Berlin: Veranstaltung zum 75. Jahrestag der Vierten Internationale

Führende Vertreter der Partei für Soziale Gleichheit (PSG) und der britischen Socialist Equality Party sprachen am 30. November auf einer Veranstaltung in Berlin zum 75-jährigen Bestehen der Vierten Internationale. In einem Hörsaal der Technischen Universität fanden sich etwa 100 Zuhörer ein, darunter eine Delegation aus Frankreich, um ein zentrales historisches Ereignis des 20. Jahrhunderts zu würdigen.

Die Veranstaltung war von großer internationaler und historischer Bedeutung. Sie hat vor allem zwei Dinge deutlich gemacht.

Zum einen gewinnen die politischen Perspektiven der Vierten Internationale in der tiefsten Krise des Kapitalismus seit den 1930er Jahren unter Studierenden, Arbeitern und Intellektuellen zunehmend an Bedeutung. Und zum anderen gibt es 75 Jahre nach ihrer Gründung durch Leo Trotzki im Jahr 1938 keinen Zweifel daran, dass die historische Kontinuität der Vierten Internationale nur vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale (IKVI) und seinen Sektionen verkörpert wird.

Die Versammlung in Berlin

Vier ausführliche Beiträge gaben einen Überblick über die Geschichte der Vierten Internationale und ihre Bedeutung für heute. Im Zentrum stand dabei der kontinuierliche theoretische und politische Kampf der orthodoxen Trotzkisten zur Verteidigung der Grundsätze der Vierten Internationale gegen alle Spielarten des politischen Opportunismus.

Ulrich Rippert, der Vorsitzende der PSG, ging in seinem Vortrag ausführlich auf Trotzkis Kampf gegen den Zentrismus ein, der der Gründung der Vierten Internationale vorausgegangen war. Im Mittelpunkt stand dabei die Notwendigkeit einer neuen Partei.

Trotzki habe aus der deutschen Katastrophe von 1933 und der fatalen Politik der KPD und der Kommunistischen Internationale, die Hitlers Machtübernahme ermöglichte, die Schlussfolgerung gezogen, dass die Dritte Internationale vom Standpunkt der sozialistischen Revolution tot sei, sagte Rippert. Um den revolutionären Kader und den Kampf für den Marxismus zu erhalten, habe er die Gründung einer neuen, Vierten Internationale für notwendig und unumgänglich gehalten.

Zentristische Parteien wie die deutsche SAP, die spanische POUM und die britische ILP hätten zuweilen Sympathie und sogar Übereinstimmung mit dem einen oder anderen Aspekt von Trotzkis Analyse bekundet, lehnten es aber ab, sich selbst und ihre Organisationen auf den Kampf für eine neue revolutionäre Internationale festzulegen.

Rippert erklärte, dass sie in Wirklichkeit nicht mit der Einschätzung übereinstimmten, dass „die politische Weltlage als Ganzes vor allem durch eine historische Krise der proletarischen Führung gekennzeichnet“ sei, wie es im Gründungsprogramm der Vierten Internationale heißt. Diese Aussage, so Rippert, sei „nicht nur für die Verhältnisse von 1938 richtig, sondern umfasse das Kernproblem der modernen Geschichte“.

Die sozialistische Revolution sei nicht einfach das zwangsläufige Ergebnis objektiver wirtschaftlicher Voraussetzungen, betonte Rippert. „Sie erfordert, dass die Arbeiterklasse auf der Grundlage eines unabhängigen sozialistischen Programms und bewaffnet mit einem klar ausgearbeiteten strategischen Plan politisch bewusst in den historischen Prozess eingreift. Hierin liegt die historische Bedeutung der revolutionären Partei und der Vierten Internationale.“

Ulrich Rippert

Am Beispiel Willy Brandts erklärte Rippert, um welche Klassenfragen es in der Auseinandersetzung mit dem Zentrismus ging. Brandt hatte als Mitglied der SAP und Leiter ihrer Exil-Jugendorganisation in Oslo systematisch gegen die Gründung der Vierten Internationale gearbeitet, Trotzkisten aus dem Internationalen Jugendbüro ausgeschlossen und ihnen „schlimmstes Sektierertum“ vorgeworfen. Was Brandt und andere Zentristen in Wirklichkeit antrieb, war die Ablehnung einer sozialistischen Revolution. Rippert betonte, dass Brandts damalige Feindschaft gegen den Trotzkismus ihn bereits auf seine spätere Rolle als Bundeskanzler und führender Vertreter des deutschen Imperialismus vorbereitet habe.

Im zweiten Vortrag sprach Johannes Stern, Vorstandsmitglied der PSG und WSWS-Redakteur, zum 60. Jahrestag des „Offenen Briefs“ und der Gründung des IKVI im Jahr 1953. Stern betonte, welche zentrale Bedeutung der „Offene Brief“ nach dem Zweiten Weltkrieg für die Verteidigung der historischen Kontinuität des Trotzkismus und der politischen Unabhängigkeit der Arbeiterklasse hatte.

Der Pablismus war eine opportunistische Tendenz, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg innerhalb der Vierten Internationale entwickelte. Er griff die politischen und historischen Perspektiven des Trotzkismus an und lief auf die Liquidierung der Vierten Internationale hinaus.

„Seine Führer, Michel Pablo und Ernest Mandel, wiesen die Sektionen an, sich in den stalinistischen und sozialdemokratischen Parteien oder in den bürgerlichen und kleinbürgerlichen nationalen Bewegungen aufzulösen“, erklärte Stern. „Der ‚Offene Brief’ von James P. Cannon und der Socialist Workers Party (SWP) verteidigte dagegen den marxistischen Grundsatz, dass die Arbeiterklasse ‚die einzige wahrhaft revolutionäre Klasse in der Gesellschaft’ ist und dass sie in jedem Land eine revolutionäre Partei aufbauen muss, um die Krise der Führung zu lösen.“

Stern ging in seinem Beitrag auf zwei Punkte genauer ein. Zum einen betonte er, dass dem Pablismus mit der Stabilisierung des Nachkriegskapitalismus und der Stärke der stalinistischen und sozialdemokratischen Bürokratien starke objektive Faktoren zugrunde lagen, die großen Druck auf die Kader der Vierten Internationale ausübten. Die Pablisten hätten sich diesem Druck angepasst und schließlich vor den erstarkten bürokratischen Apparaten kapituliert.

Stern erklärte dann, dass der Pablismus Ausdruck einer viel breiteren ideologischen Offensive gegen den Marxismus war. Nach dem Zweiten Weltkrieg hätten in verschiedenen Teilen der kleinbürgerlichen Intelligenz zunehmend Auffassungen an Einfluss gewonnen, die aufgrund der vorangegangenen Katastrophen den Marxismus und das revolutionäre Potential der Arbeiterklasse insgesamt in Frage stellten. Philosophische Strömungen wie die Frankfurter Schule erklärten die Niederlagen der zwanziger und dreißiger Jahre nicht aus der falschen und später offen konterrevolutionären Politik der Kommunistischen Parteien, sondern aus dem gesellschaftlichen Charakter der Arbeiterklasse selbst.

Stern betonte, dass den Pablismus, die Frankfurter Schule und andere anti-marxistische Geistesströmungen eines verbinde: die Ablehnung der Arbeiterklasse als unabhängige revolutionäre Kraft.

Am Ende seines Vortrages erklärte Stern, der immense Druck, der in der Nachkriegsperiode auf der Vierten Internationale lastete, sei am deutlichsten daran sichtbar geworden, dass sich Cannon und die SWP nur kurz nach ihrem Kampf gegen den Pablismus selbst an die Klassenkräfte anpassten, vor denen zuvor die Pablisten kapituliert hatten. Im Zuge der Kubanischen Revolution entwickelte die SWP offen pablistische Standpunkte und vereinigte sich 1963 auf völlig prinzipienloser Grundlage mit den Pablisten zum Vereinigten Sekretariat.

Der „Offene Brief“ habe dadurch jedoch nichts von seiner historischen Bedeutung eingebüßt, sagte Stern. „Er war für die orthodoxen Trotzkisten im IKVI, zunächst unter der Führung der britischen Socialist Labor League (SLL) unter Gerry Healy und später der amerikanischen Workers League (WL) und David North eine entscheidende Grundlage zur Verteidigung und Weiterentwicklung des Trotzkismus und ist bis heute ein Schlüsseldokument unserer Bewegung.“

Chris Marsden, der Vorsitzende der britischen Socialist Equality Party, ging in seinem Vortrag auf den dreißigjährigen „Bürgerkrieg“ ein, der sich in der Vierten Internationale zwischen dem orthodoxen Trotzkismus und verschiedenen Formen des kleinbürgerlichen Anti-Marxismus entwickelte, bis die orthdoxen Trotzisten im Internationalen Komitee 1985/86 schließlich die Oberhand gewannen.

Er begann seinen Vortrag damit, dass die SLL eine Zeit lang die wichtigste politische Tendenz der Welt war, weil sie den Kampf für die Kontinuität des Trotzkismus und die politische Unabhängigkeit der Arbeiterklasse verkörperte. Deswegen sei sie unter den Revisionisten so verhasst gewesen. „Sie war nicht bereit, die Perspektive der sozialistischen Revolution aufzugeben und den unaufhaltsamen Marsch nach rechts mitzugehen, den die kleinbürgerlichen Linken auf der ganzen Welt einschlugen.“

Healy und die SLL hätten die Behauptung der SWP und der Pablisten zurückgewiesen, dass kleinbürgerliche Guerillakämpfer unter dem Kommando Fidel Castros und Che Guevaras in Kuba als „unbewusste Marxisten“ eine proletarische Revolution durchführen könnten, sagte Mardsen. „Die SLL widersetzte sich der prinzipienlosen Wiedervereinigung mit den Pablisten und begann eine Offensive für den orthodoxen Trotzkismus.“

Das wichtigste Ergebnis dieses Kampfes sei die Gründung neuer Sektionen des Internationalen Komitees in mehreren Ländern gewesen. 1966 wurde die Workers League in den USA gegründet, 1968 die Revolutionary Communist League in Sri Lanka, 1971 der Bund Sozialistischer Arbeiter in Deutschland und 1972 die Socialist Labor League in Australien.

Marsden ging dann auf die widersprüchliche Entwicklung der SLL ein, die sich ab 1973 Workers Revolutionary Party nannte und selbst zunehmend pablistische Standpunkte einnahm. „Healy maß der organisatorischen Entwicklung der britischen Sektion nach und nach größere Bedeutung zu, als dem theoretischen und politischen Kampf gegen den Pablismus und dem Aufbau neuer Sektionen des IKVI“, erklärte Marsden.

Dieser Entwicklung, so Marsden, lag unter anderem ein falsches Verständnis der russischen Revolution zugrunde. „Healy war der Ansicht, dass ein Wachsen der britischen Sektion, einen ähnlichen Einfluss auf die Vierte Internationale haben würde, wie die Oktoberrevolution auf die Entwicklung der Dritten. Aber die russische Revolution war vor allem ein Ergebnis des langen theoretischen Kampfs, den Lenin gegen den Opportunismus der Zweiten Internationale führte, und der Entwicklung einer internationalen revolutionären Strategie auf der Grundlage von Trotzkis Theorie der Permanenten Revolution.“

Marsden ging dann auf den entscheidenden Kampf ein, den die orthodoxen Trotzkisten innerhalb des IKVI unter Führung von David North und der Workers League gegen das opportunistische Abdriften der WRP führten.

Bereits 1982 hatte North in einer ausführlichen Kritik aufgezeigt, dass die theoretischen Konzeptionen der WRP eine „Vulgarisierung des Marxismus“ bedeuteten, die „von einer unmissverständlichen Abweichung zum Opportunismus innerhalb des Internationalen Komitees, besonders innerhalb der WRP begleitet“ wurde. In internen Dokumenten und Briefen äußerten North und die Workers League ihre Besorgnis darüber, dass die WRP zunehmend pablistische Standpunkte übernahm und sich unkritisch auf nationale Bewegungen im Nahen und Mittleren Osten orientierte.

Mit der Spaltung von der WRP im Januar 1986 gewannen die Trotzkisten innerhalb des Internationalen Komitees die Oberhand. Die entscheidende Bedeutung der Spaltung sollte schon bald sichtbar werden. Beim Kampf gegen die WRP war es um nichts weniger als die Verteidigung der Kontinuität des Trotzkismus und die Frage von Revolution und Konterrevolution gegangen, wie Marsden erklärte.

Während die Führer der WRP, Gerry Healy, Cliff Slaughter und Mike Banda, offen ins Lager des Stalinismus und des Imperialismus überliefen, war die trotzkistische Mehrheit des Internationalen Komitees in der Lage, den Marxismus in Zeiten des kapitalistischen Triumphgeschreis über das Ende der Sowjetunion zu verteidigen und weiterzuentwickeln.

Das Internationale Komitee analysierte den Prozess der Globalisierung, den Zusammenbruch der Sowjetunion sowie die Verwandlung der Gewerkschaften und sozialdemokratischen und stalinistischen Apparate in direkte Instrumente der Konterrevolution und zog daraus weit reichende politische Schlussfolgerungen. Entscheidende Schritte in der Entwicklung der trotzkistischen Weltbewegung war die Gründung von Parteien für Soziale Gleichheit (Socialist Equality Parties) in mehreren Ländern Mitte der 1990er Jahre und der World Socialist Web Site 1998.

„Die WSWS ist heute als Stimme des revolutionären Sozialismus anerkannt. Ihre monatliche Leserschaft ist mit zwei Millionen größer als die der Publikationen der europäischen Pseudolinken – der Linkspartei in Deutschland, von Syriza in Griechenland, der französischen NPA, des pablistischen International Viewpoint, und der Socialist Workers Party und der Socialist Party in Großbritannien – zusammengenommen“, betonte Marsden.

Peter Schwarz, der Sekretär der Vierten Internationale und Leiter der deutschen Redaktion der World Socialist Web Site knüpfte daran an und sprach zur aktuellen Bedeutung des historischen Erbes der Vierten Internationale.

Schwarz ging zu Beginn seines Berichts ausführlich auf die politische Situation in Europa und international ein, die von wachsender sozialer Ungleichheit, Militarismus und dem Abbau demokratischer Rechte geprägt sei. „75 Jahre nach der Gründung der Vierten Internationale ist offensichtlich, dass der Kapitalismus wieder – oder weiterhin – in einer weltweiten Todeskrise steckt. Alle Mechanismen und Puffer, mit denen die herrschende Klasse die Klassengegensätze in der Vergangenheit gedämpft hat, sind zusammengebrochen.“

Er betonte, dass der Aufbau des IKVI als revolutionärer Führung nun die dringendste Aufgabe sei, vor der Arbeiter und Jugendliche weltweit stehen.

Am Beispiel der ägyptischen Revolution erklärte Schwarz, wie entscheidend die Frage der revolutionären Führung ist. „Die objektiven Voraussetzungen für eine sozialistische Revolution haben sich in Ägypten rasch herausgebildet. Doch das Problem ist die Entwicklung einer politischen Führung. Die Massenaufstände in Ägypten haben einzelne Herrscher gestürzt und die politische Elite destabilisiert. Es gelang ihnen jedoch nicht, das Militär zu entmachten, die kapitalistische Ausbeutung und Unterdrückung zu beenden oder den kapitalistischen Staat abzuschaffen.“

Schwarz erklärte, dass der Aufbau des IKVI „nur in einem unversöhnlichen politischen und theoretischen Kampf gegen pseudolinke Organisationen möglich ist, die einer unabhängigen Bewegung der Arbeiterklasse im Wege stehen und wie die Linkspartei, Marx21 und die SAV in Deutschland, die Socialist Workers Party und Left Unity in Großbritannien, die NPA und die Linkspartei in Frankreich, SYRIZA in Griechenland oder die Revolutionären Sozialisten in Ägypten zu direkten Stützen des Kapitalismus und Imperialismus geworden sind“.

Am Ende seines Vortrags betonte Schwarz, dass die Krise der revolutionären Führung der Arbeiterklasse nicht durch die Umgruppierung pseudolinker, kleinbürgerlicher Gruppen erfolge. Solche Manöver seien das größte Hindernis für den Aufbau einer revolutionären Führung. „Der Aufbau einer neuen revolutionären Führung ist nur auf den programmatischen und theoretischen Grundlagen möglich, die die Vierte Internationale und das Internationale Komitee in ihrer 75-jährigen Geschichte verteidigt und entwickelt haben.“

Loading