Perspektive

Das Nein zu Schottlands Unabhängigkeit und die Krise des britischen Nationalstaats

Erklärung der Socialist Equality Party (GB)

Bei dem Schottland-Referendum am letzten Donnerstag, dem 18. September, stimmten 55,3 Prozent gegen die Unabhängigkeit und 44,7 Prozent dafür. Die Wahlbeteiligung betrug 84,6 Prozent.

Die herrschenden Kreise reagierten zunächst mit Erleichterung, denn mehrere Meinungsumfragen hatten auf eine sichere Mehrheit für die Ja-Kampagne hingedeutet, was die Auflösung der seit 307 Jahren bestehenden Union Schottlands mit England und Wales bedeutet hätte. In der Tat hatte man schon mit einem neuen so genannten "Lehman-Effekt" gerechnet (unter Anspielung auf die Lehman-Bank, deren Insolvenz 2008 die Finanzkrise ausgelöst hatte). Politiker, Ökonomen, Wirtschaftsvorstände und Militärs hatten vor einem Sieg der Unabhängigkeitsbefürworter gewarnt, welcher die britische herrschende Elite an allen Fronten geschwächt hätte.

Am Freitagmorgen stiegen das britische Pfund und die britischen Aktien wieder, die in den Tagen vor der Abstimmung stark an Wert verloren hatten. Als das Scheitern der Ja-Kampagne feststand, erklärte der Vorsitzende der Scottish National Party (SNP), Alex Salmond, seinen Rücktritt.

Schon zum Freitagabend jedoch begannen die Aktien und das Pfund wieder an Wert zu verlieren. Es wurde klar, dass die akute Krise des britischen Nationalstaates noch lange nicht vorbei ist.

Besonders beunruhigend für die Bourgeoisie ist der Umstand, dass die Mehrheit gegen die Abspaltung trotz – und nicht etwa wegen – der Kampagne der großen Parteien zustande kam. Die Konservativen, die Labour Party und die Liberaldemokraten hatten gemeinsam das Rückgrat der "Better Together"-Fraktion gebildet.

Die Kampagne hat gezeigt, wie groß die Unzufriedenheit und Ablehnung gegenüber der gesamten Elite in Westminster ist, die in ihrer Gänze mit illegalen Kolonialkriegen und Austerität in Verbindung gebracht wird.

Die Tatsache, dass eine Mehrheit die Versuche zurückgewiesen hat, die Wut über diesen Zustand zur Schaffung eines neuen Staatengebildes zu nutzen, zeigt, wie stark die gemeinsame Identität unter arbeitenden Menschen ist, und wie tief das berechtigte Misstrauen in die prokapitalistische SNP. Allerdings konnte die Ja-Kampagne erfolgreich die Unzufriedenheit eines Teils der Arbeiter und Jugendlichen ausnutzen und die Unterstützung für die Unabhängigkeit seit 2012 um fünfzehn Prozent steigern. Mehr als zwei Fünftel stimmten für die Abspaltung, und in der größten Stadt Schottlands, Glasgow, stimmte die Mehrheit mit Ja.

Dies alles verdankt die SNP den pseudolinken Kräften: der Scottish Socialist Party (SSP), Tommy Sheridan, der Socialist Workers Party (SWP) und der Radical Independence Campaign. Sie übernahmen die Aufgabe, die reaktionären sozialen und politischen Interessen zu verhüllen, die der schottische Separatismus repräsentiert, und ihn mit pseudosozialistischen Phrasen auszukleiden. Zu diesem Zweck machten sie sich zu Handlangern der Ja-Kampagne und stellten die SNP als Teil einer breiten Bewegung für ein fortschrittlicheres, unabhängiges Schottland dar.

Die pseudolinken Tendenzen behaupten jetzt, dass die Zunahme der Ja-Stimmen bereits ein Beweis dafür sei, dass der schottische Nationalismus Rückhalt in der Arbeiterklasse habe.

Die enorme Entwicklung der globalisierten Produktion und Finanzmärkte hat einer Sektion der regionalen Bourgeoisie die Gelegenheit verschafft, direkte Beziehungen zu den transnationalen Konzernen und Banken, ohne den Umweg über die Zentralregierung, aufzunehmen. Deshalb trat die SNP für eine Senkung der Körperschaftssteuer ein. Um diese bürgerliche Fraktion herum hat sich eine kleinbürgerliche Schicht von Staatsfunktionären, Akademikern und Gewerkschaftsbürokraten gebildet, die die soziale Basis der pseudolinken Gruppen stellt.

SSP-Parteichef Colin Fox fasste deren zukünftigen Kurs mit der Erklärung zusammen, durch das Ergebnis sei die Unabhängigkeit nur aufgeschoben worden. Sie überdenken die Möglichkeit einer neuen "linken" d.h. nationalistischen Partei in Schottland, zu der auch Teile der Labour Party und der SNP gehören könnten.

Das Scheitern des Referendums hat die Gefahren, vor denen die arbeitende Bevölkerung ganz Großbritanniens steht, keineswegs verringert. Die herrschende Klasse ist in fast allen Fragen tief gespalten. Die nächsten Monate werden keineswegs den Beginn einer "Versöhnung" bringen, ganz im Gegenteil: An allen Fronten werden erbitterte Kämpfe aufbrechen.

Die SNP und ihre Verbündeten fordern nach ihrer Niederlage die größtmöglichen Zugeständnisse von Westminster. Sie führen einen erbitterten Kampf um die Kontrolle über wichtige Ressourcen, z.B. den Steuern auf das Nordseeöl, von dem sie sich persönlichen Reichtum erhoffen.

Premierminister David Cameron seinerseits nutzte das Ergebnis, um zu erklären, Schottland habe das Wort gehabt, jetzt aber sei es Zeit, auf die "Millionen Stimmen Englands" zu hören. Zwar garantierte er, das Versprechen der drei Parteien auf mehr Autorität für das schottische Parlament werde „vollkommen erfüllt“. Allerdings kündigte er an, künftig würden "englische Stimmen für englische Gesetze" sprechen, was heißen soll, dass schottische und walisische Abgeordnete für bestimmte Themen, die heute auch im schottischen und walisischen Parlament verhandelt werden, kein Stimmrecht mehr haben sollen.

Als Alternative zur schottischen "Selbstherrschaft" hatte die Labour Party Maßnahmen vorgeschlagen, wie die Befugnisse des schottischen Parlaments ausgeweitet werden könnten. Dazu soll Holyrood zum Beispiel das Recht haben, bestimmte Steuern und einen Teil des Sozialstaats zu kontrollieren. Camerons Worte machen jedoch klar, dass diese Maßnahmen nur dazu dienen, den nationalen und regionalen Wettbewerb in allen Teilen des Landes zu fördern. Wie ein Kommentator sagte, sei das "schlafende Monster des englischen Nationalismus" geweckt worden.

Zudem hofft Cameron, die Labour Party dauerhaft zu schädigen, wenn er schottische und walisische Abgeordnete, von denen Labour abhängig ist, von der Abstimmung über englische Angelegenheiten auszuschließt. Labour-Parteichef Ed Miliband wies Camerons Vorschläge daher umgehend zurück.

Wie auch immer der Konflikt in den herrschenden Kreisen ausgeht, die Rechnung wird die Arbeiterklasse zahlen. Sie wird in einen Wettlauf mit den Arbeitern anderer Länder um die schlechtesten Arbeitsplätze, Löhne und sozialen Bedingungen gezwungen.

Die Kampagne um das Referendum muss eine nachdrückliche Warnung sein. So lange die Arbeiterklasse keine sozialistische Orientierung hat, kann die zunehmende Krise des britischen und des Weltkapitalismus nur reaktionäre Formen annehmen, wie die bewusst herbeigeführten nationalen Spaltungen zeigen.

Die Socialist Equality Party ist die einzige Tendenz, die in dem Referendum eine politische Alternative vertreten hat. Wir riefen dazu auf, mit Nein zu stimmen und die arbeitende Bevölkerung im Kampf für ein sozialistisches Großbritannien gegen alle Teile der Bourgeoisie zusammen zu schließen.

Wir warnten vor der Gefahr, dass der Nationalismus der SNP und aller Pseudolinken ähnliche rechte Tendenzen in Europa und der ganzen Welt stärken würde. Der Balkanisierung Europas in einen Flickenteppich von Kleinstaaten und ethnischen Kantonen stellte die SEP den Kampf für die Vereinigten Sozialistische Staaten von Europa gegenüber.

Im Lauf unserer Kampagne verkauften wir über 10.000 Kopien unserer Stellungnahme "Stimmt mit ‚Nein‘ – Kämpft für ein sozialistisches Großbritannien!" und diskutierten mit zehntausenden Arbeitern und Jugendlichen. Viele äußerten Erleichterung, dass sie auf Sozialisten trafen, die den Nationalismus zurückwiesen und die Einheit der Arbeiterklasse verteidigten.

Im Zentrum unserer Intervention stand der Kampf gegen die Lügen und Verzerrungen der pseudolinken Gruppen. Wie wir erklärten, hat der potenzielle Zerfall Großbritanniens seine Wurzeln in der zunehmenden Krise des Weltkapitalismus und der überholten Aufteilung der Welt in rivalisierende Nationalstaaten. Wir riefen die Arbeiterklasse dazu auf, ein neues sozialistisches und internationalistisches Programm anzunehmen.

Diese politische Offensive muss und wird in der kommenden Periode verstärkt werden, nicht nur in Großbritannien, sondern in einer gemeinsamen Offensive mit unseren Genossen in Europa und der ganzen Welt.

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