Perspektive

Europas 9/11

In einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS) hat Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen die „Annexion der Krim durch Russland“ mit „9/11 und dem Krieg gegen den Terrorismus“ verglichen. Dieser Vergleich verrät mehr, als Rasmussen und der FAS Recht sein dürfte.

Die Terroranschläge vom 11. September 2001 dienen der US-Regierung seit über zwölf Jahren als Vorwand für völkerrechtswidrige Kriege und eine massive innere und äußere Aufrüstung. Im Namen des „Kriegs gegen den Terror“ hat sie Afghanistan, Irak und Libyen überfallen, entführt, foltert und ermordet sie Verdächtige, überwacht sie Milliarden Menschen auf der ganzen Welt und baut sie in den USA die Grundlage eines Polizeistaats auf.

Mit der Krise in der Ukraine, die sie selbst provoziert haben, verfolgen die herrschenden Kreise Europas und insbesondere Deutschlands ähnliche Ziele. Es geht ihnen um handfeste wirtschaftliche und geopolitische Interessen – das Zurückdrängen Russlands und die Ausweitung ihres Einflusses auf die Schwarzmeerregion, den Kaukasus, Zentralasien und Russland. Sie nutzen die Krise aber auch, um die tief verwurzelte Opposition gegen den Militarismus in der eigenen Bevölkerung zu durchbrechen und den Staatsapparat in Vorbereitung auf zukünftige Klassenkämpfe aufzurüsten.

Rasmussen fordert in dem FAS-Interview eine massive Aufrüstung der europäischen Nato-Mitglieder. „Fahrt eure Verteidigungsausgaben nicht immer weiter zurück, dreht den Trend um und investiert Schritt für Schritt mehr Geld in die Verteidigung,“ sagt er.

„Was in der Ukraine geschehen ist, muss ein Weckruf für Europa sein“, fährt er fort. Russland habe seine Verteidigungsausgaben um 30 Prozent erhöht, während einige europäische Nato-Mitglieder ihre Ausgaben um 40 Prozent gekürzt hätten.

Der Generalsekretär des größten Militärbündnisses der Welt droht Russland mit „schwerwiegenden Folgen“, sollte es die Ukraine weiter destabilisieren oder ein Nato-Mitglied provozieren. Die Russen könnten „nicht den geringsten Zweifel daran haben, dass wir einen Angriff auf ein Mitglied als Angriff auf uns alle betrachten“, sagt er. Die bereits stattfindende Verlegung von Truppen, Kampfflugzeugen und Marineeinheiten nach Osteuropa diene der „Abschreckung“.

Führende deutsche Verteidigungspolitiker unterstützen Rasmussen. Die Nato-Mitglieder hätten in den letzten Jahren „unkoordiniert und nur von Sparzwängen getrieben ihre militärischen Fähigkeiten abgesenkt“, kritisierte der sicherheitspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Rainer Arnold. Damit müsse Schluss sein. Die Nato müsse „eine wirksame konventionelle Abschreckung sicherstellen“.

Arnold schlug vor, multinationale Verbände aufzustellen und in Osteuropa zu stationieren. Die Bundeswehr könne dabei ihre „teuren Spezialfähigkeiten einbringen“ und sich mit dem Kampfhubschrauber Tiger, dem neuen Schützenpanzer Puma und dem Radpanzer Boxer beteiligen. Der CDU-Außenpolitiker Schockenhoff stimmte zu und ergänzte, es gehe nicht nur um Panzerverbände, sondern auch um die Abwehr von Cyberangriffen und maritime Fähigkeiten.

Die USA und Deutschland haben die Krise in der Ukraine gezielt provoziert und sich dabei auf ultrarechte, faschistische Kräfte gestützt. Beim Putsch, der am 22. Februar die Regierung von Präsident Turtschynow und Premier Jazeniuk an die Macht brachte, führten Washington und Berlin Regie, während die Faschisten des Rechten Sektors und Swobodas die Akteure stellten.

Es war abzusehen – und beabsichtigt –, dass das Putschregime auf massiven Widerstand stoßen und dass Russland reagieren würde. In einem Land, auf dessen Gebiet während der Nazi-Besatzung im Zweiten Weltkrieg sechs Millionen Menschen getötet wurden, darunter 1,5 Millionen Juden, kann eine Regierung, die Nazi-Kollaborateure wie Stepan Bandera verherrlicht, nur heftigen Abscheu hervorrufen.

Dass die Zusammenarbeit mit den Faschisten keine vorübergehende Episode war, zeigt das jüngste Massaker in Odessa. Aktivisten des Rechten Sektors und andere Anhänger des Kiewer Regimes steckten dort am 2. Mai das Gewerkschaftshaus in Brand, in das sich hunderte Regimegegner geflüchtet hatten, jubelten und johlten, als Dutzende elend verbrannten, und griffen schwer Verletzte an, die sich durch einen Sprung durchs Fenster zu retten suchten. Einigen Berichten zufolge, wurden viele Opfer von rechten Milizen ermordet, bevor der faschistische Mob das Gebäude in Brand steckte.

Gleichgeschaltete, ebenso rückgrat- wie gewissenlose Medien haben die Aufgabe übernommen, diese Hintergründe zu vertuschen und den russischen Präsidenten Putin für die Zuspitzung der Krise verantwortlich zu machen.

Je offensichtlicher wird, dass das Putschregime von breiten Teilen der ukrainischen Bevölkerung abgelehnt wird, desto bizarrer werden die Versuche, die Tatsachen auf den Kopf zu stellen. So ermahnte die Frankfurter Allgemeine Zeitung am Montag ihre Leser, „nicht aus den Augen zu verlieren, dass Moskau seinen unerklärten Krieg gegen die Ukraine führt, indem es reale Konflikte in der ukrainischen Gesellschaft über soziale Fragen sowie sprachliche, kulturelle und historische Identitäten schürt und manipuliert.“ Wenn die Konflikte real sind, müssen sie wohl kaum manipuliert werden!

Arbeitern in ganz Europa sollte der Vergleich der Krise in der Ukraine mit 9/11 durch Rasmussen eine Warnung sein. Er zeigt, dass sich das provokative Vorgehen der Westmächte nicht nur gegen die ukrainische Arbeiterklasse und Russland, sondern auch gegen sie selbst richtet. Es soll den Vorwand für eine gigantische militärische Aufrüstung, für Kriege und für den Aufbau eines Polizeistaats liefern.

Rasmussen gilt in dieser Hinsicht als Experte. Der Autor eines Buchs mit dem programmatischen Titel „Vom Sozialstaat zum Minimalstaat“ hat als Ministerpräsident Dänemarks das für seine Toleranz bekannte Land in eine Festung gegen Ausländer verwandelt. Unter seiner Verantwortung hat Dänemark 2003 als eines von wenigen europäischen Ländern Truppen in den Irakkrieg geschickt. 

Wir appellieren an alle, die gegen Krieg und Militarismus kämpfen wollen, den Europawahlkampf der Partei für Soziale Gleichheit in Deutschland und der Socialist Equality Party in Großbritannien zu unterstützen und Sektionen des Internationalen Komitees der Vierten Internationale in ganz Europa aufzubauen. Es ist die einzige politische Tendenz, die konsequent gegen Krieg und Militarismus kämpft.

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