: „Es ist klar, dass es bei der Einhaltung der Bauvorgaben Probleme gab.“

Der Vizebürgermeister der Hauptstadt, Andris Ameriks, sagte der lettischen Nachrichtenagentur BNS, dem Einsturz könne eine Explosion vorausgegangen sein. Nähere Angaben machte er nicht. Premier Valdis Dombrovskis berief sein Kabinett am Freitag zu einer Sondersitzung, auf der er weit reichende Ermittlungen zur Klärung des Unglücks ankündigte.

Das Kaufhaus wurde von der Homburg Valda, der lettischen Tochter der kanadischen Homburg International Group und der Baufirma RE&RE errichtet. Betrieben wurde das Einkaufszentrum von der Kette Maxima.

Lettische Medien gehen davon aus, dass es einige Zeit dauern wird, bis die Ursache geklärt ist. Der Einsturz eines zwei Jahre alten Gebäudes, das 2011 für einen Architekturpreis nominiert wurde, legt aber den Schluss nahe, dass Korruption und Sparmaßnahmen zu den Ursachen zählen.

Bewohner von Riga äußerten den Verdacht, dass die im Land grassierende Korruption und Vetternwirtschaft an der Katastrophe Schuld seien. „Es ist vermutlich das alte Lied: ‚Mach es billig und steck die Differenz ein’“, sagte der Taxifahrer Arsenijs Smirnovs der Nachrichtenagentur AFP. Damit haben die Letten bittere Erfahrungen gemacht.

Nach dem Unglück in Riga zeigten sich die Auswirkungen der „Schocktherapie“ der letzten Jahre. Als Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise 2008 hatte die Regierung brutale Sparmaßnahmen ergriffen, die vor allem den öffentlichen Dienst trafen. Deshalb mussten Feuerwehrleute teilweise durch herangezogene Soldaten unterstützt werden, da nach den Massenentlassungen kaum noch genügend Personal für einen solchen Großeinsatz vorhanden ist. Seit 2009 wurde ein Drittel der öffentlich Beschäftigten entlassen.

Am stärksten hat die medizinische Versorgung der Bevölkerung unter den Kürzungen gelitten. Die Regierung hat über die Hälfte der 56 Krankenhäuser des Landes geschlossen, darunter auch das mit 650 Betten größte lettische Krankenhaus Rigas Prima Slimnca.

Eine angemessene Versorgung ist nach drakonischen Kürzungen im Gesundheitssystem nur noch gegen Barzahlung möglich. Mittlerweile sind schätzungsweise mehr als 25 Prozent der Letten ohne Krankenversicherung, und selbst wer noch eine hat, muss beim Arzt oder in der Klinik eine hohe Selbstbeteiligung bezahlen. Ärzte und Klinikpersonal sind überarbeitet; nach den Lohnsenkungen der letzten Jahre haben alle einen zweiten und nicht selten einen dritten Job, um über die Runden zu kommen.

Nach den harten Rentenkürzungen liegt die Durchschnittsrente in Lettland bei umgerechnet 80 Euro im Monat. Die Gehälter im öffentlichen Dienst sanken seit 2008 um 55 Prozent. Feuerwehrleute, Rettungsdienstmitarbeiter und sogar Ärzte verdienen im Schnitt zwischen 200 und 350 Euro. Zusätzlich reduzierte sich der staatlich festgelegte Mindestlohn. Das Elterngeld wurde halbiert und zusätzliche Hilfen für Kinder gestrichen.

2009 brach die Wirtschaft um fast 25 Prozent ein, die Arbeitslosigkeit schnellte auf rund 21 Prozent. Das Haushaltsdefizit stieg auf 9,8 Prozent. 2008 erreichte die Inflationsrate 15,6 Prozent. Allein 2009 und 2010 kürzte die Regierung Dombrovskis die öffentlichen Ausgaben um 13 Prozent.

Durch die Kürzungen kam es zu massenhafter Auswanderung. Alleine Riga hat im letzten Jahr über 100.000 Einwohner verloren. Insgesamt sank die Einwohnerzahl im Zeitraum von 2008 bis heute von 2,2 Millionen auf 2 Millionen. Ähnlich sieht es in Estland und Litauen aus, wo ebenfalls heftige Sparmaßnahmen umgesetzt wurden.

Die Europäische Union (EU) und der Internationale Währungsfond (IWF) haben die radikalen Angriffe auf den Lebensstandard der Bevölkerung bereits mehrmals zum Anlass genommen, die rechte Regierung Lettlands zu loben. Erst im letzten Monat würdigte EZB-Präsident Mario Draghi den brutalen Sparkurs, der Lettland die Einführung des Euro ermöglicht.

„Ich freue mich, dass Lettland durch die Euro-Einführung im kommenden Jahr seine Position im Herzen Europas stärkt“, sagte Draghi am Donnerstag auf einer Konferenz in Riga. „Die Menschen hier haben eine bemerkenswerte Entschlossenheit gezeigt, ihre Schwierigkeiten zu überwinden und die Kriterien für die Euro-Einführung zu erfüllen“, sagte Draghi. Gleichzeitig forderte Draghi die lettische Regierung auf, ihre „Reformpolitik“ fortzusetzen.

Die Sparmaßnahmen, mit denen die Regierung auf die Wirtschaftskrise reagierte, wurden sehr gezielt dazu benutzt, die Einführung des Euro voranzutreiben. Dies soll im kommenden Jahr geschehen, obwohl die Mehrheit der Bevölkerung dagegen ist. Laut einer Umfrage des Marktforschungsunternehmens SKDS unterstützen nur 22 Prozent der Einwohner Lettlands die Einführung der Gemeinschaftswährung. Rund 53 Prozent sprechen sich gegen sie aus.

Mit dem Beitritt zur Eurozone wird sich die Lage der Letten weiter verschärfen. Wie im Nachbarland Estland, das den Euro bereits 2011 zur Landeswährung gemacht hat, sind unweigerlich Preissteigerungen die Folge.

Loading