Großbritannien

Umfrage wirft Schlaglicht auf wirtschaftliche Unsicherheit

Eine Umfrage des Guardian und des Institutes ICM warf, wie es die Zeitung bezeichnete, ein "Schlaglicht auf die Angstgefühle einer Nation." Die Umfrage verdeutlicht, die wirtschaftliche Unsicherheit, unter welcher viele britische Arbeiter und Jugendliche leben.

An der Umfrage nahmen 2.014 Erwachsene über 18 Jahre teil. Sie kam zu dem Ergebnis, dass zwar die Mehrheit (56 Prozent) glaubten, dass ein Aufschwung stattfinde, allerdings gaben nur achtzehn Prozent an, dass ihre Familien davon profitierten.

Vor allem aber stimmte nur ein Fünftel aller Befragten der Einschätzung zu, dieser Aufschwung werde der Generation ihrer Kinder" ein besseres Leben als ihnen ermöglichen. Etwa 38 Prozent verneinten dies, der Rest war unentschlossen.

Der Grund dafür ist leicht zu erraten. Anfang des Jahres hat die Koalition aus Konservativen und Liberaldemokraten die aktuellen Zahlen, laut denen die britische Wirtschaft um 0,8 Prozent gewachsen ist, zu der Behauptung zum Anlass genommen, es finde ein Aufschwung statt. Die offiziellen Statistiken bestätigen jedoch, dass von dem "Aufschwung" nur die Superreichen profitieren, während die arbeitende Bevölkerung leer ausgeht.

Der größte Teil des Wirtschaftswachstums entfällt auf den Finanz- und Dienstleistungssektor, vor allem aufgrund der superlockeren Geldpolitik der Regierung, in deren Rahmen Milliarden an Steuergeldern in die Banken gepumpt werden.

Das Bruttoinlandsprodukt Großbritanniens liegt weiterhin um 0,6 Prozent niedriger als im Jahr 2008, das Bau- und Produktionsgewerbe ist seither um zwölf Prozent zurückgegangen.

Durch Geldspritzen der Regierung an die Superreichen sind einige von ihnen zu Milliardären geworden. Großbritannien hat mittlerweile den weltweit höchsten Anteil von Milliardären gemessen an der Bevölkerung. Das Vermögen der reichsten 1.000 Personen entspricht einem Drittel der Gesamtwirtschaftsleistung von 519 Milliarden Pfund.

Das oberste Prozent der Briten, das sind 600.000 Menschen, besitzt mehr Reichtum als die ärmsten 55 Prozent der Bevölkerung, das sind 33 Millionen Menschen. Die fünf reichsten Familien in Großbritannien allein sind reicher als die untersten zwanzig Prozent, das sind 12,6 Millionen Menschen.

Während die Regierung die Schulden der Banken und Superreichen "vergesellschaftet" hat, zwingt sie der Mehrheit der Bevölkerung einen strengen Sparkurs auf. Millionen haben – vor allem im öffentlichen Sektor – ihre Arbeitsplätze verloren oder mussten Lohnsenkungen oder Nullrunden hinnehmen. Mehr als eine Million Menschen sind in Nullstunden-Verträgen (eine Art Arbeit auf Abruf) beschäftigt, zusätzlich sind eine Million Jugendliche zwischen 18 und 24 Jahren arbeitslos.

Das führt dazu, dass die Löhne für die Mehrheit der Arbeitenden bis Februar um weniger als die Inflationsrate von 1,4 Prozent gestiegen sind. Paul Gregg, Professor für Wirtschafts- und Sozialpolitik an der Universität Bath, erklärte im Guardian, die Lage sei noch viel schlimmer. Nach seinen Berechnungen ist der Lohn eines durchschnittlichen Arbeiters inflationsbereinigt seit 2008 um acht Prozent gesunken, bei unter 25-jährigen sogar um bis zu 15 Prozent.

Ein schreckliches Ergebnis dieser zunehmenden sozialen Ungleichheit ist die Zunahme von Tafeln und Essensausgaben, die im letzten Jahr von fast einer Million Menschen beansprucht wurden.

In einem anderen Bericht des High Pay Centre hieß es, die ärmsten zwanzig Prozent der britischen Bevölkerung litten unter ähnlicher Armut wie in Osteuropa.

Die Untersuchung, die in der Financial Times veröffentlicht wurde, basiert auf einer Analyse der Daten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD).

Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass das Leben in Großbritannien für das ärmste Fünftel der Bevölkerung schlechter als in jedem anderen nordwesteuropäischen Land sei.

Zwar waren die reichsten zwanzig Prozent der Haushalte die drittreichsten aller EU-Staaten, die die OECD untersucht hat, für die untersten zwanzig Prozent sah die Lage jedoch völlig anders aus. Nach den Berechnungen dieser Denkfabrik lag ihr Durchschnittseinkommen bei nur umgerechnet 6.878 Euro, in Frankreich liegt es bei 9,308 Euro, in Deutschland bei 9.844. Das bedeutet, der Lebensstandard der "armen Briten" liegt "näher an denen in den ärmsten Ländern wie Slowenien und der Tschechischen Republik."

Die Umfragen und Berichte sind ein vernichtendes Urteil für den Kapitalismus und seine politischen Vertreter in der Konservativen Partei, bei den Liberaldemokraten und der Labour Party. Die bürgerlichen Parteien und vor allem Labour sind für das Ergebnis der Umfrage des Guardian und seines Berichts verantwortlich. Die Zeitung beklagte, dass Labour und die Konservativen bei der Europawahl im Mai zusammen weniger als die Hälfte der Wähler für sich gewinnen konnten. Dass nur 33 Prozent der Wahlberechtigten für sie stimmten, bedeutet, dass die beiden größten Parteien des Großkapitals nur von einer Minderheit unterstützt werden.

Genauso beunruhigend für die herrschende Elite ist eine weitere Guardian/ICM-Umfrage, die zeigte, dass die persönliche Popularität von Labour-Chef Ed Miliband von Mai auf Juni auf den bisher niedrigsten Stand fiel – von Minus 25 auf Minus 39.

Der Wert des stellvertretenden Premierministers und Liberaldemokrat Nick Clegg ist im gleichen Zeitraum um sechzehn Prozent auf Minus 37 gesunken. Auch der Zustimmungswert von Premierminister David Cameron selbst ist gesunken, jedoch nicht ganz so stark – von Plus 2 auf Minus 5 Prozent.

Dennoch, merkt der Guardian an, liege der Gesamtanteil der Umfragewerte für Konservative und Labour bei nur 63 Prozent – "der niedrigste Wert, den ICM je gemessen hat."

Der Zeitung geht es vor allem darum, gegen die United Kingdom Independence Party (UKIP) Unterstützung für Labour zu mobilisieren. Die rechte, immigrantenfeindliche Partei gewann bei der Europawahl 27,5 Prozent der Stimmen.

Der Guardian schrieb in einem Leitartikel: "Das ist ein gefährlicher Moment für die Politik. Wenn die Wähler spüren, dass die Politiker ihre Sorge um ihre Arbeitsplätze, ihre finanzielle Sicherheit oder die Zukunft ihrer Kinder nicht teilen, wird die Politik der Demokratie selbst unsicher."

Deshalb entschloss er sich, mit seiner Umfrage auch die Ängste wegen der Einwanderung hervorzuheben. Der Guardian schrieb, dass 46 Prozent der Befragten als größte wirtschaftliche Befürchtung nannten, dass "Einwanderer die britischen Arbeiter unterbieten".

Weiter hieß es in dem Leitartikel: "Es muss Priorität haben, glaubwürdig über Einwanderung zu reden." Labour wurde aufgefordert, eine "progressive Agenda" zu entwickeln. Am gleichen Tag kündigte Labour-Chef Ed Miliband Pläne an, 18- bis 21-jährigen die Sozialleistungen zu streichen, wenn seine Partei die Wahl 2015 gewinnt.

Alle großen Parteien haben die einwandererfeindliche Rhetorik der UKIP übernommen. Sie haben zusammen mit den Medien die Hauptrolle darin gespielt, die fadenscheinige Behauptung zu propagieren, die Einwanderer seien für die soziale Krise verantwortlich. Als die Teilnehmer jedoch nach ihren eigenen persönlichen Erfahrungen befragt wurden, rangierte die Einwandererfrage am untersten Ende der Skala. Etwa 57 Prozent erklärten, sie machten sich am meisten Sorgen darüber, dass "ihre Löhne langsamer steigen als die Lebenshaltungskosten," gefolgt von "rücksichtslosen Unternehmen, die ihr Personal ausbeuten" und Banken, die "ihre Kunden betrügen und sich weigern, Unternehmen ordentlich zu finanzieren".

Abgesehen davon, dass sie von den Medien vorsätzlich gefördert wurde, konnte die UKIP, genau wie der französische Front National, auch deshalb politische Resonanz finden, weil sie solche sozialen Sorgen für rechte Ziele ausbeutet.

Die großen bürgerlichen Parteien, allen voran die Labour Party, haben über die wirtschaftliche Unsicherheit, in der sich Millionen befinden, nichts zu sagen, da sie die Finanzoligarchie vertreten und ihre Politik sich an deren Interessen orientiert.

Es ist in ihrem Interesse, jede Diskussion über soziale Ungleichheit zu verhindern. Deshalb griff die Financial Times, die führende Wirtschaftszeitung Großbritanniens, Thomas Piketty und sein Buch Kapital im einundzwanzigsten Jahrhundert an, das das Anwachsen der sozialen Ungleichheit in den letzten Jahrzehnten dokumentiert.

Das Ziel der Kritik an angeblichen Ungenauigkeiten in Pikettys Daten ist, wie die Zeitung selbst zugab, "seine These zu unterhöhlen, der Kapitalismus habe eine natürliche Neigung, den Reichtum immer mehr in den Händen der Reichen zu konzentrieren."

Dazu passend wurde letzte Woche gemeldet, dass ein Parlamentsabgeordneter forderte, Oxfam von der Charity Commission untersuchen zu lassen. Grund dafür war deren Werbung "The Perfect Storm". Darin wurden in dieser Reihenfolge Nullstundenverträge, hohe Preise, Sozialabbau, Arbeitslosigkeit und Kosten für Kinderbetreuung für die steigende Armut verantwortlich gemacht. Die Charity Commission untersucht zurzeit, ob diese Werbung durch die Kritik am Sparprogramm der Regierung Regeln verletzt hat.

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